der Verwandtschaft von jeher mit au?erstem Argwohn betrachtet worden.
»Sie wird sehr hubsch sein, nehme ich an«, sagte sie.
»Ehrlich gestanden, meine Liebe, finde ich ihr Gesicht eher ausdruckslos. Ein bisschen dummlich.«
»Du bist eben kein Mann, Mama.«
»Man muss naturlich in Erwagung ziehen, dass das arme Ding einen Bombenangriff hinter sich hat und wirklich schrecklich krank war infolge der furchtbaren Erlebnisse. Meiner Meinung nach hat sie sich von ihrer Krankheit nie richtig erholt. Ein Nervenbundel ist sie, und zeitweise wirkt sie direkt wie geistig zuruckgeblieben. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie Gordon eine seinen geistigen Interessen gewachsene Person gewesen ist.«
Lynn bezweifelte, dass sich ihr Onkel eine um so viel jungere Frau genommen hatte, um eine seinen geistigen Anspruchen gewachsene Partnerin neben sich zu wissen.
»Und dann kommt hinzu – aber es ist mir schrecklich peinlich, das aussprechen zu mussen –, dass sie keine Dame ist.«
»Wie altmodisch, Mama! Was hat das heute noch zu sagen?«
»Auf dem Lande ist man noch altmodisch, Lynn. Und ich meine damit, dass sie eben einfach nicht in unsere Kreise passt.«
»Die Arme!«
»Ich verstehe nicht, was du damit ausdrucken willst«, erwiderte Mrs Marchmont gekrankt. »Wir haben uns alle sehr zusammengenommen und bemuht, hoflich und freundlich zu ihr zu sein. Schon Gordon zuliebe.«
»Sie wohnt in Furrowbank?«, erkundigte sich Lynn.
»Naturlich. Wo sollte sie sonst wohnen? Die Arzte sagten, als sie aus der Klinik entlassen wurde, sie musste von London weg. Also lag es doch nahe, nach Furrowbank zu ziehen. Sie lebt dort mit ihrem Bruder.«
»Was ist das fur ein Mensch?«
»Ein schrecklicher junger Mann«, erwiderte Mrs Marchmont und fugte nach einer kleinen Pause hinzu: »Ein vollig ungehobelter Geselle.«
In Lynn flackerte Sympathie fur die junge Frau und ihren unerwunschten Bruder auf. Ich ware an seiner Stelle sicher auch ungehobelt, ging es ihr durch den Kopf.
»Wie hei?t er denn?«
»Hunter. David Hunter«, gab die Mutter Auskunft. »Es scheinen Iren zu sein. Naturlich keine Familie, von der man jemals gehort hat. Sie war verwitwet und hie? Mrs Underhay. Es liegt mir nichts ferner, als hartherzig zu sein, aber man muss sich doch fragen, was fur eine sonderbare Witwe das ist, die mitten im Krieg von Sudamerika dahergereist kommt. Unwillkurlich folgert man daraus, dass sie herumreiste, um sich einen reichen Gatten einzufangen.«
»Was ihr – wenn du Recht haben solltest – ja auch gelungen ist«, bemerkte Lynn.
Mrs Marchmont seufzte.
»Dabei war Gordon stets so auf der Hut. Nicht, als ob die Frauen nicht stets hinter ihm her gewesen waren. Erinnerst du dich noch an diese letzte Sekretarin? Mein Gott, wie hat sich das Madchen an ihn gehangt. Sie war sehr tuchtig, aber er musste sie sich vom Hals schaffen.«
»Vermutlich gibt es fruher oder spater immer ein Waterloo.«
»Zweiundsechzig ist eben ein gefahrliches Alter«, fuhr Mrs Marchmont fort. »Und in Kriegszeiten, scheint mir, ist alles besonders schwierig vorauszusehen. Ich kann dir nicht schildern, welche Aufregung sein Brief aus New York bei uns ausloste.«
»Was hat er denn eigentlich geschrieben?«
»Der Brief war an Frances adressiert. Ich denke, weil Gordon fur Frances’ Erziehung gesorgt hatte, hielt er sie fur am ehesten verstandnisbereit. Er schrieb, wir wurden sicher alle sehr uberrascht sein, dass er sich so plotzlich wieder verheiratet habe, aber er sei sicher, dass wir sehr bald Rosaleen – was fur ein verruckter Name, findest du nicht? So theatralisch! –, also dass wir sie bald lieb gewinnen wurden. Sie hatte ein schweres Leben gehabt und trotz ihrer Jugend schon viel Bitteres erleben mussen, und es sei bewunderungswurdig, wie sie sich allen Schicksalsschlagen zum Trotz bisher im Leben behauptet habe. Und Gordon fuhr fort, wir sollten ja nicht annehmen, dass dies in seinen Beziehungen zur Familie die geringste Lockerung bedeute. Nach wie vor fuhle er sich fur unser aller Wohlergehen verantwortlich.«
»Aber er verfasste nach seiner Heirat kein Testament?«, fragte Lynn.
»Nein.« Mrs Marchmont schuttelte den Kopf. »Das letzte Testament, von dem wir wissen, stammt aus dem Jahr 1940. Die Einzelheiten sind mir unbekannt, aber er sagte uns damals, wir sollten uns keine Gedanken machen, es ware fur uns alle gesorgt, falls ihm etwas zustie?e. Durch seine Heirat ist dieses Testament naturlich gegenstandslos geworden. Ich bin uberzeugt davon, dass es seine Absicht war, ein neues aufzusetzen nach seiner Heimkehr. Aber es kam nicht mehr dazu. Er starb am Tag nach seiner Ankunft.«
»Und jetzt fallt alles Rosaleen in den Scho??«
»Ja, weil das alte Testament durch die Heirat ungultig geworden ist.«
Lynn versank in Schweigen. Sie war kein besonders materiell eingestellter Mensch, dass ihr aber diese unerwartete Veranderung der Situation zu denken gab, war schlie?lich nur menschlich.
Die Entwicklung der Dinge entsprach sicher nicht Gordon Cloades Planen. Den Lowenanteil seines Vermogens hatte er vermutlich seiner jungen Frau vermacht, aber seine Familie ware nicht leer ausgegangen, besonders nachdem er immer und immer wieder versichert hatte, dass fur alle gesorgt sei. Es bestehe kein Anlass fur sie zu sparen, hatte er stets wiederholt, und sie selbst war Zeuge gewesen, wie er zu Jeremy sagte: »Wenn ich sterbe, wirst du reich sein.« Und Lynns Mutter hatte er geraten: »Bleib in eurem Haus. Es ist dein Heim. Wegen Lynn mach dir keine Gedanken. Ich ubernehme die Verantwortung fur sie, das wei?t du. Es ware mir schrecklich, wurdest du aus Sparsamkeitsgrunden umziehen. Schick die Rechnungen fur alle Reparaturen mir.« Rowley hatte er zum Kauf der Farm ermutigt; Antony, Jeremys Sohn, war nur auf Gordons Drangen hin seinem heimlichen Wunsch gefolgt, die militarische Laufbahn einzuschlagen. Der wohlhabende Onkel hatte ihm allmonatlich ein reichliches Taschengeld zukommen lassen. Und Lionel Cloade war durch seinen Bruder veranlasst worden, einen Gro?teil seiner Zeit wissenschaftlichen Forschungen, die kaum etwas einbrachten, zu widmen und seine Praxis dementsprechend zu vernachlassigen.
Lynns Gedankengang wurde wieder durch ihre Mutter unterbrochen. Mit zitternden Lippen wies Mrs Marchmont auf ein Bundel Rechnungen.
»Schau dir das an«, klagte sie. »Was soll ich nur machen? Wie um Himmels willen soll ich diese Rechnungen jemals bezahlen? Von der Bank habe ich heute Morgen einen Brief bekommen, mein Konto sei uberzogen. Ich verstehe das gar nicht. Ich bin doch so sparsam. Wahrscheinlich bringen meine Anlagen kaum mehr etwas. Und dann sind da naturlich diese schrecklichen Steuern und au?erordentlichen Abgaben – Kriegsschadensteuer und so weiter. Man muss zahlen, ob man will oder nicht.«
Lynn uberflog die Rechnungen. Es befand sich wirklich keine unnotige Ausgabe darunter. Dachziegel, Installation des langst benotigten neuen Kuchenboilers, eine Reparatur der Wasserleitung – alles zusammen ergab einen betrachtlichen Betrag.
»Wir mussten naturlich hier ausziehen«, erklarte Mrs Marchmont mit wehleidiger Stimme. »Aber wo sollen wir hin? Es gibt einfach kein kleines Haus, das in Frage kame. Ach, es ist mir wirklich schrecklich, dass ich dich mit diesen Dingen behelligen muss, Lynn, wo du kaum heimgekommen bist, aber ich wei? mir keinen Rat. Ich wei? mir beim besten Willen keinen Rat.«
Lynn musterte ihre Mutter. Mrs Marchmont war nun uber sechzig und ihr Leben lang nicht besonders widerstandsfahig gewesen. Wahrend des Krieges hatte sie Evakuierte aus London bei sich aufgenommen, hatte fur sie gekocht und sich um sie gekummert, uberdies bei der Schulfursorge mit angepackt, Marmelade fur die Wohlfahrtsempfanger gekocht und. an die vierzehn Stunden am Tag gearbeitet, sehr im Gegensatz zu ihrem sorglosen, bequemen Leben vor dem Krieg. Lynn sah ihr an, dass sie nun am Ende ihrer Kraft und einem volligen Zusammenbruch nahe war.
Der Anblick der uberarbeiteten, muden Frau lie? ein Gefuhl der Erbitterung in ihr aufsteigen. Sie sagte langsam:
»Konnte diese Rosaleen uns denn nicht helfen?«
»Wir haben kein Recht, etwas zu beanspruchen«, erwiderte Mrs Marchmont errotend.
»Doch«, entgegnete Lynn hart. »Ein moralisches Recht. Onkel Gordon hat uns immer geholfen.«
»Von jemandem Hilfe zu erbitten, den man nicht besonders mag, ist nicht sehr anstandig«, entgegnete Mrs Marchmont. »Und dieser Bruder – Rosaleens Bruder, meine ich – wurde ihr niemals gestatten, auch nur einen Penny