Er drehte sich um. Hinter ihnen wankte Goldstein. Er hatte die Arme um die Schultern von zwei Mann gelegt und schleppte sich dahin. »Kommt«, sagte Lewinsky zu den beiden, die ihn trugen.

»Wir werden euch ablosen. Nachher, vor dem Lager, konnt ihr ihn wieder nehmen.«

Er nahm Goldstein von der einen Seite, und Werner stutzte ihn von der anderen.

»Mein verdammtes Herz«, keuchte Goldstein. »Vierzig Jahre alt und das Herz kaputt.

Zu idiotisch.«

»Warum bist du mitgekommen?« fragte Lewinsky. »Du hattest zur Schuhabteilung abgeschoben werden konnen.«

»Wollte einmal sehen, wie es au?erhalb des Lagers ist. Frische Luft. War ein Fehler.«

Goldstein grinste muhsam uber sein graues Gesicht.

»Du wirst dich erholen«, sagte Werner. »La? dich ruhig uber unsere Schultern hangen.

Wir konnen dich gut tragen.«

Der Himmel verlor den letzten Glanz und wurde fahler. Blaue Schatten sturzten von den Hugeln herab. »Hort zu«, flusterte Goldstein. »Steckt, was ihr bei euch habt, in meine Sachen. Wenn sie untersuchen, werden sie euch untersuchen und vielleicht die Bahren auch. Aber uns Schlappmacher werden sie nicht kontrollieren. Wir sind einfach zusammengeklappt. Uns werden sie so durchlassen.«

»Wenn sie untersuchen, werden sie alle untersuchen«, sagte Werner.

»Nein, nicht uns, die schlapp gemacht haben. Es sind noch ein paar mehr auf dem Weg dazugekommen. Steckt die Sachen unter mein Hemd.«

Werner wechselte einen Blick mit Lewinsky. »La? gut sein, Goldstein. Wir kommen schon durch.«

»Nein, gebt sie mir.«

Die beiden antworteten nicht.

»Fur mich ist es ziemlich egal, ob ich geschnappt werde. Fur euch nicht.«

»Quatsch.«

»Es hat nichts mit Opferwillen und Gro?tuerei zu tun«, sagte Goldstein mit einem verzerrten Lacheln. »Er ist nur praktischer. Ich mach sowieso nicht mehr lange.«

»Wir werden das alles sehen«, erwiderte Werner. »Wir haben noch fast eine Stunde Weg. Vor dem Lager gehst du wieder zuruck in deine fruhere Reihe. Wenn etwas passiert, geben wir dir die Sachen. Du gibst sie sofort weiter zuruck zu Munzer. Zu Munzer, verstehst du?«

»Ja.«

Eine Frau auf einem Fahrrad kam vorbei. Sie war dick und trug eine Brille und hatte einen Pappkarton vor sich auf der Lenkstange. Sie blickte zur Seite. Sie wollte die Gefangenen nicht sehen.

Lewinsky sah auf und blickte dann scharfer nach vorn. »Hort zu«, sagte er. »Das dahinten ist nicht das Baumkommando.«

Die schwarze Masse vor ihnen war naher gekommen. Sie holten sie nicht ein, sie kam ihnen entgegen. Sie konnten jetzt auch sehen, da? es eine lange Reihe von Menschen war, die nicht in regelma?iger Kolonne marschierten.

»Neue Zugange?« fragte jemand hinter Lewinsky. »Oder ist es ein Transport?«

»Nein. Sie haben keine SS bei sich. Und sie marschieren nicht in der Richtung zum Lager. Das sind Zivilisten.«

»Zivilisten?«

»Das siehst du doch. Sie haben Hute auf. Und Frauen sind dabei. Kinder auch. Viele Kinder.«

Man konnte sie jetzt deutlich sehen. Die beiden Kolonnen naherten sich jetzt rasch.

»Rechts heran!« schrie die SS. »Scharf rechts heran! In den Graben, die au?erste Reihe rechts.

Los!«

Die Aufseher liefen die Gefangenenkolonne entlang. »Rechts! Los, rechts heran! La?t die linke Halfte der Stra?e frei. Wer ausbiegt, wird erschossen!«

»Das sind Ausgebombte«, sagte Werner plotzlich rasch und leise. »Es sind Leute aus der Stadt.

Das sind Fluchtlinge.«

»Fluchtlinge?«

»Fluchtlinge«, wiederholte Werner.

»Ich glaube, du hast recht!« Lewinsky kniff die Augen zu. »Das sind tatsachlich Fluchtlinge. Aber diesmal deutsche Fluchtlinge!«

Das Wort lief flusternd die Kolonne entlang. Fluchtlinge! Deutsche Fluchtlinge! Des refugies allemands! Es schien unerhort zu sein, aber es stimmte: Nachdem sie Jahre hindurch in Europa gesiegt und Menschen vor sich hergetrieben hatten, mu?ten sie jetzt in ihrem eigenen Lande fluchten.

Es waren Frauen und Kinder und altere Manner. Sie trugen Pakete, Handtaschen und Handkoffer.

Einige hatten kleine Wagen, auf die sie ihr Gepack geladen hatten. Sie gingen unregelma?ig und verdrossen hintereinander her.

Die beiden Zuge waren sich jetzt ganz nahe. Es wurde auf einmal sehr still. Man horte nur noch das Scharren der Fu?e auf der Landstra?e. Und ohne da? ein Wort gesagt worden ware, begann die Kolonne der Gefangenen sich zu verandern. Sie hatte sich nicht einmal durch Blicke verstandigt; aber es war, als hatte jemand einen lautlosen Befehl uber all diese todmuden, abgezehrten, halbverhungerten Manner hingeschrieen, als hatte ein Funke ihr Blut entzundet, ihr Gehirn aufgeweckt und ihre Nerven und Muskeln zusammengerissen. Die stolpernde Kolonne begann zu marschieren. Die Fu?e hoben sich, die Kopfe richteten sich auf, die Gesichter wurden harter, und in den Augen war Leben.

»La?t mich los«, sagte Goldstein.

»Unsinn!«

»La?t mich los! Nur, bis die da vorbei sind!«

Sie lie?en ihn los. Er taumelte, bi? die Zahne aufeinander und fing sich. Lewinsky und Werner pre?ten ihre Schultern gegen seine, aber sie brauchten ihn nicht zu halten. Er ging, dicht zwischen sie gepre?t, allein, den Kopf zuruckgeworfen, laut atmend, aber er ging allein.

Das Schuffeln der Gefangenen war jetzt uberall in eine Art von Gleichtritt ubergegangen. Eine Abteilung Belgier und Franzosen war dabei und eine kleine Gruppe von Polen. Auch sie marschierten mit.

Die Kolonnen hatten einander erreicht. Die Deutschen waren auf dem Wege nach umliegenden Dorfern. Sie hatten keine Zugverbindungen, weil der Bahnhof zerstort war, und mu?ten deshalb zu Fu? gehen. Ein paar Zivilisten mit SA-Binden um den Arm dirigierten den Zug. Die Frauen waren mude. Ein paar Kinder weinten. Die Manner starrten vor sich hin.

»So sind wir aus Warschau gefluchtet«, flusterte ein Pole leise hinter Lewinsky.

»Und wir aus Luttich«, erwiderte ein Belgier.

»Wir ebenso aus Paris.«

»Bei uns war es schlimmer. Viel schlimmer. Sie haben uns anders gejagt.«

Sie spurten kaum ein Gefuhl von Revanche. Auch keinen Ha?. Frauen und Kinder waren uberall dieselben, und es waren gewohnlich viel ofter die Unschuldigen, die von einem Verhangnis getroffen wurden, als die Schuldigen. Unter dieser muden Masse waren sicher viele, die nichts bewu?t gewollt und nichts getan hatten, was ihr Schicksal rechtfertigte. Das war es auch nicht, was die Gefangenen spurten. Es war etwas ganz anderes. Es hatte nichts mit den einzelnen zu tun; es hatte auch wenig mit der Stadt zu schaffen; nicht einmal viel mit dem Lande oder der Nation; es war eher das Gefuhl einer ungeheuren, unpersonlichen Gerechtigkeit, das in dem Augenblick aufsprang, als die beiden Kolonnen einander passierten. Ein Weltfrevel war verubt worden und fast gegluckt; die Gebote der Menschlichkeit waren umgesto?en und fast zertrampelt worden; das Gesetz des Lebens war bespuckt, zerpeitscht und zerschossen worden; Raub war legal, Mord verdienstvoll, Terror Gesetz geworden – und jetzt, plotzlich, in diesem atemlosen Augenblick, fuhlten vierhundert Opfer der Willkur hier, da? es genug war -, da? eine Stimme gesprochen hatte und da? das Pendel zuruckschwang. Sie spurten, da? es nicht nur Lander und Volker waren, die gerettet werden wurden; es waren die Gebote des Lebens selbst. Es war das, wofur es viele Namen gab – und einer, der alteste und einfachste war: Gott. Und das hie?: Mensch.

Die Kolonne der Fluchtlinge hatte die Kolonne der Gefangenen jetzt passiert. Es hatte ausgesehen, als waren fur einige Minuten die Fluchtlinge die Gefangenen und die Gefangenen frei. Zwei Leiterwagen, mit Schimmeln

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