Nun war es soweit. Toby Temples Traum sollte endlich Wirklichkeit werden. Er stand im Rampenlicht, wahrend die Kapelle einen Tusch fur ihn spielte und das Publikum, sein Publikum, dasa? und

Darauf wartete, ihn zu entdecken, fur ihn zu schwarmen. Er fuhlte eine Welle der Zuneigung, die so stark war, dass er das Gefuhl hatte, ein Klo? stecke in seinem Hals. Es war, als ob er und das Publikum eins waren, miteinander verbunden durch ein wundervolles magisches Band. Einen Augenblick dachte er an seine Mutter und hoffte, dass sie ihn, wo immer sie sein mochte, jetzt sehen konnte. Der Tusch war zu Ende. Toby begann sein Abendprogramm.

»Guten Abend, ihr glucklichen Leute. Ich hei?e Toby Temple. Ich schatze, Sie wissen alle, wie Sie hei?en.«

Schweigen.

Er fuhr fort: »Haben Sie von dem neuen Chef der Mafia in Chicago gehort? Der ist schwul. Von jetzt ab ist im Todesku? Dinner und Tanz inbegriffen.«

Kein Gelachter. Sie starrten ihn an, kalt und feindselig, und Toby spurte, wie scharfe Klauen der Furcht sich in seinen Magen krallten. Sein Korper war plotzlich schwei?nass. Das wundervolle magische Band zum Publikum war gerissen.

Er machte weiter. »Ich hatte kurzlich ein Engagement in Maine oben. Das Theater lag so tief drinnen im Wald, dass der Manager ein Bar war.«

Schweigen. Sie verabscheuten ihn.

»Niemand hat mir gesagt, dass dies hier eine Versammlung von Taubstummen ist. Ich komme mir vor wie auf der Titanic. Es ist, als liefe man die Laufplanke hinauf, und da ist gar kein Schiff.«

Die ersten Buhrufe wurden laut. Zwei Minuten, nachdem Toby angefangen hatte, gab der Klub-Inhaber den Musikern wutend ein Zeichen. Sie begannen laut draufloszuspielen, um Tobys Stimme zu ubertonen. Er stand da, ein breites Grinsen auf dem Gesicht. Aber seine Augen brannten vor Tranen.

Er hatte Lust, sie anzuschreien.

Die Schreie weckten Mrs. Czinski auf. Sie waren hoch und wild, furchterregend in der Stille der Nacht, und erst, als sie sich im Bett aufsetzte, merkte sie, dass das Kind schrie. Sie eilte in den Nebenraum, den sie als Kinderzimmer eingerichtet hatte. Josephine walzte sich von einer Seite auf die andere, ihr Gesicht war blau vor Krumpfen. Im Krankenhaus gab ein Assistenzarzt dem Kind ein intravenoses Beruhigungsmittel, und es schlief friedlich ein. Dr. Wilson, der Josephine entbunden hatte, untersuchte sie eingehend. Er konnte nichts Krankhaftes feststellen. Aber er fuhlte sich unbehaglich. Er konnte die Uhr an der Wand nicht vergessen.

4.

Das Variete in Amerika hatte seine Blutezeit von 1881 bis 1932 und war endgultig tot, als das Palace Theatre in jenem Jahr seine Turen schloss. Das Variete war das Ubungsfeld fur alle aufstrebenden jungen Komiker gewesen, das Schlachtfeld, auf dem sie ihren Witz gegen feindliche, hohnische Zuhorer scharften. Jene Komiker allerdings, die sich durchsetzten, erlangten Ruhm und Vermogen. Eddie Cantor und W. C. Fields, Jolson und Benny, Abbott und Costello, Jessel und Bums, die Marx Brothers und Dutzende mehr. Das Variete war ein Hafen, eine stete Einkommensquelle, aber als das Variete tot war, mussten die Komiker sich anderen Bereichen zuwenden. Die Stars unter ihnen wurden fur Radio-Sendungen und personliche Auftritte engagiert, und sie gastierten auch in den bedeutenden Nachtklubs im ganzen Land. Fur die sich abmuhenden jungen Komiker wie Toby sah die Sache jedoch anders aus. Auch sie traten in Nachtklubs auf, aber das war eine ganz andere Welt. Sie wurde die »Klo-Tour« genannt, und das war noch ein beschonigender Ausdruck. Sie setzte sich aus den dreckigsten Saloons im ganzen Land zusammen, wo der ungewaschene Pobel sich versammelte, um Bier zu saufen, die Stripperinnen anzurulpsen und rein aus Sport die Komiker fertigzumachen. Die Ankleidekabinen glichen Kloaken, die nach abgestandenem Essen, scharfen Getranken, Urin und billigem Parfum stanken, alles uberlagert von dem widerlichen Geruch von Furcht: Pleiteschwei?. Die Klosetts waren so schmutzig, dass die Schauspielerinnen sich uber den Ausguss des Ankleidezimmers hockten, um zu urinieren. Die Bezahlung schwankte zwischen einer unverdaulichen Mahlzeit bis zu funf, zehn oder manchmal funfzehn Dollar pro Abend und hing ganz von der Reaktion des Publikums ab.

Toby Temple trat in allen auf, und hier machte er seine Lehrzeit durch. Die Namen der Stadte wechselten, aber die Lokale waren stets die gleichen, die Geruche waren die gleichen, und das feindlich gesinnte Publikum war das gleiche. Wenn sie einen Darsteller nicht mochten, warfen sie Bierflaschen nach ihm, belastigten ihn durch

Zwischenrufe wahrend seines Auftritts und begleiteten seinen Abgang mit einem Pfeifkonzert. Es war eine harte Schule, aber eine gute, weil sie Toby alle Tricks beibrachte, um zu uberleben. Er lernte, mit betrunkenen Touristen und nuchternen Ganoven umzugehen und die beiden nie zu verwechseln. Er lernte, einen potentiellen Zwischenrufer auszumachen und ihn zu uberleben, indem er ihn um einen Schluck aus seinem Glas oder um eine Serviette bat, um sich die Stirn zu wischen.

Toby schwatzte sich in Lokale mit Namen wie Lake Kiamesha und Shawanga Lodge und The Avon hinein. Er trat in Wildwood, New Jersey, in den Sons of Italy und in Moose Halls auf.

Und er lernte unentwegt.

Tobys Nummer bestand aus der Parodierung beliebter Songs, aus Imitationen von Gable und Grant und Bogart und Cagney und aus Texten, die von den Komikern mit gro?en Namen, die sich teure Autoren leisten konnten, gestohlen waren. Alle aufstrebenden Komiker stahlen ihren Text und prahlten noch damit. »Ich mache Jerry Lester« – das hie?: sie verwendeten seinen Text -, »und ich bin doppelt so gut wie er.« – »Ich mache Milton Berle.« – »Sie sollten mal meinen Red Skelton sehen.«

Weil der Text der Schlussel zu allem war, stahlen sie nur von den Besten.

Toby versuchte alles. Er fixierte das gleichgultige, starre Publikum mit seinen versonnenen blauen Augen und sagte: »Haben Sie je einen Eskimo pinkeln sehen?« Darauf legte er beide Hande vor seinen Hosenschlitz, und heraus tropfelten Eisstuckchen.

Er setzte einen Turban auf und wickelte sich in ein Laken. »Abdul, der Schlangenbeschworer«, kundigte er an. Er spielte auf einer Flote, und aus einem Weidenkorb wand sich eine Kobra hervor, die sich rhythmisch nach der Musik bewegte, da Toby an Drahten zog. Der Korper der Schlange war ein Irrigator, ihr Kopf war das Schlauchende. Es war immer jemand im Publikum, der das komisch fand.

Er brachte die Standard-Witze, die auch der Dummste begriff. Er hatte Dutzende von »Knullern« auf Lager; denn er musste stets bereit sein, von einer Nummer auf die nachste umzuschalten, ehe die Bierflaschen flogen.

Und wo immer er auftrat, wurde seine Darbietung vom Rauschen einer Toilettenspulung begleitet.

Toby reiste im Bus durchs Land. Wenn er in eine neue Stadt kam, pflegte er im billigsten Hotel oder in der einfachsten Pension abzusteigen und sich dann uber die Nachtklubs und Bars und Pferdewett-lokale zu informieren. Er stopfte Pappe in die Sohlen seiner Schuhe und wei?te seine Hemdkragen mit Kreide, um Wascherechnungen zu sparen. Die Stadte waren alle trostlos, und das Essen war immer schlecht; aber es war die Einsamkeit, die ihn zerfra?. Er hatte niemanden. Es gab keinen einzigen Menschen im ganzen Universum, den es interessierte, ob er lebte oder starb. Von Zeit zu Zeit schrieb er an seinen Vater, aber eher aus Pflichtgefuhl als aus Liebe. Toby brauchte verzweifelt jemanden, mit dem er sprechen konnte, jemanden, der ihn verstand, seine Traume mit ihm teilte.

Er beobachtete, wie die erfolgreichen Unterhaltungskunstler, umringt von Bewunderern und in Begleitung schoner Frauen, die gro?en Klubs verlie?en und in blitzenden Limousinen davonfuhren, und Toby beneidete sie. Eines Tages…

Die schlimmsten Augenblicke waren, wenn er durchfiel, wenn er mitten in seiner Nummer ausgebuht und hinausgeworfen wurde, ehe er eine Chance gehabt hatte, uberhaupt anzufangen. Dann hasste Toby das Publikum, wollte es umbringen. Es ging nicht nur darum, dass er versagt hatte – er hatte von Grund auf versagt. Noch tiefer konnte er nicht sinken; er war bereits ganz unten angelangt. Er verkroch sich in seinem Hotelzimmer und weinte und bat Gott, ihn in Ruhe zu lassen, diese Begierde von ihm zu nehmen, die ihn zwang, vor einem Publikum zu stehen und es zu unterhalten. Gott, betete er, lass mich ein Schuhverkaufer oder Fleischer sein wollen. Alles, blo? nicht das. Seine Mutter hatte sich geirrt. Gott hatte ihn nicht erwahlt. Er wurde nie beruhmt werden. Morgen wurde er sich eine andere Arbeit suchen. Er wurde sich nach einem Burojob mit geregelter Arbeitszeit umsehen

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