Er ri? sein Schwert aus der Scheide und bereitete sich darauf vor, den Soldatentod zu sterben, doch im selben Augenblick schwirrte etwas durch die Luft, und einer der Barbaren purzelte, von einem Pfeil durchbohrt, zu Boden. Ein zweiter wurde in den Hals getroffen, und er fiel blutspuckend nach hinten. Da begriffen die anderen, da? sie, mit den brennenden Fackeln in der Hand, in dieser Dunkelheit die einzigen gut sichtbaren Zielscheiben waren, und beeilten sich, diese wegzuwerfen, doch schon bohrte sich ein drittes Gescho? in den Bauch eines weiteren Reiters und entlockte ihm einen Schmerzensschrei. Aus Angst vor diesem unsichtbaren, von Nebel und Sumpf verschluckten Feind nahmen die ubrigen Barbaren Rei?aus.

Aurelius versuchte, auf den Damm zu klettern und sich zu seinem Pferd zu schleppen, aber er rutschte, bereits seiner Krafte beraubt, ab. Der Schmerz wurde unertraglich; es wurde ihm schwarz vor den Augen, und er hatte das Gefuhl, endlos zu fallen und im Nebel zu versinken. In einem kurzen lichten Moment glaubte er zu sehen, da? sich eine Gestalt mit einer Kapuze uber ihn beugte, und dann vermeinte er, Wasser gluckern zu horen, das langsam von einem Ruder geschlagen wurde. Dann nichts mehr.

IV

Ambrosinus erhob sich vom Boden und half dann dem Jungen auf die Beine, der vollig durchna?t, mit algen- und schlammverschmierten Kleidern, die Haare an die Stirn geklebt, vor Kalte zitterte und ganz blaue Lippen hatte. Er nahm seinen Umhang ab, legte ihn dem Kind um die Schultern und sagte: »Komm, wir gehen wieder hinein.« Er schritt, den Knaben stutzend, erhobenen Hauptes mitten durch Wulfilas Wachen hindurch, die sie mit ihren gezuckten Schwertern bedrohten. Wahrend sie die Korridore durchquerten und die Treppen zu dem Raum hinaufgingen, in dem man sie gefangengehalten hatte, flusterte er ihm ein paar ermutigende Worte zu. Romulus sagte nichts. Er bewegte sich mit unsicherem Schritt und verhedderte sich mehrmals in den Fetzen seiner zerrissenen Kleider und in dem Umhang, der fur seine Statur zu lang war. Seine Glieder waren noch ganz steif, und vor seinem geistigen Auge sah er immer wieder das peinigende Bild seiner Mutter, die der Dolch desselben Morders durchbohrt hatte, der auch seinen Vater getotet hatte. Er ha?te diesen Mann zutiefst, der ihn in der Hoffnung, ihn zu befreien, getauscht hatte und statt dessen nur Ursache weiterer, schrecklicherer Unglucke gewesen war und ihn einer noch angstvolleren Zukunft ausgeliefert hatte. Plotzlich hob er mit besturzter Miene den Blick zu seinem Lehrer empor und fragte: »Meine Mutter ... Sie ist tot ... nicht wahr?«

Ambrosinus zogerte mit seiner Antwort.

»Sie ist tot?« wiederholte der Junge.

»Ich ... ich furchte ja«, erwiderte er, legte ihm einen Arm um die Schulter und zog ihn an sich. Aber Romulus entwand sich ihm und rief: »La? mich los! La? mich in Ruhe! Ich will zu meiner Mutter! Ich will sie sehen! Wo habt ihr sie hingebracht? Ich will sie sehen!« Und er sturzte sich auf die barbarischen Krieger und trommelte wie wild gegen ihre Schilde. Diese stie?en ihn hohnisch grinsend von einem zum anderen. Ambrosinus versuchte, ihn festzuhalten und zu beruhigen, aber der Junge schien au?er sich zu sein. In seinem Leben gab es keinen Hoffnungsschimmer mehr, keinen einzigen Ausweg aus all den Schrecken, in die er gesturzt war. Seine Verzweiflung war so gro?, da? zu befurchten stand, er konnte sich etwas antun.

»Zeigt ihm seine Mutter«, flehte Ambrosinus, »vielleicht wird er seinem Herzen Luft machen und danach ruhiger sein. Bitte, wenn ihr wi?t, wo man sie hingebracht hat, erlaubt, da? er sie sieht. Er ist doch nur ein verangstigtes Kind, habt Mitleid.«

Die Barbaren horten auf zu lachen, und Ambrosinus blickte ihnen, einem nach dem anderen, direkt ins Gesicht: Von seinen blauen Augen strahlte eine solche Kraft aus, da? einige den Kopf senkten, als seien sie von einer geheimnisvollen Energie bezwungen worden. Dann erwiderte derjenige, der den Trupp zu befehligen schien: »Jetzt ist das nicht moglich. Ihr mu?t in eure Gemacher zuruckkehren, so lauten die Befehle. Aber ich werde dein Ansuchen meinem Kommandanten vortragen und dir dann Bescheid geben.«

Romulus schien sich, von Erschopfung ubermannt, endlich zu beruhigen, und die beiden wurden wieder in ihr Zimmer gefuhrt. Ambrosinus sagte nichts, weil alles, was er hatte sagen konnen, die Situation nur noch verschlimmert hatte. Romulus hatte sich auf den Fu?boden gesetzt, den Kopf gegen die Wand gelehnt, und starrte vor sich hin. Gelegentlich entfuhr ihm ein langer, schmerzerfullter Seufzer, dann erhob sich sein Erzieher und trat naher an ihn heran, um seinen Gesichtsausdruck zu betrachten und zu begreifen, welcher Teil seines Geistes wachsam war und welcher Teil sich in einem Dammerzustand befand. So verbrachte Ambrosinus den Rest der Nacht in der Mattigkeit eines unruhigen und immer wieder unterbrochenen Schlafes. Als sich durch ein paar Risse im obersten Teil der Mauer ein schwacher milchfarbener Schimmer im Zimmer verbreitete, vernahm er ein Gerausch, und dann offnete sich ein Flugel, und zwei Magde traten herein. Sie brachten einen Eimer mit Wasser, saubere Kleider, ein Gefa? mit Salbe und ein Tablett mit etwas E?barem. Sie gingen auf Romulus zu, stellten alles auf einen Tisch, dann verneigten sie sich tief und ku?ten ihm mit gro?er Ehrerbietung die Hand. Romulus lie? sich waschen und ankleiden, weigerte sich aber trotz Ambrosinus' wiederholter Bitten, etwas zu essen. Eine der Magde, ein Madchen von etwa achtzehn Jahren, das von gro?er Zartheit und Anmut war, go? ihm warme Milch mit Honig in einen Becher und sagte: »Ich bitte dich, mein Herr, trink wenigstens dieses hier, es wird dir ein wenig Kraft geben.«

»Ich bitte dich«, bedrangte ihn auch die andere, ein wenig altere, und der Diensteifer in ihrem Blick war eindringlich und aufrichtig. Da ergriff Romulus den Becher und trank in langen Zugen. Dann stellte er ihn auf das Tablett und sagte: »Ich danke euch.«

Ambrosinus dachte, da? Romulus sich unter normalen Umstanden niemals bei einer Dienerin bedankt hatte. Vielleicht bewirkten der gro?e Schmerz und die Einsamkeit, da? er menschliche Warme schatzte, von wem auch immer sie kam. Als die Madchen sich anschickten, den Raum zu verlassen, begleitete er sie und fragte sie, ob sie nach ihrer beider Ruckkehr im Palast irgendwelche besonderen Bewegungen oder ein verdachtiges Kommen und Gehen bemerkt hatten. Die Madchen gaben durch ein Zeichen zu verstehen, da? das nicht der Fall war.

»Wir brauchen eure Hilfe«, sagte Ambrosinus. »Jedwede Auskunft, die ihr mir geben konnt, kann wertvoll, vielleicht sogar entscheidend sein. Es steht das Leben des Kaisers auf dem Spiel.«

»Wir tun, was wir konnen«, erwiderte das Madchen, »aber wir konnen ihre Sprache nicht und verstehen nicht, was sie sagen.«

»Konntet ihr Botschaften uberbringen?«

»Sie durchsuchen uns«, antwortete das Madchen, leicht errotend, »aber wir konnen Bericht erstatten, wenn ihr das wollt. Vorausgesetzt, sie kommen uns nicht nach. Im Palast herrscht gegenuber jedem, der lateinischer Herkunft ist, gro?er Argwohn und echte Feindseligkeit.«

»Ich verstehe. Was ich wissen mochte ist, ob heute nacht ein romischer Soldat gefa?t wurde, ein Mann um die Funfundvierzig, rustig, dunkle Haare, an den Schlafen etwas graumeliert, pechschwarze Augen. Er ist an der linken Schulter verwundet.«

Die Madchen tauschten fragende Blicke aus und sagten, nein, sie hatten niemanden gesehen, der dieser Beschreibung entspreche.

»Wenn ihr ihn sehen solltet, tot oder lebendig, so sagt es mir, ich bitte euch, so schnell wie moglich. Ein letztes: Wer hat euch geschickt?«

»Der Lehrer des Palastes«, entgegnete das altere Madchen. »Der edle Antemius.«

Ambrosinus nickte. Antemius war ein betagter Beamter und dem Kaiser, unabhangig von der jeweiligen Person, immer treu und bedingungslos ergeben gewesen. Offensichtlich erschien es ihm richtig, auch Romulus zu dienen, solange er keinen Nachfolger hatte.

Die Madchen gingen hinaus, und ihr leichter Schritt wurde bald ubertont von dem schwereren der Wachen, die sie eskortierten. Romulus verkroch sich wieder in eine Ecke des Zimmers, verschlo? sich in ein hartnackiges Schweigen und weigerte sich, auf die wiederholten Aufforderungen seines Lehrers zu einem Gesprach einzugehen. Es gelang ihm nicht, die Kraft zu finden, sich wieder aus dem Abgrund herauszukampfen, in den er gesturzt war. Ja, nach seinem starren und entsetzten Blick zu urteilen, vergrub er sich sogar immer tiefer in diesen Abgrund. Hin und wieder glanzte in seinen regungslosen Augen eine innere Erschutterung auf, und dann kullerten ihm die Tranen uber die Wangen und auf sein Gewand.

So verging die Zeit. Es mu?te schon bald Mittag sein, als die Tur sich erneut offnete und der Mann, an den sich Ambrosinus in der Nacht zuvor gewandt hatte, auf der Schwelle erschien und zu Romulus sagte: »Jetzt kannst du sie sehen, wenn du willst.« Der Junge rappelte sich sofort aus seiner Benommenheit auf und folgte ihm, ohne auf seinen Lehrer zu warten, der sich schweigend der kleinen Prozession anschlo?. Er hatte bis zu diesem Augenblick nichts gesagt, weil er wu?te, da? es keine Worte gab, die in diesen Abgrund der Finsternis einen Lichtstrahl werfen konnten, und weil er uberzeugt war, da? die jungen Menschen letzten Endes von der Natur geschutzt wurden, der einzigen Macht, die imstande war, derart schmerzende Wunden zu heilen.

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