Joan D. Vinge

In den Trummern des Himmelsystems

Zwei sind besser dran als einer, da sie einander unterstutzen konnen. Denn wenn einer fallt, so kann der andere ihm wieder aufhelfen. Doch wehe dem, der allein ist, wenn er fallt: Ihm wird keiner helfen konnen.

Ecclesiastes

Unseren Eltern, allen vieren

Es gibt mehr Sterne in den Weltraumtiefen als Wassertropfen in der Borealischen See. Nur wenige dieser Sterne blinken und glitzern am nachtlichen Himmel uber dem Eis der Nachtseite, wie Schneeflocken, die im Scheinwerferlicht schweben. Und von diesen Tausenden und aber Tausenden von sichtbaren Sternen hatten die Bewohner des Planeten Morningside einen Wunsch an einen speziellen gerichtet — Himmel genannt.

Manchmal, wenn die Winde ersterben, senkt sich eine Grabesstille uber die Eisflachen der Nachtseite, und einem Astronomen von Morningside mag es in der Einsamkeit seines Observatoriums wohl so vorkommen, als seien alle Barrieren zwischen seiner Welt und den Sternen zusammengebrochen, als streiche die kalte Hand des interstellaren Raumes uber den Planeten dahin. Der Weltraum brandet gegen die Tore, die Nacht stromt herein, naher und naher, vermengt sich unmerklich mit jener gro?eren Nacht, die jeglichen Morgen verschlingt, alle Morningsides und all die Myriaden anderer Sterne, deren Zahl die Ozeane uber die Ufer treten lie?e.

Und vielleicht schweifen seine Gedanken zu dem Sternenschiff Ranger, welches sich von Morningsides fragilem Eiland in diese endlose Nacht erhoben hatte; ein versilbertes Staubkornchen, von einer machtigen, unsichtbaren Brise durch die kathedralen Entfernungen des Alls getragen, von Kerzenflamme zu Kerzenflamme, durch die Finsternis…

Naturlich, es wurde eine sehr lange Reise werden. Und was der Besatzung als mutige, strahlende Gro?e ihrer vereinigten Krafte erschienen war, sank zur Unwahrnehmlichkeit herab, als sie die Heimatwelt weiter und weiter hinter sich lie?en — als die Ranger zu einem weiteren, winzigen Splitter wurde, verloren unter zahllosen anderen Splittern in den formlosen Tiefen der Nacht. Doch wie ein Funke in einer Zunderbuchse gaben ihre eigenen Leben dem Schiff ein warmes, schlagendes Herz des Lichtes und des Lebens. Die Tage vergingen, die Monate, die Jahre… Lichtjahre blieben zuruck, wahrend sieben Manner und Frauen uber das Schiff und auch uber sich selbst wachten. Ihre gemeinsame Vergangenheit umspann ihre Gegenwart mit Bildern der Welt, die sie verlassen hatten, und mit Visionen der Zukunft, von der sie hofften, sie zuruckbringen zu konnen. Ihr Ziel war Himmel, und wie wahre Glaubige erkannten sie, da? Glaube im Gewimmel der Sterne und der Enge der hydroponischen Tanks eine tiefere Bedeutung gewann, in ihrer Stille und ihrem Lachen, in jedem Lied und jeder Erinnerung an die Heimat, die sie mit sich trugen.

Und endlich hob sich ein Stern unter all den anderen hervor, ruckte ins Zentrum des Bildschirms des Schiffs, wurde zu einem Brennpunkt ihrer gemeinsamen Hoffnungen. Jahre schrumpften zu Monaten und schlie?lich Wochen, als sie, nun verlangsamend von nahezu Lichtgeschwindigkeit, ihr Rendezvous mit dem neuen System begannen. Sie passierten den Orbit von Sevin, der au?ersten der Welten Himmels, wo die neue Sonne kaum mehr war als ein eisgekrontes Lichtpunktchen. Nun begannen sie, die Tage zu zahlen; wie Kinder, wenn das Weihnachtsfest vor der Tur steht, sahen sie das Ziel ihrer Reise vor sich: all die Reichtumer und Wunder von Himmels Gurtel.

Doch bevor sie sich ihrem endgultigen Ziel naherten, wollten sie ein weiteres Wunder sehen, das keine Schopfung des Menschengeistes war — den Gasgiganten Diskus, ein funkelnder Rubin, umgeben von silbernen Ringen. Sie beobachteten, wie er sich ausdehnte, bis er einen gro?eren Raum dieses schwarzen und fremden Weltalls verdrangte, als das Antlitz ihrer eigenen Sonne das im dunstigen Himmel der Heimat getan hatte. Sie naherten sich dem schwerfalligen Giganten, passierten ihn wie ein vorsichtiges Gluhwurmchen. Und wahrend die Besatzung gemeinsam im Tagesraum sa? und in Ehrfurcht die Pracht bestaunte, entdeckten der Kapitan und der Navigator etwas Neues, etwas vollig Unerwartetes auf den Bildschirmen des Schiffes: Vier unbekannte Raumschiffe, angetrieben von veralteten chemischen Raketen, auf Kollisionskurs…

Ranger (Diskanisches Hoheitsgebiet)

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„Pappy, nahern sie sich immer noch?“

„Immer noch, Bertha.“ Clewell Welkin beugte sich nach vorn, als neue Symbole am unteren Rand des Bildschirms erschienen. „Aber die Rate stagniert standig. Sie mussen die Energie unterbrechen, sie konnen nicht ewig zehn Grav durchhalten. Himmel, la? sie uns nicht noch einmal treffen…“

Bertha schlug erneut mit der geballten Faust auf den Knopf des Interkoms. „Es wird alles in Ordnung gehen. Niemand wird uns zu nahe kommen.“ Ihre Stimme klang fremd, wie die Stimme von jemand anders, nicht von Bertha Torgussen. Sie erhielt keine Antwort. „Kommt schon, irgend jemand, antwortet mir. Eric! Eric! Schalt ein…“

„Bertha.“ Clewell griff uber die gepolsterte Armlehne des Sessels nach ihrer Schulter.

„Pappy, sie antworten nicht.“

„Bertha, eines dieser Schiffe fallt nicht zuruck! Es…“

Sie befreite sich aus seinem Griff und uberflog die Schriftzeichen auf dem Schirm. „Sieh dir das an! Sie wollen uns fassen! Es kann nicht anders sein; sie verbrennen chemischen Treibstoff und konnen es sich nicht leisten, so viel zu verschwenden.“ Sie hielt den Atem an, die Knochel ihrer Hand, die kaltes Metall umklammerte, traten wei? hervor. „Sie kommen zu nahe. Zeig ihnen unser Heck, Pappy.“

Bleiche Augen blinzelten in seinem zerfurchten Gesicht. „Bist du…?“

Sie erhob sich halb, stie? sich dann am Instrumentenpult ab und wieder zuruck in ihren Sitz. „Clewell, sie haben versucht, uns zu toten! Sie sind bewaffnet, sie wollen unser Schiff, und das ist der einzige Weg, wie man sie aufhalten kann… Lassen Sie sie unser Heck kreuzen, Navigator.“

„Ja, Kapitan.“ Er wandte sich von ihr ab, dem Instrumentenpult zu und begann, den Kurs zu programmieren, der ihrer Verfolgung ein Ende setzen wurde.

Im letzten Moment schaltete Bertha den Schirm von Simulation auf Au?enbeobachtung um, fand den bernsteinfarbenen Fleck des verfolgenden Schiffes drei?ig Kilometer hinter ihnen — beobachtete, wie es kurz von den hoch verdichteten Partikeln vergoldet wurde, die ihr eigenes Schiff ausstie?. Und beobachtete, wie das Gold wieder dunkler wurde, bis zur totalen Dunkelheit, durchsetzt mit Sternen. Sie erschauerte, ohne es zu merken, und unterbrach die Energie.

„Was… was tun wir jetzt?“ Clewell schwebte hoch, sein Korper wurde von den Sicherheitsgurten gehalten, als die Bewegung des Schiffes erstarb. Die wei?en Strahnen seines Haares standen wie gefrorene Graser von seinem Kopf ab.

Vor ihr auf dem Schirm kamen die Ringe von Diskus in Sicht, verdrangten die Nacht. Eine Ebene gestreiften Silbers, zwanzig abwechselnde Streifen, tiefschwarz und mondwei?, im Hintergrund das funkelnde rote Gasjuwel des zentralen Planeten. Ihre Hand ruhte auf der Skalenbeleuchtung, ihre Augen brannten in der Helligkeit, die ihren Willen paralysierte. Sie schlo? ihre Augen und loschte die Beleuchtung.

Der Interkom war zerstort. Sie alle sa?en am Tisch, Eric und Sean und Nikolai, Lara und Claire; sie sahen zu ihr auf, lachten, atmeten wieder, sahen hinaus durch die Kuppel, zur Glorie von Diskus in der einsamen Nacht… Sie offnete die Augen. Und sah die Einsamkeit der Nacht. O Gott, dachte sie. Der Raum war leer; sie waren gegangen. O Gott. Nur Sterne

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