Doch er blieb stehen, bi? nur die Zahne zusammen und schlo? die Augen bis auf einen Schlitz. Als der rollende Tod nahe vor ihm knirschend und scheppernd bremste und stehenblieb und aus der Turmluke der Kopf des Kommandanten, ein junger Leutnant war's, auftauchte, atmete Wechajew tief durch und sandte wieder einen Gedanken an das Schicksal. Danke, sagte er lautlos. Danke, Schicksal. Jetzt wei? ich, was das hei?t, dem Tod ins Auge zu schauen. Nie werde ich das vergessen, wenn ich diesen Krieg uberlebe. Nie.

Eine Panzertruppe kann mit Gefangenen wenig anfangen. Wohin mit ihnen? Sie im Panzer mitzunehmen, ist unmoglich. Zur Bewachung einige Soldaten zurucklassen… ebenfalls unmoglich, denn bei der Besatzung eines Panzers ist kein Mann zuviel, jeder hat seinen Platz und seine Aufgabe. Wechajew uberlegte noch, als der junge deutsche Leutnant schon aus seinem Turm kletterte und von hinten ein Mann gelaufen kam, nicht in Uniform, sondern in Zivil. Den Russen sah man ihm sofort an. Er trug eine Schirmmutze, einen labberigen Anzug, derbe Stiefel und uber der Hose ein weites, blaues Hemd, so wie viele Bauern herumliefen, wenn sie sich sonntags besonders fein gemacht hatten.

Wechajew zog die Brauen zusammen, starrte den Landsmann bose an, behielt aber die Hande noch immer hochgestreckt uber dem Kopf. Der Russe, etwa um die Sechzig herum, stellte sich neben den Offizier und wartete. Die Deutschen hatten ihn einfach als Dolmetscher mitgenommen, als sie erfuhren, da? Stepan Fjodorowitsch Piwojanow — so hie? er — ihre Sprache verstand. Er hatte von 1927 bis 1932 in Ostpreu?en auf einem Gut gearbeitet und hatte dort nicht nur deutsch sprechen, sondern auch wild fluchen gelernt. Was ein ostpreu?ischer Bauer ist, hat viele derbe Worte.

Wechajew rumpfte die Nase und beherrschte sich, nicht vor Piwojanow auszuspucken. Mit dem Feind kollaboriert er, zieht mit den Eroberern mit, dolmetscht, was sie befehlen, verrat Vaterland und Bruder, Mutter, Vater und Schwestern, nur, um mit den Deutschen sorglos zu fressen und vielleicht auch noch einiges Beutegut zu kassieren. Welch ein triefaugiges Schweinchen! Verrater uberall. Wechajew dachte an die dreckige Spionin aus der Erdhohle und bekam einen schnelleren Atem.

«Nun sag nur, du Rattengeschwur, was der Faschist will!«knurrte Wechajew und sah dabei den Leutnant so harmlos an, als habe er eine freundliche Begru?ung gesprochen.

Der Leutnant verstand naturlich nichts, aber ein Wort verstand er dem Klang nach sehr gut: Faschist. Das ist international. Er spreizte die Beine und klemmte die Daumen zwischen Gurtel und Leib.

«Wenn er noch einmal Faschist sagt, knall ich ihm die Nase nach hinten«, sagte der junge Leutnant.»Los, ubersetz es ihm!«

Stepan Fjodorowitsch tat seine Pflicht und wederholte es auf russisch. Wechajew war kaum beeindruckt, er schluckte nur seine Wut herunter.

«Ubersetz — «sagte der Leutnant wieder.»Ihr seid jetzt Gefangene und marschiert die Stra?e weiter nach Suden. Deutsche Infanterie folgt uns in drei Kilometern. Bei ihr meldet ihr euch. Weglaufen hat keinen Sinn, wir finden euch doch. Und besorgt euch keine Zivilkleider! Ihr werdet namlich dann wie Partisanen behandelt und sofort erschossen. Als Soldaten konnt ihr uberleben.«

Piwojanow ubersetzte es flei?ig, Wechajew lie? die Arme sinken und leckte sich uber die Lippen.

«Bleibst du hier und begleitest uns?«fragte er dann den Dolmetscher.

«Nein. Ich mu? mit ihnen weiterfahren.«

«Ein Jammer! Wirklich ein Jammer! Wir hatten dich in der nachsten Stunde so gerne aufgehangt.«

«Was sagt er?«fragte der junge Leutnant mi?trauisch.

«Er wird dem Befehl gehorchen, Herr Offizier. «Piwojanow wunschte sich plotzlich, moglichst schnell wieder auf den sicheren Panzer zu kommen.»Er wird mit seiner Mannschaft zu Ihrer Infanterie marschieren.«»Sehr gut. «Der junge Offizier winkte. Drei seiner Panzerschutzen kamen nach vorn, im Arm eine Anzahl Handgranaten. Mit steinernem Gesicht sah Wechajew, wie sie die Motorhauben der Lastwagen hochdruckten, dann den Deckel schnell zuwarfen und zur Seite sprangen. Mit einem dumpfen Gedrohn explodierten die Handgranaten. Es ri? die Hauben wieder auf, Motorteile wirbelten durch die Luft, die Wagen vier, sechs und sieben fingen sofort Feuer und standen sekundenschnell in hellen Flammen. Wechajews Leute warfen sich sofort zu Boden und rollten sich von der Stra?e. Mit ohrenbetaubendem Krachen zerplatzte der Wagen sieben, eine unertragliche Hitze wehte von den brennenden Wagen zu Wechajew hin.

Der Leutnant winkte von neuem.»Aufsitzen!«schrie er seinen Mannern zu. Piwejanow senkte den Kopf und starrte Wechajew von unten an.

«Auch ich bin ein Kriegsgefangener«, sagte er, wie um Entschuldigung bittend.»Machen mit mir, was sie wollen. Soll ich mich erschie?en lassen? Eine gute Frau habe ich, neun Kinderchen, drei Sohnchen sind in Leningrad, um es zu verteidigen. Was soll ich tun? Bin ein armer Mensch, Genosse. Du wirst's besser haben, bestimmt wirst du's besser haben. Kommst in ein Lager, hast zu essen, hast Ruhe. Direkt beneiden kann man dich.«

«Zur Holle fahre!«sagte Wechajew dumpf und verzog verachtlich den Mund.»Bist nicht wert, da? jemand vor dir ausspuckt. Nicht mal anpissen mochte ich dich… ist gute, reine sowjetische Pisse, viel zu schade fur dich.«

Er trat von der Stra?e weg zur Seite, sah finster zu, wie die deutschen Panzersoldaten wieder in ihre stahlernen Ungeheuer kletterten, die Luken schlossen und Piwojanow nach hinten zum letzten Gefahrt lief, wo er seinen Platz neben der Kanone hatte. Dann donnerten die schweren Motoren auf, die Panzer fuhren an, walzten auf die zerstorten Lastwagen zu, schoben sie von der Stra?e, sturzten sie um und zermalmten die Aufbauten. Als der letzte Panzer mit dem darauf hockenden Piwojanow an Wechajew vorbeiratterte, starrten sie sich noch einmal ha?erfullt an, und Piwojanow hatte weinen konnen uber so viel Schande. Aber er durfte weiterleben mit der Hoffnung, einmal seine neun Kinder wiederzusehen, vor allem seine drei Sohnchen, die in den Graben und Bunkern vor Leningrad auf die Deutschen warteten und die Stadt Leningrad nicht hergeben wollten.

Wechajew versammelte seinen Truppe wieder um sich. Die deutschen Panzer waren im Wald verschwunden, nur noch das Rasseln der stahlernen Raupenketten lag in der Luft. Die Lastwagen lagen brennend links und rechts der Stra?e, ein Bild, das Wechajews Herz bluten lie?.

«Genossen — «, sagte er mit ernster, aber dumpfer Stimme.»Gehort habt ihr's. Deutsche Infanterie folgt den Panzern, in einer Stunde konnen sie hier sein. Zeit genug, um uns zu entscheiden. Wer will, kann weglaufen und sich verstecken. Unser Auftrag ist vorbei. Jeder kann tun, was er will.«

«Ein guter Gedanke ist's, wegzulaufen. «Der Sergeant Jemel-jan Mironowitsch Sotow rieb sich mit beiden Handen unschlussig die Stirn.»Aber bekommen sie uns dann, wird man uns erschie?en. Als Partisanen. Ganz sicher ist das. Lew Semjonowitsch, was wirst du tun?«

Wechajew hatte sich bereits entschieden.»Ich bleibe auf der Stra?e und gehe den Faschisten entgegen«, antwortete er.»Ein lebender Russe, wenn auch in Gefangenschaft, ist wichtiger als ein toter Held. Einmal wird die Zeit kommen, Rache zu nehmen. Darauf warte ich.«

«Also denn, liebe Freunde, denken wir auch so. «Sergeant Sotow schlug die Fauste gegeneinander.»So ist es: Leben ist wichtiger als ein verfaulender, durchlocherter Korper zu sein. Irgendwann vielleicht sehen wir Piwojanow wieder und holen nach, was er verdient hat. Wohnt ja hier in dieser Gegend. Ist leicht zu finden, das verraterische Vaterchen mit seinen neun Kinderchen. Wird die Rechnung bezahlen mussen. Gehen wir also.«

Mit Wechajew an der Spitze marschierten sie los, mitten auf der Stra?e, nachdem sie ihre Waffen weggeworfen hatten und somit kein kampfender Feind mehr waren. Knapp Dreiviertelstunden zogen sie durch den Wald, traten hinaus auf ein weites Feld von Spatkartoffeln, uber dem schreiend und krachzend ein Schwarm Krahen flatterte. Eine fahle Sonne schien und saugte die Feuchtigkeit vom letzten Regen aus den Furchen.

Als der erste kleine, offene, braungrun gespritzte deutsche Wagen ihnen entgegenkam — es war ein sogenannter Kubelwagen, wie sie im Volkswagenwerk gebaut wurden —, hob Wechajew die Hand, und sie blieben stehen.

Der Wagen hielt, zwei Offiziere sprangen auf die Stra?e, Pistolen in den Handen, wahrend der Fahrer mit einem Maschinengewehr auf sie zielte.»Hoch!«befahl Wechajew, und wie fur ein Ballett einstudiert, schnellten alle Arme in die Luft. Der erste deutsche Offizier, ein Major, lachte laut und lie? seine Pistole sinken.

«Die Helden werden rar«, sagte er zu dem zweiten Offizier, einem Hauptmann.»Sehen Sie sich blo? diese Visagen an! Wenn das so weitergeht, werden wir in ein paar Tagen in der Newa baden konnen.«

Wie zuvor der junge Panzerleutnant verstand Wechajew nun auch nichts weiter als ein Wort. Aber es genugte ihm.

Die Newa, dachte er. Ihre Seitenarme und Kanale, die Leningrad durchzogen. Das Venedig des Ostens. Er sah die Brucken und Bruckchen in ihrer einmaligen Schonheit vor sich, die Palais der ehemaligen Fursten und Zarengunstlinge, das Winterpalais, die Admiralitat, die Kirchen und Kathedralen, den Newskij-Prospekt, die breite

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