Er hat recht. Ich habe es auch schon fruher gemerkt. Es waren manchmal Augenblicke da, wo Isabelle mich nicht zu erkennen schien. Ich erinnere mich an das letzte Mal und trinke wutend den Wein aus. Er schmeckt mir heute nicht.
»Das ist wie ein unterirdisches Beben«, erklart der erfolgstrotzende Wernicke.»Ein Seebeben. Inseln, sogar Kontinente, die vorher da waren, verschwinden, und andere tauchen wieder auf.«
»Und wie ist es mit einem zweiten Seebeben? Geht es dann umgekehrt?«
»Es kann auch das vorkommen. Aber das sind dann fast immer andere Falle; solche, die mit zunehmender Verblodung Hand in Hand gehen. Sie haben ja die Beispiele davon hier gesehen. Wunschen Sie das fur Fraulein Terhoven?«
»Ich wunsche ihr das Beste«, sage ich.
»Na, also!«
Wernicke schenkt den Rest des Weines ein. Ich denke an die trostlosen Kranken, die in den Ecken herumstehen und -liegen, denen der Speichel aus dem Munde lauft und die sich beschmutzen.»Naturlich wunsche ich ihr, da? sie nie wieder krank wird«, sage ich.
»Es ist nicht anzunehmen. Wir hatten bei ihr einen der Falle vor uns, die geheilt werden konnen, wenn die Ursachen beseitigt worden sind. Alles ging sehr gut. Mutter und Tochter haben das Gefuhl, das manchmal durch den Tod in solchen Situationen entsteht: in einer fernen Weise betrogen worden zu sein, und so sind beide wie verwaist und dadurch enger zusammen als je vorher.«
Ich starre Wernicke an. So poetisch habe ich ihn noch nie gehort. Er meint es auch nicht ganz ernst.»Sie haben heute mittag Gelegenheit, sich davon zu uberzeugen«, erklart er.»Mutter und Tochter kommen zu Tisch.«
Ich will weggehen; aber etwas zwingt mich, zu bleiben. Wenn der Mensch sich selbst qualen kann, versaumt er so leicht keine Gelegenheit dazu. Bodendiek erscheint und ist uberraschend menschlich. Dann kommen Mutter und Tochter, und es beginnt ein plattes, zivilisiertes Gesprach. Die Mutter ist etwa funfundvierzig Jahre alt, etwas voll, belanglos hubsch und angefullt mit leichten, runden Phrasen, die sie muhelos verteilt. Sie wei? auf alles sofort eine Antwort, ohne nachzudenken.
Ich betrachte Genevieve. Manchmal, ganz kurz, glaube ich in ihren Zugen wie eine Ertrinkende das geliebte, wilde und verstorte andere Gesicht auftauchen zu sehen; aber es verschwimmt gleich wieder im Platschern des Gespraches uber die moderne Anlage des Sanatoriums, beide Damen gebrauchen kein anderes Wort, die hubsche Aussicht, die alte Stadt, verschiedene Onkel und Tanten in Stra?burg und in Holland, uber die schwere Zeit, die Notwendigkeit, zu glauben, die Qualitat der Lothringer Weine und das schone Elsa?. Nicht ein Wort von dem, was mich einst so besturzt und erregt hat. Es ist versunken, als ware es nie dagewesen.
Ich verabschiede mich bald.»Leben Sie wohl, Fraulein Terhoven«, sage ich.»Wie ich hore, reisen Sie diese Woche.«
Sie nickt.»Kommen Sie heute abend nicht noch einmal?«fragt Wernicke mich.
»Ja, zur Abendandacht.«
»Dann kommen Sie doch auf einen kleinen Trunk heruber zu mir. Nicht wahr, meine Damen?«
»Gerne«, erwidert Isabelles Mutter.»Wir gehen ohnehin zur Abendandacht.«
Der Abend ist noch schlimmer als der Mittag. Das weiche Licht trugt. Ich habe in der Kapelle Isabelle gesehen. Der Schein der Kerzen wehte uber ihr Haar. Sie bewegte sich kaum. Die Gesichter der Kranken kamen beim Klang der Orgel herum wie helle, ?ache Monde. Isabelle betete; sie war gesund.
Nachher wird es nicht besser. Es gelingt mir, Genevieve am Ausgang der Kapelle zu treffen und mit ihr ein Stuck allein vorauszugehen. Wir kommen durch die Allee. Ich wei? nicht, was ich sagen soll. Genevieve zieht ihren Mantel um sich.
»Wie kalt es abends schon ist.«
»Ja. Fahren Sie diese Woche ab?«
»Ich mochte schon. Ich war lange nicht zu Hause.«
»Freuen Sie sich?«-»Gewi?.«
Es ist nichts mehr zu sagen. Aber ich kann mir nicht helfen, der Schritt ist derselbe, das Gesicht im Dunkel, die weiche Ahnung.»Isabelle«, sage ich, bevor wir aus der Allee treten.
»Wie, bitte?«fragt sie erstaunt.
»Ach«, sage ich.»Es war nur ein Name.«
Sie verhalt einen Augenblick den Schritt.»Sie mussen sich irren«, erwidert sie dann.»Mein Vorname ist Genevieve.«
»Ja, naturlich. Isabelle war nur der Name fur jemand anderen. Wir haben manchmal daruber gesprochen.«
»So? Vielleicht. Man spricht uber so vieles«, erklart sie entschuldigend.»Da vergi?t man dies und jenes.«
»O ja.«
»War es jemand, den Sie kannten?«
»Ja, so ungefahr.«
Sie lacht leise.»Wie romantisch. Verzeihen Sie, da? ich mich nicht gleich erinnerte. Jetzt fallt es mir ein.«
Ich starre sie an. Sie erinnert sich an nichts, ich sehe es. Sie lugt, um nicht unho?ich zu sein.»Es ist so viel in den letzten Wochen vorgefallen«, sagt sie leicht und etwas uberlegen.»Da geht einem alles ein wenig durcheinander.«Und dann, um die Unho?ichkeit wieder gutzumachen, fragt sie:»Wie ist es denn weiter geworden in der letzten Zeit?«
»Was?«
»Das, was Sie von Isabelle erzahlt haben.«
»Oh, das! Nichts weiter! Sie ist gestorben.«
Sie bleibt erschreckt stehen.»Gestorben? Wie leid mir das tut! Verzeihen Sie, ich wu?te nicht…«
»Das macht nichts. Ich kannte sie auch nur ?uchtig.«
»Plotzlich gestorben?«
»Ja«, erwidere ich.»Aber so, da? sie es gar nicht gemerkt hat. Das ist ja auch etwas wert.«
»Naturlich«, sie reicht mir die Hand.»Es tut mir aufrichtig leid.«
Ihre Hand ist fest und schmal und kuhl. Sie ?ebert nicht mehr. Es ist die Hand einer jungen Dame, die einen kleinen Fauxpas gemacht und wieder geordnet hat.»Ein schoner Name, Isabelle«, sagt sie.»Ich habe meinen eigenen Namen fruher immer geha?t.«
»Jetzt nicht mehr?«
»Nein«, erwidert Genevieve freundlich.
Sie bleibt es auch weiter. Es ist die fatale Ho?ichkeit, die man fur Leute in einer kleineren Stadt hat, die man vorubergehend trifft und bald wieder vergessen wird. Ich spure auf einmal, da? ich einen schlecht sitzenden, umgearbeiteten Militaranzug trage, den der Schneider Sulzblick aus einer alten Uniform angefertigt hat. Genevieve dagegen ist sehr gut angezogen. Sie war es immer; aber es ist mir nie so sehr aufgefallen. Genevieve und ihre Mutter haben beschlossen, zuerst einmal nach Berlin zu fahren fur einige Wochen. Die Mutter ist ganz verbindliche Herzlichkeit.»Die Theater! Und die Konzerte! Man lebt immer so auf, wenn man in eine wirkliche Gro?stadt kommt. Und die Geschafte! Die neuen Moden!«
Sie tatschelt Genevieves Hand.»Wir werden uns da einmal grundlich verwohnen, wie?«
Genevieve nickt. Wernicke strahlt. Sie haben sie zur Strecke gebracht. Aber was ist es, das sie zur Strecke gebracht haben? denke ich. Ist es vielleicht in jedem von uns, verschuttet, verborgen, und was ist es wirklich? Ist es dann nicht auch in mir? Und ist es da auch schon zur Strecke gebracht worden, oder war es nie frei? Ist es da, ist es etwas, das vor mir da war, das nach mir da sein wird, etwas, das wichtiger ist als ich? Oder ist alles nur ein bi?chen tiefgrundig scheinendes Durcheinander, eine Verschiebung der Sinne, eine Tauschung, Unsinn, der wie Tiefsinn aussieht, wie Wernicke behauptet? Aber warum habe ich es dann geliebt, warum hat es mich angesprungen wie ein Leopard einen Ochsen, warum kann ich es nicht vergessen? War es nicht trotz Wernicke, als ob in einem geschlossenen Raum eine Tur geoffnet worden ware, und man hatte Regen und Blitze und Sterne gesehen?
Ich stehe auf.»Was ist los mit Ihnen?«fragt Wernicke.»Sie sind ja unruhig wie -«Er halt ein und fahrt dann