STRENG PRIVAT

DER SAAL IST RESERVIERT

FUR DAS

JAHRLICHE TREFFEN

DER KONIGLICHEN GESELLSCHAFT

ZUR VERHINDERUNG

VON KINDESMISSHANDLUNGEN

Die Saaltur stand offen. Ich schaute hinein. Es war wirklich ein riesiger Raum mit lauter Stuhlreihen, die zum Podium ausgerichtet waren. Die Stuhle waren mit Goldbronze gestrichen, und jeder hatte ein kleines rotes Kissen. Es war aber keine Menschenseele zu sehen.

Ich schlupfte vorsichtig in den Saal. Was war das fur ein herrlich geheimer und ruhiger Ort. Die Tagung der Koniglichen Gesellschaft zur Vermeidung von Kindesmisshandlungen hatte wohl schon ganz fruh am Tage stattgefunden, und jetzt waren sie alle nach Hause gegangen. Selbst wenn das nicht stimmte, selbst wenn sie plotzlich hereingestromt kamen, so mussten das doch ausgesprochen nette Leute sein, die einen jugendlichen Mausetrainer bei der Arbeit nur mit Wohlwollen betrachten wurden.

Im Hintergrund des Saales stand ein gro?er Wandschirm, der uber und uber mit chinesischen Drachen bemalt war. Ich beschloss, einfach aus Sicherheitsgrunden, mich hinter diesen Wandschirm zuruckzuziehen und das Training dort stattfinden zu lassen. Vor den Verhinderern von Kindesmisshandlungen hatte ich kein bisschen Angst, aber es bestand ja immer die Moglichkeit, dass Mister Stringer, der Hoteldirektor, seinen Kopf in den Saal steckte. Wenn er das nun tate und meine Mause erblickte, dann waren die armen Dinger im Wassereimer des Portiers, ehe ich Halt schreien konnte.

Ich ging also auf Zehenspitzen zum anderen Ende des Saales und richtete mich auf dem dicken grunen Teppich hinter dem gro?en Wandschirm ein. Was war das fur eine herrliche Ecke! Geradezu ideal fur das Mausetraining! Ich holte Willi und Marie aus meinen Hosentaschen, und sie sa?en ruhig und wohlerzogen auf dem Teppich neben mir.

Das Kunststuck, das ich ihnen heute beibringen wollte, war das Seiltanzen. Es ist gar nicht so schwer, eine kluge Maus zu einem erstklassigen Seiltanzer auszubilden, wenn man genau wei?, wie man vorgehen muss. Zuerst braucht man naturlich ein Seil. Das hatte ich bereits. Dann muss man ein Stuck besonders guten Kuchen haben.

Die Lieblingsspeise der wei?en Mause ist Kuchen mit Rosinen. Darauf sind sie ganz wild. Ich hatte ein Stuck Rosinenkuchen mitgebracht, den ich am Tag davor beim Tee mit meiner Gro?mutter vorsorglich eingesteckt hatte.

Und Folgendes muss man nun tun: Man spannt das Seil fest zwischen beiden Handen, aber am Anfang nur ein kurzes Stuck, nicht mehr als zehn Zentimeter. Dann setzt man die Maus auf die rechte Hand und nimmt ein Stuckchen Kuchen in die linke. Die Maus ist also nur zehn Zentimeter vom Kuchen entfernt. Sie kann ihn sehen, und sie kann ihn riechen. Ihr Schnurrbart fangt vor Gier an zu zittern. Wenn sie sich vorbeugt, kann sie den Kuchen fast erreichen, aber eben nur fast. Um diesen herrlichen Happen zu erreichen, muss sie zwei Schrittchen auf dem Seil machen. Sie reckt sich also und streckt sich, setzt eine Pfote auf das Seil und dann die zweite. Wenn die Maus einen gut ausgebildeten Gleichgewichtssinn besitzt, und bei den meisten ist das der Fall, so kommt sie ganz leicht hinuber. Ich versuchte es zuerst mit Willi. Er marschierte uber das Seil, ohne auch nur einen Augenblick zu zogern. Ich lie? ihn einmal rasch vom Kuchen abbei?en, nur um seinen Appetit zu kitzeln, dann nahm ich ihn wieder in meine rechte Hand.

Diesmal verlangerte ich den Strick. Ich machte ihn fast zwanzig Zentimeter lang. Willi wusste schon genau, worauf es ankam. Er trippelte, ohne das Gleichgewicht zu verlieren, Schrittchen fur Schrittchen uber das Seil, bis er den Kuchen erreicht hatte. Ich belohnte ihn mit einem zweiten Bissen.

Nach kurzester Zeit marschierte Willi uber ein siebzig Zentimeter langes Seil (oder eben genauer gesagt Bindfaden) von einer Hand zur anderen, um seinen Kuchen zu erreichen. Es war hochinteressant, ihm dabei zuzuschauen. Es schien ihm auch selber Spa? zu machen. Ich achtete immer darauf, den Strick ziemlich dicht uber dem Teppich zu spannen, sodass er nicht allzu tief fallen musste, wenn er einmal das Gleichgewicht verlor. Er sturzte aber kein einziges Mal ab. Willi schien ein geborener Akrobat zu sein, eine erstklassige Seiltanz-Maus.

Danach war Marie an der Reihe. Ich setzte Willi neben mich auf den Teppich und belohnte ihn mit ein paar Extrakrumeln und einer dicken Rosine. Dann fing ich an, mit Marie genau das Gleiche zu exerzieren. Ihr musst namlich wissen, mein geheimer Ehrgeiz und der Traum meiner Traume bestand darin, eines Tages der Besitzer eines Wei?e-Mause-Zirkus zu sein. Ich wollte eine kleine Buhne haben mit roten Theatervorhangen, und wenn die Vorhange aufgezogen wurden, dann konnten die Zuschauer meine weltberuhmten Zirkusmause sehen, wie sie seiltanzen, Trapezkunststucke vorfuhren, Saltos schlagen, auf Trampolinen springen und was sonst noch dazu gehort. Ich wurde wei?e Mause auf wei?en Ratten reiten lassen, und die Ratten mussten auf der Buhne mit Tempo und feurigem Temperament immer im Kreise reiten. Ich fing schon an, mir ganz genau auszumalen, wie ich immer erster Klasse mit meinem Wei?e-Mause-Zirkus rund um die ganze Erde reiste und vor den gekronten Hauptern Europas meine Vorstellungen gab.

Als ich etwa die Halfte von Maries Trainingsprogramm hinter mir hatte, horte ich plotzlich drau?en, vor den Ballsaalturen, Stimmen. Der Larm wurde immer lauter. Er schwoll zu einem Stimmengewirr aus vielen Kehlen an. Ich erkannte die Stimme dieses grasslichen Hoteldirektors Mister Stringer.

Hilfe, dachte ich.

Aber immerhin gab es wenigstens diesen gro?en Wandschirm.

Ich kauerte mich hinter ihm zusammen und spahte durch die Ritze zwischen zwei von seinen Teilen. Dadurch konnte ich den Ballsaal in seiner ganzen Lange und Breite uberblicken, ohne dass ich gesehen wurde.

«So, meine Damen, ich bin sicher, dass Sie es hier drinnen ganz nach Ihren Wunschen haben», verkundete die Stimme von Mister Stringer. Dann kam er zur Tur hereinmarschiert, in Frack und so und breitete seine Arme weit aus, um eine stattliche Schar von Damen hereinzuwedeln. «Wenn es noch irgendetwas gibt, was wir fur Sie tun konnen, so zogern Sie bitte nicht, sondern lassen es mich sofort wissen», fuhr er fort. «Der Tee wird Ihnen nach Schluss der Sitzung auf der Sonnenterrasse serviert werden.» Damit verneigte er sich und schob sich aus dem Saal, in den nun eine ganze Herde von Damen von der Koniglichen Gesellschaft zur Verhinderung von Kindesmisshandlungen hereingestromt kam. Sie hatten alle wunderschone Kleider an und Hute auf dem Kopf.

Die Tagung

Nachdem nun der Hoteldirektor verschwunden war, hatte ich eigentlich keine Angst mehr. Was konnte besser sein, als in einem Saal mit lauter entzuckenden Damen eingeschlossen zu sein? Vielleicht wurde ich sogar mit ihnen ins Gesprach kommen, dann konnte ich ihnen vorschlagen, dass sie sich einmal in meiner Schule um die Verhinderung von Kindesmisshand-lungen kummern sollten. Wir konnten sie dort schon gebrauchen.

Sie kamen also herein und schwatzten aus vollem Halse. Sie liefen hin und her und suchten ihre Platze, und dabei gaben sie solche Satze von sich wie: «Komm doch her und setz dich neben mich, meine liebste Milly.» Oder: «Oh, hallo, Beatrix! Ich hab dich ja eine Ewigkeit nicht mehr gesehen! Und was fur ein hinrei?endes Kleid du anhast!»

Ich beschloss, zu bleiben, wo ich war, und sie ihre Tagung abhalten zu lassen, wahrend ich mit meinem Mausetraining fortfuhr. Aber ich beobachtete sie trotzdem noch eine Weile durch die Ritze im Wandschirm, weil ich abwarten wollte, bis sie sich endlich alle gesetzt hatten. Wie viele mochten es insgesamt sein? Ich schatzte, sicher zweihundert. Die hinteren Reihen wurden zuerst voll. Sie schienen alle so weit vom Podium entfernt sitzen zu wollen, wie es nur ging.

In der Mitte der letzten Reihe sa? eine Dame mit einem kleinen grunen Hut, die sich unaufhorlich hinten am Halse kratzte. Sie konnte gar nicht aufhoren. Es faszinierte mich, wie ihre Finger immer hinten unter ihren Haaren herumfuhren. Wenn sie gewusst hatte, dass sie von hinten beobachtet wurde, so hatte sie das sicher nervos

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