»Im Gegenteil! Ich war fasziniert. Kein Mensch hatte mich jemals zuvor so ernst genommen. Andrerseits schien ich uberhaupt keinen Eindruck auf dich zu machen, und das reizte mich. Ich setzte mir in den Kopf, dich dazu zu, bringen, mich zu beachten.«
»Ich beachtete dich mehr als genug«, versetzte Jeremy. »Du hattest ein blaues Kleid mit einem Kornblumenmuster an. Ich schlief damals die ganze Nacht nicht und dachte nur immer an dich in deinem blauen Kleid.«
Er rausperte sich.
»Ja… das liegt alles so lange zuruck.«
Sie half ihm geistesgegenwartig, die aufkommende Verlegenheit zu uberwinden.
»Und heute sitzen wir hier, ein Ehepaar mittleren Alters, das sich in Schwierigkeiten befindet und nach einer Losung sucht.«
»Nach dem, was du mir jetzt gesagt hast, Frances, ist alles noch hundertmal schlimmer… die Schande…«
»Aber Jeremy! Streuen wir uns doch keinen Sand in die Augen. Du hast etwas getan, was mit dem Gesetz in Konflikt steht, stimmt. Moglich, dass man Anklage erhebt und dich zu Gefangnis verurteilt.« Jeremy zuckte unwillkurlich zusammen. »Aber Grund zu moralischer Entrustung haben wir trotzdem nicht. Wir sind keine so schrecklich moralische Familie. Vater war ein charmanter Mann, das steht au?er Frage, aber im Grunde doch ein kleiner Hochstapler. Na, und mein Vetter Charles, den man schleunigst in die Kolonien verfrachtete, als ein Prozess drohte, oder mein anderer Vetter Gerald, der in Oxford einen Scheck falschte und trotzdem spater das Viktoriakreuz bekam fur besondere Tapferkeit vor dem Feind – nein, Jeremy, kein Mensch ist nur gut oder nur schlecht. Dass ich selbst eine wei?e Weste habe, liegt vielleicht nur daran, dass ich nie in Versuchung geraten bin. Aber eines steht fest: Ich habe Mut, Jeremy, und lasse mich nicht so leicht zur Verzweiflung bringen.«
Sie lachelte ihm zu, und er stand auf, kam steif auf sie zu und druckte ihr einen Kuss aufs Haar.
»Jetzt lass uns einmal vernunftig miteinander reden. Was konnen wir tun?«, fuhr Frances nach kurzem Uberlegen fort. »Irgendwo Geld auftreiben?«
Jeremys Gesicht verfinsterte sich.
»Ich wusste nicht wo.«
»Es wird uns nichts anderes ubrig bleiben, als von jemandem zu borgen. Und da kommt wohl nur Rosaleen in Frage.«
Er schuttelte den Kopf.
»Es handelt sich um eine gro?ere Summe, und Rosaleen hat nicht das Recht, das Kapital anzugreifen. Sie hat nur die Nutznie?ung, solange sie lebt.«
»Ach so, das wusste ich nicht. Und was geschieht, wenn sie stirbt?«
»Dann bekommen Gordons Erben das Geld, das hei?t, es wird zwischen uns, Lionel, Adela und Maurices Sohn Rowley geteilt.«
Etwas Unausgesprochenes lag in der Luft; der Schatten eines Gedankens schien sowohl Jeremy wie Frances zu streifen.
»Das Schlimmste ist, dass wir es weniger mit ihr zu tun haben als mit ihrem Bruder. Sie steht vollig unter seinem Einfluss«, bemerkte Frances nach kurzer Pause.
»Ein wenig anziehender Bursche«, sagte Jeremy.
Ein unvermitteltes Lacheln uberflog Frances’ Gesicht. »Im Gegenteil, er ist sogar sehr anziehend. Auffallend anziehend, und – wie mir scheint – ein bedingungsloser Draufganger. Aber das bin ich im Grunde auch.«
Ihr Lacheln fror gleichsam ein.
»Wir geben uns nicht geschlagen, Jeremy. Es muss einen Ausweg geben. Ich werde ihn finden, und wenn mir nichts anderes ubrig bleibt, als das Geld aus einer Bank zu stehlen.«
4
»Geld!«, sagte Lynn.
Rowley Cloade nickte bedachtig. Er war ein kraftig gebauter junger Mann mit gesunder, von der Landluft gebraunter Haut, nachdenklichen blauen Augen und sehr hellem Haar. Das Gemessene in seiner Sprechweise und seinem Gehaben schien eher einer angenommenen Gewohnheit als naturlicher Veranlagung zu entsprechen. Wie manche Leute sich durch Schlagfertigkeit hervortun, fiel Rowley durch seine bedachtsame Art auf.
»Ja, heutzutage scheint sich wirklich alles nur noch um Geld zu drehen«, erwiderte er.
»Aber ich habe immer gedacht, wahrend des Krieges sei es den Farmern ausgezeichnet gegangen«, versetzte Lynn.
»Stimmt. Aber das nutzt auf die Dauer nichts. In einem Jahr stehen wir wieder da, wo wir angefangen haben. Die Lohne werden gestiegen sein, es wird Arbeitskraftemangel herrschen, und niemand wird wissen, was. er eigentlich will. Wenn man eine Farm nicht in gro?em Stil betreiben kann, steht das Risiko in keinem Verhaltnis zum Erfolg. Das wusste Gordon, und deshalb war er bereit, mir zu einem richtigen Start zu verhelfen.«
»Und jetzt…«, sagte Lynn vage.
»Jetzt fahrt Mrs Gordon nach London und gibt ein paar Tausender fur einen hubschen Nerzmantel aus.«
»Es ist eine Gemeinheit.«
»O nein, Lynn.« Rowley lachelte. »Ich hatte nichts dagegen, konnte ich dir einen Nerzmantel kaufen.«
»Wie ist sie eigentlich, Rowley?«
»Du wirst sie heute Abend ja mit eigenen Augen sehen. Onkel Lionel und Tante Kathie haben sie eingeladen.«
»Ich wei?, aber ich mochte horen, was du von ihr haltst. Mama behauptet, sie sei geistig zuruckgeblieben.«
Rowley uberlegte sich seine Antwort grundlich, bevor er erwiderte:
»Ihr Intellekt ist sicher nicht ihre starkste Seite, aber geistig zuruckgeblieben ist sie auch nicht. Sie wirkt nur manchmal so einfaltig, weil sie standig auf der Hut ist.«
»Auf der Hut? Wovor?«
»Ach, vor allem. Davor, sich durch ihren Akzent lacherlich zu machen, davor, bei Tisch das falsche Messer zu nehmen, davor, sich in einem Gesprach zu blamieren.«
»Ist sie wirklich vollig ungebildet?«
Rowley schmunzelte.
»Der Prototyp einer Dame ist sie bestimmt nicht, wenn du das damit sagen willst. Sie hat hubsche Augen, sehr schone Haut und ist – sehr schlicht. Ich denke mir, dass gerade ihre Einfachheit Gordon den Kopf verdreht hat. Ob sie sich diese Schlichtheit nur zugelegt hat, wei? man naturlich nicht. Aber ich glaube nicht. Man kann es nicht recht beurteilen. Sie steht im Allgemeinen nur da und lasst sich von David dirigieren.«
»David?«
»Ja, das ist ihr Bruder. Er ist bedeutend weniger unverfalscht als sie. Ich traue ihm jede Gerissenheit zu, die man sich denken kann. Uns liebt er nicht besonders.«
»Das kann man ihm nicht ubel nehmen«, entfuhr es Lynn, und als Rowley sie erstaunt ansah, fugte sie hinzu: »Ihr konnt ihn doch auch nicht leiden.«
»Ich bestimmt nicht, und dir wird es nicht anders gehen. Er gehort nicht zu den Leuten, die uns liegen.«
»Wie willst du wissen, wer mir liegt und wer nicht, Rowley? Mein Horizont hat sich in den letzten Jahren erweitert.«
»Du hast mehr von der Welt zu sehen bekommen als ich, das ist wahr.«
Rowleys Stimme klang ruhig, aber Lynn sah trotzdem prufend zu ihm hinuber. Die Bemerkung war nicht so bedeutungslos gewesen, wie sie sich angehort hatte. Lynn spurte den Unterton. Doch Rowley wich ihrem prufenden Blick nicht aus. Es war nie einfach gewesen, die Gedanken hinter Rowleys glatter Stirn zu lesen, dachte Lynn. Was