Der Schaferhund bellte. Ahasver hielt ihn fest. »In Holland erschossen sie nach einem Luftangriff gewohnlich zehn, zwanzig politische Gefangene. Damit sie keine falschen Ideen bekamen, sagten sie.«

»Wir sind hier nicht in Holland.«

»Das wei? ich. Ich habe auch nur gesagt, da? in Holland erschossen wurde.«

»Erschie?en!« Westhof schnaubte verachtlich. »Bist du ein Soldat, da? du solche Anspruche stellst? Hier wird erhangt und erschlagen.«

»Sie konnten es zur Abwechslung tun.«

»Haltet eure verdammten Schnauzen«, rief der Mann von vorher aus dem Dunkel. 509 hockte sich neben Bucher und schlo? die Augen. Er sah noch immer den Rauch uber der brennenden Stadt und spurte den dumpfen Donner der Explosionen.

»Glaubt ihr, da? wir heute abend Essen kriegen?« fragte Ahasver.

»Verdammt!« antwortete die Stimme aus dem Dunkel. »Was willst du noch? Erst willst du erschossen werden und dann fragst du nach Essen?«

»Ein Jude mu? Hoffnung haben.«

»Hoffnung!« Westhof kicherte wieder.

»Was sonst?« fragte Ahasver ruhig.

Westhof verschluckte sich und begann plotzlich zu schluchzen. Er hatte seit Tagen Barackenkoller.

509 offnete die Augen. »Vielleicht geben sie uns heute nichts zu essen«, sagte er. »Als Strafe fur das Bombardement.«

»Du mit deinem verfluchten Bombardement«, schrie der Mann im Dunkeln. »Halt doch endlich deine Schnauze!«

»Hat einer hier noch irgendwas zu essen?« fragte Ahasver.

»O Gott!« Der Rufer im Dunkeln erstickte fast uber diese neue Idiotie.

Ahasver achtete nicht darauf. »Im Lager von Theresienstadt hatte jemand einmal ein Stuck Schokolade und wu?te es nicht. Er hatte es versteckt, als er eingeliefert wurde, und hatte es vergessen. Milchschokolade aus einem Automaten. Ein Bild von Hindenburg war auch in dem Karton.«

»Was noch?« krachzte die Stimme aus dem Hintergrund. »Ein Pa??«

»Nein. Aber wir haben von der Schokolade zwei Tage gelebt.«

»Wer schreit da so?« fragte 509 Bucher.

»Einer von denen, die gestern angekommen sind. Ein Neuer. Wird schon ruhig werden.«

Ahasver horchte plotzlich. »Es ist vorbei -«

»Was?«

»Drau?en. Das war die Entwarnung. Das letzte Signal.«

Es wurde plotzlich sehr still. Dann horte man Schritte. »Weg mit dem Schaferhund«, flusterte Bucher.

Ahasver schob den Verruckten zwischen die Betten. »Kusch! Still!« Er hatte ihn so erzogen, da? er auf Kommandos horte. Hatte die SS ihn gefunden, so ware er als Verruckter sofort abgespritzt worden.

Bucher kam von der Tur zuruck. »Es ist Berger.«

Doktor Ephraim Berger war ein kleiner Mann mit abfallenden Schultern und einem eiformigen Kopf, der vollig kahl war. Seine Augen waren entzundet und tranten..

»Die Stadt brennt«, sagte er, als er hereinkam.

509 richtete sich auf. »Was sagen sie druben dazu?«

»Ich wei? es nicht.«

»Wieso? Du mu?t doch etwas gehort haben.«

»Nein«, erwiderte Berger mude. »Sie haben aufgehort zu verbrennen, als der Alarm kam.«

»Warum?«

»Wie soll ich das wissen? Es wird befohlen, fertig.«

»Und die SS? Hast du von der etwas gesehen?«

»Nein.«

Berger ging durch die Bretterreihen nach hinten. 509 sah ihm nach. Er hatte auf Berger gewartet, um mit ihm zu sprechen, und nun schien er ebenso teilnahmslos wie alle anderen. Er verstand es nicht. »Willst du nicht 'raus?« fragte er Bucher.

»Nein.«

Bucher war funfundzwanzig Jahre alt und seit sieben Jahren im Lager. Sein Vater war Redakteur einer sozialdemokratischen Zeitung gewesen; das hatte genugt, den Sohn einzusperren. Wenn er hier wieder herauskommt, kann er noch vierzig Jahre leben, dachte 509. Vierzig oder funfzig. Ich dagegen bin funfzig. Ich habe vielleicht noch zehn, hochstens zwanzig Jahre. Er zog ein Stuck Holz aus der Tasche und begann daran zu kauen. Wozu denke ich plotzlich an so was? dachte er.

Berger kam zuruck. »Lohmann will mit dir sprechen, 509.«

Lohmann lag im hinteren Teil der Baracke auf einem unteren Bett ohne Stroh. Er hatte das so gewollt. Er litt an schwerer Dysenterie und konnte nicht mehr aufstehen.

Er glaubte, es sei so reinlicher. Es war nicht reinlicher. Aber alle waren es gewohnt.

Fast jeder hatte mehr oder minder Durchfall. Fur Lohmann war es eine Tortur. Er lag im Sterben und entschuldigte sich bei jedem Krampf seiner Eingeweide. Sein Gesicht war so grau, da? er ein blutloser Neger hatte sein konnen. Er bewegte eine Hand, und 509 beugte sich uber ihn. Die Augenballe Lohmanns glanzten gelblich.

»Siehst du das?« flusterte er und offnete seinen Mund weit.

»Was?« 509 sah auf den blauen Gaumen.

»Hinten rechts – da ist eine Goldkrone.«

Lohmann drehte den Kopf in die Richtung des schmalen Fensters. Die Sonne stand dahinter, und die Baracke hatte an dieser Seite jetzt ein schwaches, rosiges Licht.

»Ja«, sagte 509. »Ich sehe sie.« Er sah sie nicht.

»Nehmt sie 'raus.«

»Was?«

»Nehmt sie 'raus!« flusterte Lohmann ungeduldig.

509 sah zu Berger hinuber. Berger schuttelte den Kopf.

»Sie sitzt doch fest«, sagte 509.

»Dann zieht den Zahn 'raus. Er sitzt nicht sehr fest. Berger kann es. Er macht es im Krematorium doch auch. Zu zweit konnt ihr es leicht.«

»Warum willst du sie 'raus haben?«

Lohmanns Augenlider hoben und senkten sich langsam. Sie waren wie die einer Schildkrote. Sie hatten keine Wimpern mehr. »Das wi?t ihr doch selbst. Gold. Ihr sollt Essen dafur kaufen.

Lebenthal kann sie eintauschen.« 509 antwortete nicht. Eine Goldkrone zu tauschen war eine gefahrliche Sache.

Goldplomben wurden im allgemeinen bei der Einlieferung ins Lager registriert und spater im Krematorium ausgezogen und gesammelt. Stellte die SS fest, da? eine fehlte, die in den Listen verzeichnet war, so wurde die ganze Baracke ver antwortlich gemacht. Sie bekam kein Essen, bis die Plombe zuruckgegeben war. Der Mann, bei dem man sie fand, wurde gehangt.

»Zieht sie 'raus!« keuchte Lohmann. »Es ist leicht! Eine Zange! Oder ein Draht ist schon genug.«

»Wir haben keine Zange.«

»Ein Draht! Biegt einen Draht zurecht.«

»Wir haben auch keinen Draht.«

Lohmanns Augen fielen zu. Er war erschopft. Die Lippen bewegten sich, aber es kamen keine Worte mehr. Der Korper war bewegungslos und sehr flach, und nur das Gekrausel der dunklen, trockenen Lippen war noch da – ein winziger Strudel Leben, in den die Stille schon bleiern flo?.

509 richtete sich auf und blickte Berger an. Lohmann konnte ihre Gesichter nicht sehen; die Bretter der Betten waren dazwischen. »Wie steht es mit ihm?«

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