verschwanden wieder im Dunkel. Dafur ruckten zwei neue Inschriften ins Licht. Die eine bestand nur aus zwei Buch« Staben: F. M. Der, der sie mit dem Nagel eingekratzt hatte, hatte nicht mehr so viel auf sich gegeben wie der Leutnant Meyer. Schon sein Name war ihm fast gleichgultig gewesen; trotzdem hatte er nicht ganz ohne ein Zeichen untergehen wollen. Darunter aber erschien wieder ein voller Name. Mit Bleistift hingeschrieben stand da: Tevje Leibesch und die Seinen. Und daneben, fluchtiger, der Anfang des judischen Kaddischgebetes: Jis gadal – 509 wu?te, da? das Licht in einigen Minuten eine andere verwischte Schrift erreichen wurde:»Schreibt Leah Sand – New York.« Die Stra?e war nicht mehr zu lesen, dann kam:»Vat «und nach einem Stuck verfaulten Holzes:»tot. Sucht Leo.« Leo schien entkommen zu sein; doch die Inschrift war umsonst gemacht worden. Keiner der vielen Insassen der Baracke hatte jemals Leah Sanders in New York benachrichtigen konnen. Niemand war lebend herausgekommen. 509 starrte abwesend auf die Wand. Der Pole Silber hatte sie, als er noch mit blutenden Darmen in der Baracke lag, die Klagemauer genannt. Er hatte auch die meisten Namen auswendig gekannt und im Anfang sogar gewettet, welcher zuerst von dem Sonnenfleck getroffen werden wurde. Silber war bald darauf gestorben; die Namen aber waren weiter an hellen Tagen fur einige Minuten zu einem geisterhaften Leben erwacht und dann wieder im Dunkel versunken. Im Sommer, wenn die Sonne hoher stand, waren andere, die tiefer unten eingekratzt waren, sichtbar geworden, und im Winter ruckte das Viereck hoher hinauf. Doch es gab noch viele mehr, russische, polnische, jiddische, die fur immer unsichtbar blieben, weil das Licht nie bis zu ihnen kam. Die Baracke war so schnell aufgerichtet worden, da? die SS sich nicht darum gekummert hatte, die Wande abhobeln zu lassen. Die Insassen kummerten sich noch weniger darum, besonders nicht um die Inschriften an den dunklen Teilen der Wande. Niemand versuchte auch nur, sie zu entziffern. Wer wollte auch schon so toricht sein, ein kostbares Streichholz zu opfern, um noch mehr zu verzweifeln – 509 wandte sich ab; er wollte das jetzt nicht sehen. Er fuhlte sich plotzlich auf eine sonderbare Weise allein; als waren die anderen ihm durch etwas Unbekanntes entfremdet worden, und sie verstanden sich nicht mehr. Eine Weile zogerte er noch; dann konnte er es nicht mehr aushallen. Er tastete sich zur Tur und kroch wieder hinaus. Er trug jetzt nur seine eigenen Lumpen und fror sofort. Drau?en richtete er sich auf, lehnte sich gegen die Wand der Baracke und blickte auf die Stadt. Er wu?te nicht genau, warum – aber er wollte nicht wieder wie vorher auf allen vieren hocken; er wollte stehen. Die Posten auf den Wachturmen des Kleinen Lagers waren noch nicht zuruck. Die Aufsicht an dieser Seite war nie sehr streng; wer kaum gehen konnte, entfloh nicht mehr. 509 stand an der rechten Ecke der Baracke. Das Lager verlief in einer Kurve, die dem Hohenzuge folgte, und er konnte von hier nicht nur die Stadt, sondern auch die Kasernen der SS-Mannschaften sehen. Sie lagen au?erhalb des Stacheldrahtes hinter einer Reihe von Baumen, die noch kahl waren. Eine Anzahl von SS-Leuten lief vor ihnen hin und her. Andere standen in aufgeregten Gruppen zusammen und blickten zur Stadt hinunter. Ein gro?es, graues Automobil kam rasch den Berg herauf. Es hielt vor der Wohnung des Kommandanten, die ein Stuck abseits von den Kasernen lag. Neubauer stand bereits drau?en; er stieg sofort ein, und der Wagen jagte los. 509 wu?te von seiner Zeit im Arbeitslager, da? der Kommandant ein Haus in der Stadt besa?, in dem seine Familie wohnte. Aufmerksam blickte er dem Wagen nach. Dabei uberhorte er, da? jemand leise den Mittelweg zwischen den Baracken entlang kam. Es war der Blockalteste von Baracke 22, Handke, ein untersetzter Mann, der immer auf Gummisohlen herumschlich. Er trug den grunen Winkel der Kriminellen. Meistens war er harmlos, aber wenn er seinen Koller kriegte, hatte er schon ofter Leute zu Kruppeln geschlagen. Er schlenderte heran. 509 hatte noch versuchen konnen, sich wegzudrucken, als er ihn sah -Zeichen von Angst befriedigten gewohnlich Handkes einfache Uberlegenheitsgeluste -, aber er tat es nicht. Er blieb stehen. »Was machst du hier?« »Nichts.« »So, nichts.« Handke spuckte 509 vor die Fu?e. »Du Mistkafer! Traumst dir wohl was, wie?« Seine flachsernen Brauen hoben sich. »Bilde dir blo? nichts ein! Ihr kommt hier nicht heraus! Euch politische Hunde jagen sie vorher alle erst noch durch den Schornstein.« Er spuckte wieder aus und ging zuruck. 509 hatte den Atem angehalten. Ein dunkler Vorhang wehte eine Sekunde hinter seiner Stirn. Handke konnte ihn nicht leiden, und 509 ging ihm gewohnlich aus dem Wege. Diesmal war er stehengeblieben. Er beobachtete ihn, bis er hinter der Latrine verschwunden war. Die Drohung schreckte ihn nicht; Drohungen waren alltaglich im Lager. Er dachte nur an das, was dahinter steckte. Handke hatte also auch etwas gespurt. Er hatte es sonst nicht gesagt. Vielleicht hatte er es sogar druben bei der SS gehort. 509 atmete tief. Er war also doch kein Narr. Er blickte wieder auf die Stadt. Der Rauch lag jetzt dicht uber den Dachern. Das Lauten der Feuerwehr klang dunn herauf. Aus der Richtung des Bahnhofs kam unregelma?iges Knattern, als explodiere dort Munition. Der Wagen des Lagerkommandanten nahm unten am Berge eine Kurve so schnell, da? er rutschte. 509 sah es, und plotzlich verzog sich sein Gesicht. Es verzerrte sich zu einem Lachen. Er lachte, lachte, lautlos, krampfhaft, er wu?te nicht, wann er zum letzten Male gelacht hatte, er konnte nicht aufhoren, und es war keine Frohlichkeit darin, er lachte und sah sich vorsichtig um und hob eine kraftlose Faust und ballte sie und lachte, bis ein schwerer Husten ihn niederwarf.

III

Der Mercedes scho? ins Tal hinunter. Obersturmbannfuhrer Neubauer sa? neben dem Chauffeur. Er war ein schwerer Mann mit dem schwammigen Gesicht des Biertrinkers. Die wei?en Handschuhe an seinen breiten Handen leuchteten in der Sonne. Er bemerkte es und zog sie aus.

Selma, dachte er, Freya! Das Haus! Niemand hatte am Telefon geantwortet. »Los!« sagte er.

»Los, Alfred! Fahr zu!«

In der Vorstadt spurten sie den Brandgeruch. Er wurde bei?ender und dichter, je weiter sie kamen. Am Neuen Markt sahen sie den ersten Bombenkrater. Die Sparkasse war zusammengesturzt und brannte. Feuerwehr war ausgefahren und versuchte die Nachbarhauser zu retten; aber die Wasserstrahlen schienen viel zu dunn zu sein, um Wirkung haben zu konnen. Der Krater auf dem Platz stank nach Schwefel und Sauren. Neubauers Magen krampfte sich zusammen. »Fahr durch die Hakenstra?e, Alfred«, sagte er. »Hier kommen wir nicht weiter.«

Der Chauffeur wendete. Der Wagen fuhr in weitem Bogen durch die sudliche Stadt.

Hauser mit kleinen Garten lagen hier friedlich in der Sonne. Der Wind stand nordlich, und die Luft war klar. Dann, als sie den Flu? kreuzten, kam der Brandgeruch wieder, bis er in den Stra?en lag wie schwerer Nebel im Herbst.

Neubauer zerrte an seinem Schnurrbart, der kurz gestutzt war wie der des Fuhrers.

Fruher hatte er ihn hochgezwirbelt getragen wie Wilhelm II. Dieser Krampf im Magen! Selma!

Freya! Das schone Haus! Der ganze Bauch, die Brust, alles war Magen.

Sie mu?ten noch zweimal einen Umweg machen. Einmal war ein Mobelgeschaft getroffen worden.

Die Vorderseite des Hauses war weggerissen; ein Teil der Mobel stand noch in den Etagen, der Rest lag uber die Stra?e verstreut auf dem Schutt und brannte. Das zweitemal war es ein Friseurladen, vor dem herausgeschleuderte Wachsbusten zu Fratzen zerschmolzen.

Endlich bog der Wagen in die Liebigstra?e ein. Neubauer lehnte sich hinaus. Da war sein Haus!

Der Vorgarten! Da waren der Terrakottazwerg und der Dachshund aus rotem Porzellan auf dem Rasen. Unbeschadigt! Alle Fenster heil! Der Krampf im Magen loste sich. Er stieg die Stufen empor und offnete die Tur. Gluck gehabt, dachte er. Verdammtes Schwein gehabt! Gehorte sich auch so! Warum sollte gerade ihm was passieren?

Er hangte seine Kappe an den Huthaken aus Hirschgeweihen und ging in das Wohnzimmer.

»Selma! Freya! Wo seid ihr?«

Niemand antwortete. Neubauer stampfte zum Fenster und ri? es auf. Im Garten hinter dem Haus arbeiteten zwei russische Gefangene. Sie sahen kurz auf und gruben eifrig weiter.

»Heda! Bolschewiken!«

Einer der Russen horte auf zu arbeiten. »Wo ist meine Familie?« schrie Neubauer.

Der Mann erwiderte etwas auf russisch.

»La? deine Schweinesprache, Idiot! Du verstehst deutsch! Oder soll ich hinauskommen und es dir beibringen?«

Der Russe starrte ihn an. »Ihre Frau ist im Keller«, sagte jemand hinter Neubauer. Er drehte sich um. Es war das Dienstmadchen. »Im Keller? So, naturlich. Und wo waren Sie?«

»Drau?en, einen Augenblick nur!« Das Madchen stand in der Tur, das Gesicht gerotet, mit glanzenden Augen, als kame es von einer Hochzeit. »Hundert Tote schon, sagen sie«, plapperte es los. »Am Bahnhof, und dann im Kupferwerk, und in der Kirche -«

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