linken Flugel seines Hauses hoch, uber dem in strahlender Sonne die Zwiebelkuppel glanzte. Er stie? die Fenster auf, lie? Luft und Licht in den Raum, ging dann zu einem mit rotem Samt bezogenen, geschnitzten und vergoldeten Sessel und setzte sich hinein. Er hatte die Generalsuniform der zaristischen Garde angelegt, stutzte sich auf einen Stock aus spanischem Rohr mit einer in Elfenbein geschnittenen Krucke und starrte mit stolzem Blick um sich.

Um ihn herum schimmerten, glitzerten und leuchteten die Wande aus Bernstein wie tausende kleine Sonnen. Die Girlanden funkelten, die Simse und Friese warfen vielfach gebrochen das Sonnenlicht zuruck, die Kopfe der Engel, Krieger und Blutenmadchen schienen im Wechselspiel von Sonne und Schatten lebendig zu werden. So ungeheuer war der goldene Glanz des» Sonnensteins «im Licht von Mississippi, so leuchtend das Farbenspiel der Bernsteinmosaike, da? Joe Williams ab und zu die Augen schlie?en mu?te, um nicht geblendet zu werden.

Fast zwei Stunden sa? er in dem Prunksessel mitten im Bernsteinzimmer, jeden Tag, seit uber zwanzig Jahren, den spanischen Stock zwischen die Knie geklemmt, die Hande zu Fausten geballt auf den Lehnen, und blickte durch die Fenster hinaus uber das Meer, das in sanften Wellen gegen den feinsandigen Strand lief.

Mein Petersburg. Das Meer mit den stolzen Schiffen, deren Segelmaste hoch in den Himmel stie?en, der Atem der Freiheit, der mit dem Wind uber das Land strich, die gottliche Ruhe des Bernsteinzimmers, in das man fluchtete, wenn das Herz voll und die Gedanken uberladen waren, mein Reich, mein Ru?land, meine eigene Welt, von mir erschaffen… So uberwaltigend war es, da? Joe Williams jedes Mal die Augen schlo?, die Fauste gegen die Brust pre?te und das Gefuhl hatte, an seinem Gluck zu ersticken.

Nach einer Stunde schweigenden Sitzens begann Joe zu sprechen. Ab und zu stand er auch auf, ging die sonnenglanzenden Bernsteinwande entlang, blieb vor den eingelassenen Spiegeln stehen und betrachtete sich. Dann hob er auch hin und wieder die Hand, um einen Kopf zu streicheln, eine Rosette mit den Fingern nachzuziehen oder eine Girlande zu verfolgen, und dabei sprach er in wurdevollem Ton mit sich selbst, mit seinem russischen Volk, mit Gott sogar und hinaus in alle Welt.

«Ich habe die Pflicht«- sagte er einmal und blickte hinauf zu dem Kopf eines sterbenden Kriegers —»fur mein Volk zu leben, aber auch fur mein Volk zu sterben, wenn es ihm nutzt. Solange es eine schwedische Flotte gibt und ich nicht Herr der Ostsee bin, finde ich keinen Schlaf. Ein gro?es Heer habe ich aufgebaut, das starkste der Welt, selbst die Preu?en sind mir unterlegen… aber ich mu? mehr tun fur meine Flotte. Ich mu? bauen, bauen, bauen… Und an Sibirien mu? ich denken. Was wei? man von Sibirien? Wieviel unbekanntes Land gibt es dort noch. Helft mir, ihr guten Geister, das Werk zu vollenden. «Nach zwei Stunden schlo? er die Fenster wieder, lie? die Jalousien herunter, verriegelte die Tur, hangte sich den Schlussel um den Hals, zog die Generalsuniform und die langen Gummistiefel an und ging hinunter zum Meer, wo in einer kleinen Sandbucht seine» Flotte «ankerte. Es waren Holzschiffe, wie sie zur Zeit Peter des Gro?en gebaut wurden, voll unter Segel, jedes ungefahr einen Meter funfzig lang und entsprechend hoch im Mast, eine stolze Armada, bereit, den Schweden die Ostsee wegzunehmen. Und dann schob er die Schiffe ins Meer, dirigierte sie mit einem langen Stab hin und her, lie? sie in Kiellinie laufen, in breiter Angriffsfront und in Rammposi-tionen.

Je alter er wurde, um so wunderlicher wurde er. David Hoven, der Feuerwehrkommandant, der viel Zeit hatte, denn in Whitesands hatte es seit vierzehn Jahren nicht mehr gebrannt und sein Beruf als Schlossermeister strapazierte ihn auch nicht uberma?ig, der also viel angeln ging und stundenlang auf einer Holzmole am Meer sa? und Ron Calling mit seinen Schiffen beobachtete, erzahlte seiner Frau Lornie regelma?ig, was der Alte wieder an neuen Marotten erfunden hatte.

«Gestern ist ein Schiff von ihm verbrannt«, sagte er.»Wirft der Idiot eine Fackel in den Kahn, und als der naturlich sofort in Flammen aufgeht, springt er im Meer herum, rauft sich die Haare, steht dann stramm und gru?t, als das Schiff untergeht. Und dann«- Hoven holte tief Luft —»ging er ans Ufer, breitete die Arme weit aus und schrie die Sonne an. Was, konnte ich nicht verstehen, aber eine Stimme hatte er dabei, eine Stimme sag ich dir. Als wenn du auf Metall schlagst! Es dauert nicht lange, da ist er vollig ubergeschnappt. Ware verdammt schade, wenn wir ihn in eine Anstalt bringen mu?ten.«

Auch Reverend Killroad war uber den Verfall seines Altarspenders besturzt. Beim letzten Besuch auf der Terrasse hatte Calling gesagt:»Ich komme nicht weiter. Ich komme nicht weiter! Die schwedische Flotte weicht mir aus. Es kommt zu keiner Schlacht. Wie kann ich einen Sieg erringen, wenn ich keinen Gegner finde?!«

«Das ist wirklich ein Problem«, hatte der Reverend geantwortet.»Es hat noch nie was eingebracht, gegen Schatten zu kampfen.«

«Schatten. Das ist es, John. Schatten. Uberall Schatten. Die Welt wird immer dunkler… Schatten! Wer nimmt die Schatten weg?«

Killroad hatte sich daraufhin schnell wieder verabschiedet, war zu Dr. Simson, einem Psychiater, gefahren und hatte ihn gefragt, wann ein Irrer soweit sei, da? man ihn in einem Heim betreuen musse. Dr. Simson, durch den taglichen Umgang mit geistig Verwirrten zum Zyniker geworden, hatte Killroad angesehen mit dem forschenden Blick eines Seelenkenners und dann gefragt:

«Mann oder Frau?«

«Mann.«

«Wie alt?«»Ich glaube siebenundsechzig…«

«Kein Alter… wird er kindisch?«

«Nein.«

«Lauft er mit einem Beil herum und will jeden erschlagen?«

«Im Gegenteil, er ist der friedlichste Mensch, den ich je kannte. Ein stiller Traumer, der nicht einmal eine Fliege toten konnte…«

«Debil ist er also?«Dr. Simson schuttelte den Kopf.»Wir alle sind mehr oder weniger debil, Reverend. Wir merken es blo? nicht. Solange der Mann noch fur sich sorgen kann und nicht uber die Wiese kriecht und Gras fri?t, sehe ich keinen Grund, ihn in einer Anstalt restlos fertigzumachen. Zufrieden?«

«Nein, Doktor. «Killroad verlie? die Praxis mit dem Gedanken, da? sich Nervenarzte mit den Jahren doch immer mehr ihren Patienten anglichen. Ron Calling war ein schwerkranker Mann, das war fur ihn sicher, aber keiner konnte ihn zwingen, zu einem Arzt zu gehen. Ein jeder Mensch hat ein Recht auf seinen eigenen Korper und sein Leben.

Es war der 10. Oktober 1987, als uber alle Rundfunksender die Sturmmeldung gebracht wurde: Ein Orkan mit 200 km Geschwindigkeit raste auf die Kuste zu. Auch in Whitesands rechnete man mit Schaden, schlug Bretter vor die Schaufenster, lie? die Autos in der Garage, brachte alles Bewegliche im Haus in Sicherheit… mehr konnte man nicht tun. Nur noch weglaufen, aber das war nicht die Art der Whitesandser. Sie krempelten die Armel hoch.

Um elf Uhr vormittags hatte der Sturm die Kuste erreicht. Ein lautes Heulen war in der Luft, der Himmel wurde bleigrau, die Palmen bogen sich, und die ersten Blechdacher von Schuppen wirbelten durch die Luft. Vom Strand wehte der feine, wei?e Sand wie eine riesige Wolke uber Hauser und Hugel und deckte vor allem das Haus von Ron Calling zu, das jetzt mitten im Sturm lag.

Nur eine halbe Stunde nach Ausbruch des Orkans kam das Meer. Wellen so hoch wie Hauser, donnerten gegen die Kuste und begruben und zerschlugen alles, was sich ihnen in den Weg legte. Ein einziger Wirbel war es, ein Heulen und Kreischen, ein Donnern der niedersturzenden Wogen, und gewaltig zog sich ein Vorhang aus Sand, Erde, weggerissenen Buschen und im Sturm schwebenden Baumen zwischen Meer und Himmel hoch.

Joe Williams sa? zusammengekauert auf seinem Prunksessel im Bernsteinzimmer, hatte die Jalousien hochgezogen, aber die Fenster geschlossen gehalten. Auf den spanischen Stock gestutzt, starrte er auf das Inferno vor sich, auf den Flugsand, auf die herandonnernden Wellen, auf die sich biegenden oder mit der Wurzel herausgerissenen Palmen und Baume, auf die gro?e Platane, die mitten im Stamm wie von einem Riesen abgedreht wurde, und auf die Schindeln, die von der hohen Mauer wie Geschosse durch die Gegend flogen.

Gegen ein Uhr mittags stemmte sich Joe Williams aus dem Sessel hoch, ging, auf den Zarenstock gestutzt, zu dem mittleren Fenster und blickte hinuber zu der kleinen Bucht, in der die» russische Flotte «ankerte. Die Riesenwellen hatten die Bucht nicht nur uberspult, sondern vollig zerstort. Es gab keine Bucht mehr, sondern nur noch eine wild ausgezackte Kuste, die nach jeder Welle ihre Form veranderte und vom Meer gefressen wurde.

«Meine Schiffe…«, stammelte Joe.»Meine Flotte… meine schone Flotte… Ich habe keine Schiffe mehr…«

Er sprang zuruck ins Bernsteinzimmer, raste dann aus dem Raum, ri? die Haustur auf, und sofort erwischte ihn der Sturm, hieb wie eine Faust auf ihn ein, schleuderte ihn gegen die Mauer und jagte ihn dort kreiselnd

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