»Zu spat fur alles.« 509 nickte. Es war schon oft so gewesen, da? er wenig mehr empfand. Die schrage Sonne fiel auf funf Leute, die wie durre Affen im obersten Bett hockten. »Kratzt er bald ab?« fragte einer, der seine Armhohlen rieb und gahnte.

»Warum?«

»Wir kriegen sein Bett. Kaiser und ich.«

»Du wirst es schon kriegen.« 509 schaute einen Augenblick in das schwebende Licht, das gar nicht zu dem stinkenden Raum zu gehoren schien. Die Haut des Mannes, der gefragt hatte, sah darin aus wie die eines Leoparden; sie war ubersat mit schwarzen Flecken. Der Mann begann faules Stroh zu essen. Ein paar Betten weiter zankten sich zwei Leute mit hohen, dunnen Stimmen. Man horte kraftlose Schlage.

509 fuhlte ein leichtes Zerren an seinem Bein; Lohmann zupfte an seiner Hose. Er beugte sich wieder herunter,»'rausziehen!« flusterte Lohmann.

509 setzte sich auf den Bettrand. »Wir konnen nichts dafur tauschen. Es ist zu gefahrlich. Keiner wird es riskieren.«

Lohmanns Mund zitterte. »Sie sollen ihn nicht haben«, stie? er mit Muhe hervor.

»Die nicht! Funfundvierzig Mark habe ich dafur bezahlt. 1929. Die nicht! Zieht ihn 'raus!«

Er krummte sich plotzlich und stohnte. Die Haut seines Gesichts verzog sich nur an den Augen und an den Lippen – sonst waren keine Muskeln mehr da, um Schmerz anzuzeigen.

Nach einer Weile streckte er sich aus. Ein klaglicher Laut kam mit der ausgepre?ten Luft aus seiner Brust. »Kummere dich nicht darum«, sagte Berger zu ihm. »Wir haben noch etwas Wasser. Es tut nichts. Wir machen es weg.«

Lohmann lag einige Zeit still. »Versprecht mir, da? ihr ihn 'rausnehmt – bevor sie mich abholen«, flusterte er dann. »Dann konnt ihr es doch.«

»Gut«, sagte 509. »Ist er nicht eingetragen worden, als du ankamst?«

»Nein. Versprecht es! Bestimmt!«

»Bestimmt.«

Lohmanns Augen verschleierten sich und wurden ruhig. »Was war das – vorhin – drau?en?«

»Bomben«, sagte Berger. »Man hat die Stadt bombardiert. Zum ersten Male.

Amerikanische Flieger.«

»Oh -«

»Ja«, sagte Berger leise und hart. »Es kommt naher! Du wirst geracht werden, Lohmann.« 509 blickte rasch auf. Berger stand noch, und er konnte sein Gesicht nicht sehen. Er sah nur seine Hande. Sie offneten und schlossen sich, als wurgten sie eine unsichtbare Kehle und lie?en sie los und wurgten sie wieder.

Lohmann lag still. Er hatte die Augen wieder geschlossen und atmete kaum. 509 wu?te nicht, ob er noch verstanden hatte, was Berger gesagt hatte.

Er stand auf. »Ist er tot?« fragte der Mann auf dem oberen Bett. Er kratzte sich noch immer. Die anderen vier hockten neben ihm wie Automaten. Ihre Augen waren leer.

»Nein.« 509 wandte sich zu Berger. »Weshalb hast du es ihm gesagt?«

»Weshalb?« Bergers Gesicht zuckte. »Deshalb! Verstehst du das nicht?«

Das Licht hullte seinen eiformigen Kopf in eine rosa Wolke. In der verpesteten, dicken Luft sah es aus, als dampfe er. Die Augen glitzerten. Sie waren voll Wasser, doch das waren sie meistens; sie waren chronisch entzundet. 509 konnte sich denken, warum Berger es gesagt hatte. Aber was war es schon fur ein Trost fur einen Sterbenden, das noch zu wissen? Es konnte es ebensogut noch schwerer fur ihn machen. Er sah, wie eine Fliege sich auf das schieferfarbene Auge eines der Automaten setzte. Der Mann blinkte nicht mit den Lidern. Vielleicht war es doch ein Trost, dachte 509. Vielleicht war es sogar der einzige Trost fur einen untergehenden Mann.

Berger drehte sich um und schob sich durch den schmalen Gang zuruck. Er mu?te uber die Leute steigen, die am Boden lagen. Es sah aus, als wate ein Marabu durch einen Sumpf. 509 folgte ihm.

»Berger!« flusterte er, als sie aus dem Gang heraus waren.

Berger blieb stehen. 509 war plotzlich atemlos. »Glaubst du es wirklich?«

»Was?« 509 konnte sich nicht entschlie?en, es zu wiederholen. Ihm war, als floge es dann weg.

»Das, was du zu Lohmann gesagt hast.«

Berger sah ihn an. »Nein«, sagte er.

»Nein?«

»Nein. Ich glaube es nicht.«

»Aber -« 509 lehnte sich gegen das nachste Brettergestell. »Wozu hast du es dann gesagt?«

»Ich habe es fur Lohmann gesagt. Aber ich glaube es nicht. Keiner wird geracht werden, keiner – keiner – keiner -«

»Und die Stadt? Die Stadt brennt doch!«

»Die Stadt brennt. Viele Stadte haben schon gebrannt. Das hei?t nichts, nichts -«

»Doch! Es mu? -«

»Nichts! Nichts!« flusterte Berger heftig, mit einer Verzweiflung wie jemand, der sich eine phantastische Hoffnung gemacht und sie gleich wieder begraben hat. Der bleiche Schadel pendelte, und das Wasser lief aus den roten Augenhohlen. »Eine kleine Stadt brennt. Was hat das mit uns zu tun? Nichts! Nichts wird sich andern. Nichts!«

»Erschie?en werden sie welche«, sagte Ahasver vom Boden her. »Schnauze!« schrie die Stimme von fruher aus dem Dunkel. »Haltet doch endlich einmal eure gottverdammten Schnauzen!« 509 hockte auf seinem Platz an der Wand. Uber seinem Kopf befand sich eines der wenigen Fenster der Baracke. Es war schmal und hoch angebracht und hatte um diese Zeit etwas Sonne. Das Licht kam dann bis zur dritten Reihe der Bettbretter; von dort an lag der Raum in standigem Dunkel.

Die Baracke war erst vor einem Jahr errichtet worden. 509 hatte sie aufstellen helfen; er hatte damals noch zum Arbeitslager gehort. Es war eine alte Holzbaracke aus einem aufgelosten Konzentrationslager in Polen. Vier davon waren eines Tages auseinandergenommen auf dem Bahnhof der Stadt angekommen, auf Lastwagen zum Lager geschafft und dort aufgebaut worden.

Sie hatten nach Wanzen, Angst, Schmutz und Tod gestunken. Aus ihnen war das Kleine Lager entstanden. Der nachste Transport arbeitsunfahiger, sterbender Haftlinge aus dem Osten war hineingepfercht und sich selbst uberlassen worden. Es hatte nur ein paar Tage gedauert, bis er hinausgeschaufelt werden konnte. Man hatte dann weiter Kranke, Zusammengebrochene, Kruppel und Arbeitsunfahige hineingesteckt, und es war zu einer dauernden Einrichtung geworden. Die Sonne warf ein verschobenes Viereck von Licht auf die Wand rechts vom Fenster. Verbla?te Inschriften und Namen wurden darin sichtbar. Es waren Inschriften und Namen von fruheren Insassen der Baracke in Polen und Ostdeutschland. Sie waren mit Bleistift auf das Holz gekritzelt oder mit Drahtstucken und Nageln hineingeritzt worden.

509 kannte eine Anzahl davon. Er wu?te, da? die Spitze des Vierecks jetzt gerade einen Namen aus dem Dunkel hob, der mit tiefen Strichen eingerahmt war – Chaim Wolf, 1941. Chaim Wolf hatte ihn wahrscheinlich hineingeschrieben, als er wu?te, da? er sterben mu?te, und die Striche darum gezogen, damit niemand von seiner Familie hinzukommen sollte. Er hatte es endgultig machen wollen, so da? er allein es war und bleiben wurde. Chaim Wolf, 1941, die Striche eng und hart darum, so da? kein anderer Name mehr hineinzuschreiben war – eine letzte Beschworung des Schicksals, von einem Vater, der hoffte, da? seine Sohne gerettet werden wurden. Aber darunter, unter den Strichen, dicht, als wollten sie sich daran klammern, standen zwei andere Namen: Ruben Wolf und Moische Wolf. Der erste steil, ungelenk, eine Schulerschrift; der zweite schrag und glatt, ergeben und ohne Kraft. Eine andere Hand hatte daneben geschrieben: alle vergast. Schrag darunter, uber einem Astknoten an der Wand war mit einem Nagel eingeritzt: Jos. Meyer und dazu: Lt.d.R. EK 1 u. 2. Es hie?: Joseph Meyer, Leutnant der Reserve, Inhaber des Eisernen Kreuzes erster und zweiter Klasse. Meyer hatte das anscheinend nicht vergessen konnen. Es mu?te noch seine letzten Tage vergiftet haben. Er war im ersten Weltkrieg an der Front gewesen; er war Offizier geworden und hatte die Auszeichnungen bekommen; er hatte, weil er Jude war, dafur doppelt soviel leisten mussen als jeder andere. Dann hatte man ihn spater, ebenfalls weil er Jude war, eingesperrt und wie Ungeziefer vernichtet. Er war zweifellos uberzeugt davon gewesen, da? das Unrecht fur ihn wegen seiner Leistungen im Kriege gro?er gewesen sei als fur andere. Er hatte sich geirrt. Er war nur schwerer gestorben. Das Unrecht lag nicht in den Buchstaben, die er seinem Namen hinzugefugt hatte. Sie waren nur eine schabige Ironie. Das Sonnenviereck glitt langsam weiter. Chaim, Ruben und Moische Wolf, die es nur mit der Spitze gestreift hatte,

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