«Sie nestelte unter dem Umhang einen Zettel hervor und gab ihn Otto Heinrich. Ihre Hande waren lang, schmal und blaugefroren.»Sie mochten es sofort mischen, Herr Apotheker. Der Doktor wartet.«

Kummer nahm das Rezept mit zur Lampe und las die kritzelige Schrift. Es war ein Narkotikum, vorsichtig dosiert, gefahrlich in gro?eren Mengen.

«Das Rezept steht unter dem Giftgesetz«, sagte Otto Heinrich und fuhlte bei dem Wort Gift einen merkwurdigen Schauder.»Ich darf es nur geben, wenn Sie mir durch einen amtlichen Ausweis bekannt sind.«

Die junge Frau stammelte etwas und schuttelte den Kopf.

«Ich bin aus einem Dorf bei der Stadt. Mit dem Wagen bin ich uber die Stra?e gehetzt wie der wilde Jager. Mein Kind, Herr Apotheker, es stohnt so… es walzt sich im Bett. Mit Krampfen! Herr Apotheker, da dachte ich nicht an Ausweise. Helfen. dachte ich nur. helfen, und der Doktor wartet und sagt, es sei schlimm! Wenn ein Doktor das sagt. mu? es schlimm sein. «Und plotzlich brach sie in Weinen aus und lehnte sich an die Wand.»Helfen Sie mir, Herr Apotheker. ich bin ja ganz allein. mein Mann ist gestor-ben. Ich habe doch nur das eine Kind… helfen Sie mir… mein Kind.«

Das Weinen erstarb in einem haltlosen Schluchzen.

Otto Heinrich schwankte. Er trat an das Fenster und blickte hinaus. Am Brunnen auf dem Markt stand ein vierradriger Bauernkarren. Das Pferd in der Deichsel zitterte an allen Gliedern nach der tollen Fahrt.

«Warten Sie einen Augenblick«, sagte er zu der jungen Frau und schob ihr einen Stuhl hin.»Ich werde Ihnen die Tropfen mischen.«

«Haben Sie Dank, Herr Apotheker.«, schluchzte sie und sank auf den Stuhl.

Ein Haufchen Leid.

Eine Mutter.

Mutter.

Wie in einem Traum ging Kummer ins Laboratorium und offnete die Klappen des Giftschrankes.

Hohl stierten ihn die vielen Zeichen der Totenkopfe an. Und das Wort Mutter vor seinen Augen wurde zum grinsenden Schadel.

Mechanisch sah er auf das Rezept, zog einige Flaschen heraus, stellte die Feinwaage ein, legte die Schalchen zurecht und ma? die Mengen der Arzneien ab.

Langsam ging er dann wieder zum Giftschrank.

Bleich fiel das Mondlicht auf die Totenkopfe.

Sie schienen zu leben.

Aus ihren Augenhohlen leuchtete es schwach.

Gebannt sank Otto Heinrich auf den Stuhl und starrte auf die Flaschen.

«Was wollt ihr?«flusterte er.»Ruft ihr mich?«Seine Stimme war heiser und hohl, als sprache sie in einem weiten, leeren Raum.»Konnt ihr nicht langer warten.?«Er tastete mit den Blicken uber die Totenkopfe, zitternd bewegten sich seine Lippen.»Wie schon ihr seid.«, flusterte er endlich und lachelte.

Gift. Gift. Hunderte Gifte.

Cyan. Urari. Curare. Belladonna. Kleesalz. Gift!

Mit zitternden Handen griff er nach einer Flasche.

Was stand auf dem Rezept. Belladonna. 0,02. Belladonna.

Die Etiketten verschwammen vor seinen Augen, eine bleierne Mudigkeit, fast eine Lahmung druckte ihn herab.

Ein wilder Wirbel zuckte vor seinem Blick. Cyan. Kreosot. Belladonna. Kleesalz. Oxalsaure. Ein Wirbel, ein toller Wirbel. die Flaschen tanzten durcheinander.

Mit gro?er Anstrengung griff Kummer aus dem Tanz der Flaschen Belladonna.

Er wog die Menge ab, gewissenhaft, exakt.

0,02 g.

Er mischte die Arzneien, schuttelte sie und tropfte die Flussigkeit in eine Flasche.

Eine wurgende Ubelkeit druckte ihm auf den Magen.

Achtlos schob er die Flasche Belladonna zur Seite und verpackte die fertige Medizin. Das Rezept legte er in den Giftkasten.

Dann trat er wieder in den Laden, gab der jungen Frau das Flaschchen und wunschte dem Kind gute Besserung.

«Wie soll ich Ihnen danken?«schluchzte die Frau und trat auf die Stra?e. Eisige Luft stromte in den Laden.»Wenn Sie jemals ein Kind besitzen werden, werden Sie wissen, was Dankbarkeit ist.«

Sie eilte zu dem Wagen, sprang auf den Bock und schnalzte laut mit der Zunge.

Hart zog das Pferd an und jagte mit dem klappernden Wagen uber den Markt.

Erst als er am Ende der Hauptstra?e in der Nacht verschwamm, trat Otto Heinrich in den Laden zuruck und schlo? sorgsam die Tur.

Der Druck in seinem Gehirn hatte nachgelassen, nur die Glieder waren noch schwer wie Blei.

Er stellte den Stuhl wieder an die Wand und ging dann ins Laboratorium.

Bedachtig wusch er die Schalen, stellte die Feinwaage unter Glas und nahm dann die Flasche Belladonna, um sie wieder in den Gift-schrank zu stellen.

Als er sie hochhob, stutzte er und drehte das Etikett zu sich herum.

Auf der Flasche stand: Curare.

Fur einen Augenblick verschwamm vor Otto Heinrich die Umwelt in einen feurigen, brennenden Nebel. Eine prickelnde Lahmung rieselte durch den Korper. Dann wurde der Nebel leichter, und wie durch einen Schleier sah er den Giftschrank geoffnet vor sich.

In der zweiten Reihe, die dritte Flasche von links, stand Belladonna!

Ein schuttelfrostartiges Zittern uberfiel ihn, schlaff sank die Hand mit der Curare-Flasche auf den Tisch. Dann zuckten die Hande empor und krallten sich vor die Augen.

«Unmoglich«, stammelte er.»Unmoglich.«

Er lie? die Arme sinken und starrte wieder auf die Flasche vor sich.

Da schrie er, gellend, tierisch, schrie und klammerte sich an den Giftschrank, schuttelte ihn und wimmerte. Er ri? das Rezept aus dem Kasten, las wohl einen Namen, aber keine Adresse. Der Arzt war bei dem Kinde, er war nicht zu erreichen, und die Mutter jagte durch die Nacht und brachte das Gift, das grauenvolle, lahmende Gift. den Tod!

Den Tod aus seiner Hand!

Da wimmerte er wieder, hilflos, ratlos. denn was nutzte ein Wagen, wenn er nicht wu?te, wo die junge Frau wohnte; und wenn er ihr nachfahren konnte — sie ware langst vor ihm da und hatte dem Kind die Medizin gegeben.

Die Medizin!

Das Gift!

Curare!

«Nein!«schrie Otto Heinrich.»Nein! Nein.«

Er sturzte auf den Giftschrank zu und ri? die Flaschen heraus. Einzeln, hintereinander schleuderte er sie in die Ecke, wo sie zerschellten und die Gifte, der tausendfache, schreckliche, entsetzliche Tod, sich zu einer Lache stinkender Flussigkeit vermahlten.

«Satan!«schrie Kummer, wenn Flasche nach Flasche zersplitter-te.»Satan! Satan!«

Dann wimmerte er wieder, irrsinnig vor Schuld und Gewissen, Entsetzen und Grauen, sah die junge Frau vor sich und horte ihre Worte:»Sie werden wissen, was Dankbarkeit ist, wenn Sie einst ein Kind besitzen.«, und trommelte wieder an den Giftschrank, ohnmachtig in Schmerz und Wut.

In der Ecke tickte hart die Uhr.

«Aufhoren!«schrie er.»Aufhoren!«

Er sprang in die Ecke und stellte sich unter das tickende Pendel, stierte auf das Zifferblatt und sah das Schleichen des gro?en Zeigers.

«Jetzt kommt sie an«, flusterte er.»Sie tritt ein, lachelt, nimmt ein Glas, offnet die Flasche, zahlt die Tropfen, eins. zwei. drei. vier. funf. sechs. sieben. acht. neun. zehn. bis zwanzig. Sie beugt sich uber das Kind, streichelt ihm uber die schwei?nassen Haare, halt das Kopfchen gerade und. und. nein. Halt! Halt!«Otto Heinrich schrie und hieb mit der Faust die Uhr herunter.»Halt! Nicht geben, nicht geben. «Wimmernd lehnte er an der

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