ankampfen, das halbentbundene Kind mit Gewalt herauszuziehen, aber er hatte gesehen, wie es Kindern erging, die so entbunden worden waren. Mrs. Czinski stohnte jetzt, halb wahnsinnig.

»Pressen Sie, Mrs. Czinski. Fester! Los!«

Es hatte keinen Zweck. Dr. Wilson blickte zur Uhr hinauf. Zwei kostbare Minuten waren vergangen, ohne dass Blut durch das Hirn des Kindes zirkulierte. Dr. Wilson stand nun vor einem weiteren Problem: Was sollte er tun, wenn das Kind nach den vier Minuten gerettet wurde? Es leben, das hie?e, dahinvegetieren lassen? Oder ihm einen gnadenvollen, schnellen Tod geben? Er schob den Gedanken beiseite und verstarkte seine Bemuhungen. Er schloss die Augen, konzentrierte sich vollig auf das, was sich in dem Korper der Frau abspielte. Er versuchte die Mauriceau-Smellie-Veit-Methode, eine komplizierte Folge von Bewegungen, dazu bestimmt, den Korper des Kindes zu lockern und zu befreien. Und plotzlich veranderte sich etwas. Er fuhlte eine Bewegung. »Piper-Zange!«

Die Entbindungsschwester reichte ihm schnell die Spezialzange, und Dr. Wilson fuhrte sie ein und legte sie um den Kopf des Kindes. Einen Augenblick spater tauchte der Kopf auf.

Das Kind war entbunden.

Dies war immer der schonste Augenblick: das Wunder eines neu erschaffenen Lebens, das rotgesichtig und schreiend sich uber die Unwurdigkeit beklagte, aus dem ruhigen, dunklen Scho? in das Licht und die Kalte hinausgezwungen zu werden.

Aber nicht bei diesem Kind. Dieses Kind war blauwei? und still. Es war ein Madchen.

Die Uhr. Noch eineinhalb Minuten. Jede Bewegung lief jetzt schnell und automatisch ab, das Ergebnis langjahriger Praxis. Gazeumwickelte Finger sauberten den Rachen des Kindes, so dass Luft in die Kehlkopfoffnung dringen konnte. Dr. Wilson legte das Kind flach auf den Rucken. Die Entbindungsschwester reichte ihm einen kleinen Kehlkopfspiegel, der an eine elektrische Saugpumpe angeschlossen war. Er brachte ihn an und nickte, und die Schwester schaltete das Gerat ein. Ein rhythmisch saugendes Gerausch war zu vernehmen.

Dr. Wilson blickte zur Uhr empor.

Noch zwanzig Sekunden. Herzschlag negativ.

Funfzehn… vierzehn… Herzschlag negativ.

Der Augenblick der Entscheidung war gekommen. Es konnte schon zu spat sein, eine Gehirnschadigung zu verhindern. Aber ganz sicher war man bei diesen Dingen nie. Er hatte Krankenhausstationen voller trauriger Geschopfe mit den Korpern von Erwachsenen und dem Verstand von Kindern gesehen – und Schlimmeres.

Zehn Sekunden. Und kein Puls, nicht einmal ein Hoffnungsschimmer.

Funf Sekunden. Er traf seine Entscheidung jetzt und hoffte, dass Gott verstehen und ihm vergeben wurde. Er wurde den Stopsel herausziehen und sagen, dass das Kind nicht hatte gerettet werden konnen. Niemand wurde Kritik an seiner Handlungsweise uben. Er befuhlte die Haut des Kindes noch einmal. Sie war kalt und feucht.

Drei Sekunden.

Er sah auf das Kind hinunter und hatte fast geweint. Es war ein Jammer. Es war ein so hubsches Kind. Es ware zu einer schonen Frau herangewachsen. Er fragte sich, wie sich ihr Leben wohl gestaltet hatte. Hatte sie geheiratet und Kinder gehabt? Oder ware sie Kunstlerin oder Lehrerin oder Geschaftsfrau geworden? Ware sie reich oder arm gewesen? Glucklich oder unglucklich?

Eine Sekunde. Kein Herzschlag.

Null.

Er griff nach dem Schalter, und in diesem Augenblick begann das Herz des Kindes zu schlagen. Zunachst eine unmotivierte Zuckung, dann wieder eine, und dann festigte sie sich zu einem starken, regelma?igen Schlag. Spontane Hochrufe und Gluckwunsche erklangen im Raum. Dr. Wilson horte nicht hin.

Er starrte zu der Uhr an der Wand empor.

Ihre Mutter nannte sie Josephine, nach ihrer Gro?mutter in Krakau. Ein zweiter Vorname ware fur die Tochter einer polnischen Naherin in Odessa, Texas, anma?end gewesen.

Aus Grunden, die Mrs. Czinski nicht begriff, bestand Dr. Wilson darauf, dass Josephine alle sechs Wochen zur Untersuchung ins Krankenhaus gebracht wurde. Das Ergebnis war jedesmal dasselbe: sie schien normal.

Nur die Zeit wurde es beweisen.

3.

Mit dem Tag der Arbeit, am 1. Montag im September, war die Sommersaison in den Catskills voruber, »der gro?e Merlin« war arbeitslos und mit ihm Toby. Toby konnte gehen, wohin er wollte. Aber wohin sollte er gehen? Er war ohne Heim, ohne Arbeit und ohne einen Cent. Die Entscheidung wurde Toby abgenommen, als eine Besucherin ihm funfundzwanzig Dollar dafur bot, sie und ihre drei kleinen Kinder von den Catskills nach Chicago zu fahren.

Toby ging, ohne sich von dem »gro?en Merlin« oder seinen stinkenden Requisiten zu verabschieden.

Das Chicago des Jahres 1939 war eine bluhende, weltoffene Stadt. Es war eine Stadt, die ihren Preis hatte, und diejenigen, die sich auskannten, konnten alles kaufen, von Frauen uber Narkotika bis zu Politikern. Es gab Hunderte von Nachtklubs, die fur jeden Geschmack etwas boten. Toby klapperte sie alle ab, von dem gro?en frechen Chez Paree bis zu den kleinen Bars in der Rush Street. Die Antwort war stets dieselbe. Niemand wollte einen jungen Anfanger als Komiker anstellen. Tobys Uhr lief ab. Es wurde Zeit fur ihn, den Traum seiner Mutter zu verwirklichen. Er war beinahe neunzehn Jahre alt.

Einer der Klubs, in denen Toby herumlungerte, war der Knee High, wo die Unterhaltung von einer muden Combo, bestehend aus drei Instrumenten, von einem abgetakelten, betrunkenen Komiker und zwei Stripperinnen, Meri und Jen, bestritten wurde, die als die Perry Sisters angekundigt und, so unglaubwurdig es klingt, tatsachlich Schwestern waren. Sie waren in den Zwanzigern und attraktiv auf eine billige, schlampige Art. Jeri trat eines Abends an die Bar heran und setzte sich neben Toby. Er lachelte und sagte hoflich: »Ihre Nummer gefallt mir.« Jeri drehte sich ihm zu, um ihn anzusehen, und erblickte einen naiven jungen Mann mit einem Kindergesicht, zu jung und zu schlecht angezogen, um als Opfer in Frage zu kommen. Sie nickte gleichgultig und wollte sich abwenden, als Toby aufstand. Jeri starrte auf die verraterische Ausbuchtung in seiner Hose, dann sah sie wieder zu dem unschuldigen jungen Gesicht auf. »Ach du lieber Gott«, sagte sie.

»Gehort das alles zu Ihnen?«

Er lachelte: »Es gibt nur eine Moglichkeit, das herauszufinden.« Um drei Uhr an diesem Morgen war Toby mit beiden Perry Sisters im Bett.

Alles war peinlich genau geplant worden. Eine Stunde vor Beginn der Show hatte Jeri den Komiker des Klubs, einen besessenen Spieler, in ein Apartment in der Diversey Avenue gebracht, wo ein Wurfelspiel im Gange war. Der Komiker leckte sich die Lippen und sagte: »Wir konnen nur eine Minute bleiben.«

Drei?ig Minuten spater, als Jeri davonschlich, warf der Komiker die Wurfel und schrie wie ein Verruckter, in einer Phantasiewelt verloren, in der Erfolg und Reichtum an jedem Auge des Wurfels hingen.

Im Knee High sa? Toby an der Bar, schmuck und elegant, und wartete.

Als die Show anfangen sollte und der Komiker noch nicht erschienen war, begann der Inhaber des Klubs zu toben und zu fluchen. »Diesmal ist der Schei?kerl erledigt, habt ihr verstanden? Keinen Fu? darf der mehr in meinen Klub setzen!«

»Kann ich Ihnen nicht verubeln«, sagte Meri. »Aber Sie haben Gluck. Da an der Bar sitzt ein neuer Komiker. Er ist gerade aus New York gekommen.«

»Was? Wo?« Der Inhaber warf einen kurzen Blick auf Toby. »Um Himmels willen, wo hat der seine Kinderfrau gelassen? Er ist ja noch ein Baby!«

»Er ist gro?artig!« sagte Jeri. Und sie wusste, wovon sie sprach.

»Versuchen Sie es mit ihm«, fugte Meri hinzu. »Was konnen Sie schon verlieren?«

»Meine gottverdammten Gaste!« Aber er zuckte die Schultern und ging zu Toby hinuber. »Sie sind also Komiker, was?«

»Nun ja«, sagte Toby beilaufig. »Ich habe gerade eine Tournee durch die Catskills hinter mir.«

Der Inhaber sah ihn einen Augenblick an. »Wie alt sind Sie?«

»Zweiundzwanzig«, log Toby.

»Schei?e. Na gut. Auf die Buhne mit Ihnen. Und wenn Sie Mist bauen, uberleben Sie Ihr zweiundzwanzigstes Jahr nicht.«

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