Awbri

Das Land Awbri war ein fremdartiger, wuchernder Regenurwald mit riesigen Baumen, die aus einem dichtbewachsenen Sumpf emporragten und sich Tausende, vielleicht Zehntausende von Metern in die Luft erhoben. Die Luft war schwer und feucht; sie schien standig von kleinen Tropfchen erfullt zu sein, und es gab im Grunde nichts als Wasser, Wasser, Wasser… Wasser von Wasserfallen, die an den Baumen und uber breites Laub in einer Reihe von Kaskaden herabsturzten, hinab, ewig hinab auf den Waldboden tief unten. Und doch gab es ein wenig Sonnenlicht; die gigantischen Baume blockierten es irgendwo da oben, in den allgegenwartigen grauen Wolken selbst, vielleicht sogar uber diesen Wolken. Die Bewohner von Awbri schienen sich, wenn sie es wu?ten, nicht darum zu kummern.

Und unten, tief, tief unten, lag der Boden, der Sockel des Waldes und das Ziel dieser vielstufigen Wasserfalle. Dort unten, so hie? es, befinde sich ein grauenhafter Sumpf, mit Treibsand und Morast und mit Sumpfgeschopfen, Wesen sowohl Tier wie Schmarotzerpflanze — und sogar fleischfressende Pflanze —, die einander in unaufhorlichem Krieg bekampften und alles verschlangen, was in ihre Nahe kam.

Doch keines davon konnte klettern, und selbst die Parasiten schienen aufgehalten zu werden, wahrend sie emporwuchsen, von Absonderungen der Riesenbaume zum Stillstand gebracht. Die Insekten waren zumeist Symbioten, oder, wenn parasitar, dann bei Tieren und nicht bei den Baumen. Von Insekten schien es eine unendliche Vielzahl zu geben. Manche konnten selbst die Korper der Awbrier durchdringen und lebenspendendes Blut heraussaugen, aber auch das war nur gerecht: Zusatzlich zu den Fruchten der Baume und den Pflanzen der Ranken, die sich um gewaltige Aste schlangen, verzehrten die Awbrier ungeheure Mengen von diesen Insekten.

Die Awbrier selbst lebten nur in den Baumen, ab einer Hohe von etwa hundert Metern bis zu einer solchen von ungefahr funfzehnhundert Metern. Sie besa?en komisch aussehende kurze Entenschnabel, die in gewisser Weise biegsam waren, angebracht an dunnen, flachen Kopfen, deren lange Stutzhalse sie mit elastischen, beinahe unendlich wendigen Nagetierkorpern verbanden. Ihre vier Gliedma?en endeten allesamt in gleichgro?en Affenhanden, eine jede davon mit opponierendem Daumen ausgestattet; es gab keinen Unterschied zwischen Hand und Fu?, und sie wurden angesichts des unendlich biegsamen Ruckgrats und ebensolcher Gliedma?en der Awbri jeweils nach Lage der Dinge gebraucht. Abgesehen von den nackten grauen Handflachen und langen, flachen, fast starren, papierdrachenartigen Schwanzen, waren ihre Leiber mit einem dichten Pelz bedeckt, dessen Ole wasserabweisend waren. Alle Gliedma?en waren durch pelzumhullte Membranen miteinander verbunden, und ihre Knochen waren hohl, was ihnen in der Luft betrachtlichen vogelartigen Auftrieb verlieh, etwas, das sie brauchten, damit die Wesen mit ausgestreckten Armen und Beinen, den Schwanz als Ruder benutzend, zwischen den Baumen dahinfliegen und weite Strecken segeln konnten, hurtig um Aste, Laub und andere Hindernisse herumschie?end. Im Gegensatz zu Vogeln waren sie letzten Endes Opfer der Schwerkraft, eher Gleiter als durch Korperkraft angetriebene Flieger. Durch das Erspuren der Luftstromungen, von Geschwindigkeiten und Entfernungen konnten sie aber wie Segelflugzeuge sehr lange in der Luft bleiben.

Solcherart war die au?ere Welt, in der Yua, ehemals Hohepriesterin von Olympus, durch den Schacht der Seelen wiedergeboren worden war. Die kulturelle Welt war fur sie von gro?erer Schockwirkung gewesen.

Wie bei ihrem eigenen Volk wurden hier viel mehr Frauen als Manner geboren, vielleicht zehnmal soviel oder noch mehr. Aber hier herrschten allein die Manner, wahrend sie in ihrer eigenen Welt lediglich als verzartelte Kurtisanen eine Funktion gehabt hatten. Sie hatte die Fuhrung des Landes hier gesucht, als sie erwacht war, und war schlie?lich an den ortlichen Rat verwiesen worden, der seinen Sitz in einem gigantischen Baum ein wenig abseits von den anderen hatte. Bis jetzt war sie unhoflich, ja ausgesprochen grob behandelt worden, und empfand wenig Zuneigung zu ihrem neuen Volk, ein Gefuhl, das noch unheilschwangerer wurde, als sie dahinterkam, da? sie einer Familie von niedrigem Rang zugeteilt werden sollte. Sie war eine praktisch denkende Person und nahm die Herrschaft der anderen zunachst hin, weil sie nichts anderes tun konnte und weil die Alternative darin bestand, mit Drogen oder einem Eingriff ins Gehirn zu Zustimmung und Unterwerfung gezwungen zu werden.

Awbri besa? keine Zentralregierung. Das Hex bestand aus Klans, von denen jeder eine ausgedehnte Familie war, in der alle zusammenlebten und arbeiteten. Jeder Baum konnte zwischen zwolf und zwanzig Awbrier versorgen; Klans breiteten sich auf benachbarten Baumen aus, und ihre jeweilige Macht und ihre soziale Stellung beruhten auf der Anzahl der Mitglieder des Klans und dadurch auf der Zahl der Baume, die er bewohnte und beherrschte. Innerhalb der Klans, die von so wenig Mitgliedern wie hundert bis zu uber funftausend umfa?ten, war der mannliche Rang eine Kombination von Alter, Geburt und Proben von Kraft und Ausdauer. Der weibliche Rang hing mehr vom Alter und der Beziehung zum obersten mannlichen Mitglied des Klans als von irgendwelchen anderen Dingen ab, allerdings stand die Frau mit dem hochsten Rang immer noch weit unter dem Mann mit dem niedrigsten.

Eine junge Awbrier-Frau holte sie am Morgen. Sie sei Dhutu von Tokar, erklarte sie der Neuen, und wolle Yua helfen, zu ihrem neuen Heim zu gelangen, und wolle sie bei der Eingewohnung unterstutzen.

Dhutu war wenigstens freundlich und half ihr bei den Feinheiten des Fliegens, wobei Yua feststellte, da? sie rasche Fortschritte machte. Sie schien instinktiv Entfernungen schatzen und die trage Luft ›fuhlen‹ und ›sehen‹ zu konnen. Trotzdem fehlte es ihr noch an volligem Zutrauen zu ihrer Fahigkeit, so da? sie sich immer wieder an Baume klammerte und ihren Weg haufig unterbrach. Dhutu war belustigt, aber geduldig, und bei den Zwischenaufenthalten erfuhr Yua mehr uber die Kultur der Awbri.

Die Manner verbrachten ihre Zeit offenbar zumeist bei sportlichen Wettkampfen und ma?en sich auf andere Art miteinander, uberwachten aber auch Wirtschaft und Handel und tauschten, was ihr Klan an Gutern hervorbrachte, aus gegen das, was benotigt wurde. Sie entschieden, was an den Asten und in den mit Dunger ausgefullten Hohlraumen von Zweigen angebaut wurde; sie entschieden praktisch uber alles. Nur Manner erhielten uberhaupt eine Ausbildung. Yua empfand Dhutus Unwissenheit als beinahe schreckenerregend. Die Awbri-Frau betrachtete Lesen und Schreiben als Zauberei; Bucher und Schrift waren geheimnisvolle Symbole, die nur zu Mannern ›sprachen‹. Sie hatte keine Ahnung, was im nachsten Hain au?erhalb ihrer eigenen Nachbarschaft lag, und wu?te auch nicht, da? sie sich auf einem Planeten befand — oder auch nur, was ein Planet sei. Sie wu?te naturlich, da? es andere Rassen gab; die Sechsecke waren zu klein, als da? dies hatte verborgen bleiben konnen. Aber sie besa? keine naheren Kenntnisse von ihnen, denn sie waren alle Ungeheuer und zu begreifen nur von Klanfuhrern. Und au?erdem kannte sie keine Neugier.

Die Frauen verrichteten, wie sich zeigte, die Arbeit. Sie brachten nicht nur die Jungen zur Welt und zogen sie auf, sie ernteten die Aste ab, brachten die Ranken und Fruchte ein, stellten den Spezialdunger fur besseren Ertrag her und waren auch die Handwerker und Warenerzeuger. In Holz zu arbeiten, war hier komplizierte Arbeit, mu?te aber geschehen, ohne den Baum abzutoten. Sie bauten und hielten verschachtelte Wohnungen im Inneren der Baume instand und erzeugten die reichverzierten Holzarbeiten, die auffalligen Mobel, Kunstgegenstande und Haushaltgerate, wie etwa Vasen. Sie bauten ferner fremdartige Musikinstrumente fur kunstvoll gearbeitete Kompositionen — naturlich von Mannern geschrieben — und die Werkzeuge und Waffen fur ihre eigenen Arbeiten und die Sportarten der Manner.

Die beiden erreichten einen Baum — ihren Baum, erklarte ihr Dhutu — und landeten auf einem niedrigen Ast. »Das ist ein neuer Baum«, wurde Yua mitgeteilt, »das hei?t, er ist bei einem Handel mit dem Mogid-Klan erworben worden, der zusatzliche Fruchtepflanzungen benotigte. Wir hatten uberzahlige Fruchtbaume in der Nahe ihrer Grenze, sie besa?en einige freie Wohnbaume nahebei, und wir brauchten mehr Raum. Fur uns war das sehr aufregend, weil so etwas vorher noch nie vorgekommen ist. Wir beginnen erst jetzt damit, den Baum richtig zu entwickeln, eine Arbeit, an der du dich beteiligen kannst.« Dhutu sagte es mit solcher Begeisterung, da? Yua vermutete, man erwarte von ihr, da? sie vor Freude au?er sich sei.

Sie betraten eine gro?e Hohlung und stiegen eine Leiter zu einem niedrigeren Gescho? hinunter, das schon starker ausgebaut war. Die Baume waren riesig; Yua vermutete, da? dieser hier einen Durchmesser von drei?ig Metern und mehr haben mu?te; das eigene Lebenssystem in seinem Au?enbereich. Die Baume schienen von Natur aus hohl zu sein, so da? sie wenig Schaden erlitten, wenn sie im Inneren bewohnt wurden, aber was dort getan worden war, erwies sich in der Tat als uberaus eindrucksvoll.

Die neue Etage stand im Begriff, umgewandelt zu werden. Frauen waren eifrig damit beschaftigt, alles abzuschmirgeln. Sie gebrauchten Hobel und kleine Werkzeuge, um das Innere so umzubauen und umzugestalten, da? es eher von Hand gefertigt als naturlich gewachsen aussah. Sie taten das aber mit solchem Bedacht, da? die

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