dem sie sich so oft gesehnt hatte in diesen vergangenen Jahren, die sie jenseits des Ozeans verbracht hatte, und herrlich, statt in die Uniform wieder in Rock und Bluse schlupfen zu konnen, selbst wenn die Motten sich wahrend der Kriegsjahre uber Gebuhr daran gutlich getan hatten.
Es tat gut, wieder ein freies Wesen zu sein, obwohl Lynn gern Dienst getan hatte. Die Arbeit war interessant gewesen, auch an Abwechslung und Vergnugen hatte es nicht gefehlt, aber das Gefuhl, standig mit anderen Menschen zusammengepfercht zu, sein, hatte doch von Zeit zu Zeit das verzweifelte Verlangen in ihr geweckt, auszurei?en, um endlich einmal allein sein zu konnen.
Und wenn diese Sehnsucht sie packte, stand plotzlich Warmsley Vale mit dem anspruchslosen Haus vor ihrem inneren Auge und naturlich auch die liebe gute Mama.
Lynns Verhaltnis zu ihrer Mutter war eigenartig. Sie liebte sie und fuhlte sich gleichzeitig verwirrt und manchmal peinlich beruhrt durch Mrs Marchmonts Art. Aber fern von daheim hatte sich dieser Eindruck verwischt oder nur dazu beigetragen, die Sehnsucht nach zu Hause zu verstarken. Ach, was hatte sie darum gegeben, hatte sie dort drau?en im Fernen Osten nur einmal Mamas liebe, stets etwas klagend klingende Stimme eine ihrer ewig wiederholten Redensarten sagen horen!
Und nun war sie daheim, schon drei Tage. Es gab keinen Dienst mehr, sie konnte sich als freier Mensch fuhlen, und doch begann bereits eine seltsame Ungeduld Besitz von ihr zu ergreifen. Es war genau wie fruher – viel zu genau wie fruher –, das Haus und die Mama und Rowley und die Farm und die Familie. Was sich geandert hatte und eben nie hatte andern durfen, das war sie selbst.
»Lynn…« Mrs Marchmonts dunnes Stimmchen drang von unten herauf. »Soll ich meinem Tochterchen das Fruhstuck vielleicht ans Bett bringen?«
»Aber nein, ich komme selbstverstandlich runter!«, rief Lynn mit muhsam unterdruckter Ungeduld zuruck.
Warum sie nur immer von mir als ihrem Tochterchen redet, dachte sie argerlich. Es klingt so albern.
Sie ging hinunter und betrat das Speisezimmer.
Es gab kein besonders gutes Fruhstuck. Aber das erbitterte Lynn weniger als die Feststellung, wie viel Kraft und Zeit in ihrem Elternhaus auf die Nahrungsbeschaffung verschwendet wurde. Abgesehen von einer wenig zuverlassigen Frau, die viermal wochentlich einen halben Tag helfen kam, qualte sich Mrs Marchmont allein mit dem Haushalt ab. Sie war beinahe vierzig Jahre alt gewesen, als Lynn geboren wurde, und um ihre Gesundheit war es nicht allzu gut bestellt. Es kam Lynn mit zunehmendem Unbehagen zu Bewusstsein, wie sehr sich auch die finanzielle Lage daheim geandert hatte. Das nie besonders hohe, aber absolut ausreichende Einkommen, das ihnen vor dem Krieg gestattet hatte, ein angenehm sorgloses Leben zu fuhren, wurde durch die Steuern beinahe um die Halfte geschmalert. Die Ausgaben aber waren alle gestiegen.
Schon sieht es aus in der Welt, dachte Lynn grimmig. Sie uberflog die Stellengesuche in der Zeitung. »Demobilisierter Soldat sucht Posten, der Initiative und Fahrausweis verlangt.« – »Ehemalige Frauenhilfsdienstlerin sucht Anstellung, wo ihr ausgepragtes Organisationstalent und die Fahigkeit, Aufsicht zu fuhren, von Nutzen sein konnten.«
Unternehmungslust, Organisationstalent, Initiative – das wurde angeboten. Doch was wurde verlangt? Frauen, die kochen und putzen konnten oder geubte Stenotypistinnen waren.
Nun, sie brauchte sich in dieser Beziehung keine grauen Haare wachsen zu lassen. Ihr Weg lag klar vor ihr. Sie wurde ihren Vetter Rowley Cloade heiraten. Vor sieben Jahren, kurz vor Ausbruch des Krieges, hatten sie sich verlobt. Solange sie zuruckdenken konnte, war es selbstverstandlich gewesen, dass sie eines Tages Rowley heiraten wurde. Seine Liebe zum Landleben und der Arbeit auf einer Farm hatte sie stets geteilt. Ein gutes Leben lag vor ihnen, kein sehr abenteuerliches oder aufregendes Leben, sondern Tage erfullt von harter Arbeit, aber sie liebten beide die Natur und den Duft der Walder und Wiesen sowie die Pflege der Tiere.
Ihre Aussichten waren allerdings nicht mehr so rosig wie fruher einmal. Onkel Gordon hatte stets versprochen gehabt Mrs Marchmont unterbrach Lynns Gedankengang.
»Es war ein schrecklicher Schlag fur uns, Lynn, wie ich dir ja schon geschrieben habe. Gordon war gerade zwei Tage in England. Wir hatten ihn noch nicht einmal gesehen. Wenn er nur nicht in London geblieben, sondern geradewegs hierher gekommen ware!«
»Ja, wenn…«
Als Lynn fern von daheim die Nachricht vom Tod ihres Onkels erreichte, hatte sie Kummer und Entsetzen bei ihr ausgelost. Welche Folgen fur sie alle jedoch mit dem Ableben Gordon Cloades verbunden waren, begann ihr erst jetzt klar zu werden.
Solange sie sich erinnern konnte, hatte Gordon Cloade in ihrem Leben – und auch im Leben der anderen Familienmitglieder – eine hervorragende Rolle gespielt. Der wohlhabende, reiche Mann hatte sich stets seiner gesamten Verwandtschaft angenommen und bestimmend in ihr Schicksal eingegriffen.
Selbst Rowley bildete da keine Ausnahme. Er hatte mit seinem Freund Johnnie Vavasour zusammen eine Farm ubernommen, und Gordon, der selbstverstandlich um Rat gefragt worden war, hatte der Ubernahme zugestimmt.
Lynn gegenuber hatte er sich deutlicher geau?ert.
»Um eine Farm rentabel zu bewirtschaften, braucht man Kapital, aber ich mochte erst einmal sehen, ob die beiden jungen Manner wirklich das Zeug dazu haben, tuchtige Farmer zu werden. Wurde ich ihnen jetzt Geld zuschie?en, ware es ein Leichtes fur sie, aber ich konnte nie beurteilen, wie weit ihre eigene Leistungsfahigkeit und ihr Durchhaltevermogen gehen. Lasse ich sie jetzt aber ihre Probleme allein durchkampfen, und ich sehe nach einer gewissen Zeit, dass es ihnen ernst ist und dass sie gewillt sind, ihre ganze Kraft einzusetzen, dann brauchst du dir keine Sorgen zu machen, Lynn, dann werde ich ihnen mit dem notigen Kapital unter die Arme greifen. Hab keine Angst vor der Zukunft, Madchen. Du bist die richtige Frau fur Rowley, das wei? ich. Aber behalte das, was ich dir eben gesagt habe, fur dich.«
Sie hatte Wort gehalten und keine Silbe von dem Gesprach verlauten lassen, doch Rowley hatte ohnehin das wohl wollende Interesse gespurt, das der Onkel seinem Unternehmen entgegenbrachte. Es war an ihm, dem alten Herrn zu beweisen, dass Johnnie Vavasour und er selbst es wert waren, in ihrem Bestreben unterstutzt zu werden.
Und so waren sie alle mehr oder weniger von Gordon Cloade abhangig gewesen. Nicht, dass sie sich etwa darauf verlassen und die Hande in den Scho? gelegt hatten. Jeremy Cloade war Seniorpartner in einem Anwaltsburo, Lionel Cloade praktizierte als Arzt.
Aber das beruhigende Gefuhl, dass es Gordon Cloade und sein Geld gab, verlieh doch Sicherheit. Es bestand kein Grund, besonders zu geizen oder zu sparen. Die Zukunft war gesichert; Gordon Cloade, der kinderlose Witwer, wurde sich im Notfall ihrer aller annehmen. Mehr als einmal hatte er ihnen das versichert.
Gordons verwitwete Schwester, Adela Marchmont, blieb in dem geraumigen wei?en Haus wohnen, als es ratsamer gewesen ware, ein kleineres, nicht so viel Arbeit verursachendes Haus zu beziehen. Lynn besuchte die besten Schulen, und ware der Krieg nicht dazwischengekommen, hatte es ihr freigestanden, sich, unbekummert um die Ausbildungskosten, einen ihr zusagenden Beruf zu wahlen. Onkel Gordons Schecks trafen mit angenehmer Regelma?igkeit ein und gestatteten mancherlei Luxus.
Alles lief in wunderbar ruhigem, sicherem Fahrwasser, bis plotzlich, aus heiterem Himmel, die Nachricht von Gordon Cloades Heirat kam.
»Wir waren alle wie vor den Kopf gesto?en«, gestand Adela. »Dass Gordon noch mal heiraten konnte, war das Letzte, das einer von uns vermutet hatte. Uber Mangel an Familie konnte er sich doch wei? Gott nicht beklagen.«
O nein, dachte Lynn, Mangel an Familie sicher nicht, vielleicht aber zu viel.
»Er war immer so reizend«, fuhr Mrs Marchmont fort. »Obwohl er sich manchmal ein klein wenig tyrannisch gebardete. Dass wir keine Tischtucher benutzen, konnte er, zum Beispiel, gar nicht leiden. Er bestand darauf, dass ich mich an die altmodische Sitte vorschriftsma?ig gedeckter Tische hielt. Aus Italien brachte er mir die herrlichsten venezianischen Spitzendecken mit.«
»Es zahlte sich jedenfalls aus, ihm nachzugeben«, entgegnete Lynn trocken. »Wie hat er eigentlich seine zweite Frau kennen gelernt? Daruber hast du mir nie etwas geschrieben.«
»Ach, an Bord irgendeines Schiffs oder Flugzeugs auf einer seiner Reisen von Sudamerika nach New York, glaube ich. Unvorstellbar, nach all den Jahren und nach den unzahligen Sekretarinnen und Stenotypistinnen und Haushalterinnen, die er hatte.«
Lynn musste unwillkurlich lacheln. Die Sekretarinnen und Hausangestellten Onkel Gordons waren von Seiten