alle Dinge als blosse Phantome oder Traumbilder vorkommen, als das Kennzeichen philosophischer Befahigung. Wie nun der Philosoph zur Wirklichkeit des Daseins, so verhalt sich der kunstlerisch erregbare Mensch zur Wirklichkeit des Traumes; er sieht genau und gern zu: denn aus diesen Bildern deutet er sich das Leben, an diesen Vorgangen ubt er sich fur das Leben. Nicht etwa nur die angenehmen und freundlichen Bilder sind es, die er mit jener Allverstandigkeit an sich erfahrt: auch das Ernste, Trube, Traurige, Finstere, die plotzlichen Hemmungen, die Neckereien des Zufalls, die banglichen Erwartungen, kurz die ganze» gottliche Komodie «des Lebens, mit dem Inferno, zieht an ihm vorbei, nicht nur wie ein Schattenspiel — denn er lebt und leidet mit in diesen Scenen — und doch auch nicht ohne jene fluchtige Empfindung des Scheins; und vielleicht erinnert sich Mancher, gleich mir, in den Gefahrlichkeiten und Schrecken des Traumes sich mitunter ermuthigend und mit Erfolg zugerufen zu haben:»Es ist ein Traum! Ich will ihn weiter traumen!«Wie man mir auch von Personen erzahlt hat, die die Causalitat eines und desselben Traumes uber drei und mehr aufeinanderfolgende Nachte hin fortzusetzen im Stande waren: Thatsachen, welche deutlich Zeugniss dafur abgeben, dass unser innerstes Wesen, der gemeinsame Untergrund von uns allen, mit tiefer Lust und freudiger Nothwendigkeit den Traum an sich erfahrt.

Diese freudige Nothwendigkeit der Traumerfahrung ist gleichfalls von den Griechen in ihrem Apollo ausgedruckt worden: Apollo, als der Gott aller bildnerischen Krafte, ist zugleich der wahrsagende Gott. Er, der seiner Wurzel nach der» Scheinende«, die Lichtgottheit ist, beherrscht auch den schonen Schein der inneren Phantasie-Welt. Die hohere Wahrheit, die Vollkommenheit dieser Zustande im Gegensatz zu der luckenhaft verstandlichen Tageswirklichkeit, sodann das tiefe Bewusstsein von der in Schlaf und Traum heilenden und helfenden Natur ist zugleich das symbolische Analogon der wahrsagenden Fahigkeit und uberhaupt der Kunste, durch die das Leben moglich und lebenswerth gemacht wird. Aber auch jene zarte Linie, die das Traumbild nicht uberschreiten darf, um nicht pathologisch zu wirken, widrigenfalls der Schein als plumpe Wirklichkeit uns betrugen wurde — darf nicht im Bilde des Apollo fehlen: jene maassvolle Begrenzung, jene Freiheit von den wilderen Regungen, jene weisheitsvolle Ruhe des Bildnergottes. Sein Auge muss» sonnenhaft«, gemass seinem Ursprunge, sein; auch wenn es zurnt und unmuthig blickt, liegt die Weihe des schonen Scheines auf ihm. Und so mochte von Apollo in einem excentrischen Sinne das gelten, was Schopenhauer von dem im Schleier der Maja befangenen Menschen sagt. Welt als Wille und Vorstellung I, S. 416»Wie auf dem tobenden Meere, das, nach allen Seiten unbegranzt, heulend Wellenberge erhebt und senkt, auf einem Kahn ein Schiffer sitzt, dem schwachen Fahrzeug vertrauend; so sitzt, mitten in einer Welt von Qualen, ruhig der einzelne Mensch, gestutzt und vertrauend auf das principium individuationis«. Ja es ware von Apollo zu sagen, dass in ihm das unerschutterte Vertrauen auf jenes principium und das ruhige Dasitzen des in ihm Befangenen seinen erhabensten Ausdruck bekommen habe, und man mochte selbst Apollo als das herrliche Gotterbild des principii individuationis bezeichnen, aus dessen Gebarden und Blicken die ganze Lust und Weisheit des» Scheines«, sammt seiner Schonheit, zu uns sprache.

An derselben Stelle hat uns Schopenhauer das ungeheure Grausen geschildert, welches den Menschen ergreift, wenn er plotzlich an den Erkenntnissformen der Erscheinung irre wird, indem der Satz vom Grunde, in irgend einer seiner Gestaltungen, eine Ausnahme zu erleiden scheint. Wenn wir zu diesem Grausen die wonnevolle Verzuckung hinzunehmen, die bei demselben Zerbrechen des principii individuationis aus dem innersten Grunde des Menschen, ja der Natur emporsteigt, so thun wir einen Blick in das Wesen des Dionysischen, das uns am nachsten noch durch die Analogie des Rausches gebracht wird. Entweder durch den Einfluss des narkotischen Getrankes, von dem alle ursprunglichen Menschen und Volker in Hymnen sprechen, oder bei dem gewaltigen, die ganze Natur lustvoll durchdringenden Nahen des Fruhlings erwachen jene dionysischen Regungen, in deren Steigerung das Subjective zu volliger Selbstvergessenheit hinschwindet. Auch im deutschen Mittelalter walzten sich unter der gleichen dionysischen Gewalt immer wachsende Schaaren, singend und tanzend, von Ort zu Ort: in diesen Sanct-Johann- und Sanct-Veittanzern erkennen wir die bacchischen Chore der Griechen wieder, mit ihrer Vorgeschichte in Kleinasien, bis hin zu Babylon und den orgiastischen Sakaen. Es giebt Menschen, die, aus Mangel an Erfahrung oder aus Stumpfsinn, sich von solchen Erscheinungen wie von» Volkskrankheiten«, spottisch oder bedauernd im Gefuhl der eigenen Gesundheit abwenden: die Armen ahnen freilich nicht, wie leichenfarbig und gespenstisch eben diese ihre» Gesundheit «sich ausnimmt, wenn an ihnen das gluhende Leben dionysischer Schwarmer voruberbraust.

Unter dem Zauber des Dionysischen schlie?t sich nicht nur der Bund zwischen Mensch und Mensch wieder zusammen: auch die entfremdete, feindliche oder unterjochte Natur feiert wieder ihr Versohnungsfest mit ihrem verlorenen Sohne, dem Menschen. Freiwillig beut die Erde ihre Gaben, und friedfertig nahen die Raubthiere der Felsen und der Wuste. Mit Blumen und Kranzen ist der Wagen des Dionysus uberschuttet: unter seinem Joche schreiten Panther und Tiger. Man verwandele das Beethoven'sche Jubellied der» Freude «in ein Gemalde und bleibe mit seiner Einbildungskraft nicht zuruck, wenn die Millionen schauervoll in den Staub sinken: so kann man sich dem Dionysischen nahern. Jetzt ist der Sclave freier Mann, jetzt zerbrechen alle die starren, feindseligen Abgrenzungen, die Noth, Willkur oder» freche Mode «zwischen den Menschen festgesetzt haben. Jetzt, bei dem Evangelium der Weltenharmonie, fuhlt sich Jeder mit seinem Nachsten nicht nur vereinigt, versohnt, verschmolzen, sondern eins, als ob der Schleier der Maja zerrissen ware und nur noch in Fetzen vor dem geheimnissvollen Ur- Einen herumflattere. Singend und tanzend aussert sich der Mensch als Mitglied einer hoheren Gemeinsamkeit: er hat das Gehen und das Sprechen verlernt und ist auf dem Wege, tanzend in die Lufte emporzufliegen. Aus seinen Gebarden spricht die Verzauberung. Wie jetzt die Thiere reden, und die Erde Milch und Honig giebt, so tont auch aus ihm etwas Uebernaturliches: als Gott fuhlt er sich, er selbst wandelt jetzt so verzuckt und erhoben, wie er die Gotter im Traume wandeln sah. Der Mensch ist nicht mehr Kunstler, er ist Kunstwerk geworden: die Kunstgewalt der ganzen Natur, zur hochsten Wonnebefriedigung des Ur-Einen, offenbart sich hier unter den Schauern des Rausches. Der edelste Thon, der kostbarste Marmor wird hier geknetet und behauen, der Mensch, und zu den Meisselschlagen des dionysischen Weltenkunstlers tont der eleusinische Mysterienruf:»Ihr sturzt nieder, Millionen? Ahnest du den Schopfer, Welt?«—

2.

Wir haben bis jetzt das Apollinische und seinen Gegensatz, das Dionysische, als kunstlerische Machte betrachtet, die aus der Natur selbst, ohne Vermittelung des menschlichen Kunstlers, hervorbrechen, und in denen sich ihre Kunsttriebe zunachst und auf directem Wege befriedigen: einmal als die Bilderwelt des Traumes, deren Vollkommenheit ohne jeden Zusammenhang mit der intellectuellen Hohe oder kunstlerischen Bildung des Einzelnen ist, andererseits als rauschvolle Wirklichkeit, die wiederum des Einzelnen nicht achtet, sondern sogar das Individuum zu vernichten und durch eine mystische Einheitsempfindung zu erlosen sucht. Diesen unmittelbaren Kunstzustanden der Natur gegenuber ist jeder Kunstler» Nachahmer«, und zwar entweder apollinischer Traumkunstler oder dionysischer Rauschkunstler oder endlich — wie beispielsweise in der griechischen Tragodie — zugleich Rausch- und Traumkunstler: als welchen wir uns etwa zu denken haben, wie er, in der dionysischen Trunkenheit und mystischen Selbstentausserung, einsam und abseits von den schwarmenden Choren niedersinkt und wie sich ihm nun, durch apollinische Traumeinwirkung, sein eigener Zustand d. h. seine Einheit mit dem innersten Grunde der Welt in einem gleichnissartigen Traumbilde offenbart.

Nach diesen allgemeinen Voraussetzungen und Gegenuberstellungen nahen wir uns jetzt den Griechen, um zu erkennen, in welchem Grade und bis zu welcher Hohe jene Kunsttriebe der Natur in ihnen entwickelt gewesen sind: wodurch wir in den Stand gesetzt werden, das Verhaltniss des griechischen Kunstlers zu seinen Urbildern, oder, nach dem aristotelischen Ausdrucke,»die Nachahmung der Natur «tiefer zu verstehn und zu wurdigen. Von den Traumen der Griechen ist trotz aller Traumlitteratur derselben und zahlreichen Traumanecdoten nur vermuthungsweise, aber doch mit ziemlicher Sicherheit zu sprechen: bei der unglaublich bestimmten und sicheren plastischen Befahigung ihres Auges, sammt ihrer hellen und aufrichtigen Farbenlust, wird man sich nicht entbrechen konnen, zur Beschamung aller Spatergeborenen, auch fur ihre Traume eine logische Causalitat der Linien und Umrisse, Farben und Gruppen, eine ihren besten Reliefs ahnelnde Folge der Scenen vorauszusetzen, deren Vollkommenheit uns, wenn eine Vergleichung moglich ware, gewiss berechtigen wurde, die traumenden Griechen als Homere und Homer als einen traumenden Griechen zu bezeichnen: in einem tieferen Sinne als wenn der moderne Mensch sich hinsichtlich seines Traumes mit Shakespeare zu vergleichen wagt.

Dagegen brauchen wir nicht nur vermuthungsweise zu sprechen, wenn die ungeheure Kluft aufgedeckt werden soll, welche die dionysischen Griechen von den dionysischen Barbaren trennt. Aus allen Enden der alten Welt — um die neuere hier bei Seite zu lassen — von Rom bis Babylon konnen wir die Existenz dionysischer Feste nachweisen, deren Typus sich, besten Falls, zu dem Typus der griechischen verhalt, wie der bartige Satyr, dem der Bock Namen und Attribute verlieh, zu Dionysus selbst. Fast uberall lag das Centrum dieser Feste in einer uberschwanglichen geschlechtlichen Zuchtlosigkeit, deren Wellen uber jedes Familienthum und dessen ehrwurdige

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