Der Tote lag auf der breiten Tur. Unter seinem rechten Arm lachelte das Mosesknablein aus seinem Binsenkorb hervor. Munzer sah es. Die Tur haben sie vergessen vom Rathaus zu entfernen, dachte er. Moses. Judisch. Alles war schon einmal da. Pharao. Bedruckung. Rotes Meer. Rettung.

»Anfassen! Acht Mann!«

Zwolf Mann sprangen so eilig heran wie noch nie. Der Kolonnenfuhrer blickte sich um. Gegenuber stand die zerstorte Marienkirche. Er uberlegte einen Augenblick, aber verwarf den Gedanken sofort. Man konnte Dietz nicht in eine katholische Kirche bringen. Er hatte gern um Weisungen telefoniert; aber der Telefondienst war unterbrochen. Er mu?te tun, was er am meisten ha?te und furchtete: selbstandig handeln.

Munzer sagte etwas. Der Kolonnenfuhrer sah es. »Was? Was hast du gesagt?

Vortreten, Lausehund!«

Lausehund schien sein Lieblingsausdruck zu sein. Munzer trat vor und stand stramm.

»Ich habe gesagt, ob es nicht vielleicht gegen den Respekt ware, da? ein Obergruppenfuhrer von Schutzhaftlingen getragen wird.« Er sah den Kolonnenfuhrer fest und ehrerbietig an. »Was?« schrie der.

»Was, Lausehund! Was geht das dich an? Von wem denn sonst? Wir haben -« Er verstummte.

Der Einwand Munzers schien Sinn zu haben. Eigentlich hatten SS-Leute den Toten tragen sollen; aber inzwischen konnten die Gefangenen ausrei?en.

»Was steht ihr da herum?« schrie er. »Vorwarts!« Und plotzlich kam ihm auch die Erleuchtung, wohin Dietz gebracht werden konne. »Zum Hospital.«

Was der Tote noch im Hospital sollte, war niemandem klar. Es schien nur ein passender, neutraler Platz zu sein. »Vorwarts -« Der Kolonnenfuhrer ging voran. Auch das schien ihm notwendig.

Am Ausgang des Marktplatzes erschien plotzlich ein Automobil. Es war ein niedriger Mercedes- Kompressor. Der Wagen kam langsam herangefahren und suchte einen Weg zwischen den Trummern. Er wirkte in seiner glatten Eleganz in all der Zerstorung fast obszon. Der Kolonnenfuhrer stand stramm. Ein Mercedes-Kompressor war ein offizieller Wagen fur gro?e Bonzen. Zwei hohe SS-Offiziere sa?en hinten; ein anderer vorn neben dem Chauffeur. Eine Anzahl Koffer war aufgeschnallt, ein paar kleinere lagen im Wagen. Die Offiziere machten argerlich abweisende Gesichter. Der Chauffeur mu?te langsam durch den Schutt fahren. Sie kamen dicht an den Gefangenen vorbei, die Dietz auf der Tur trugen. Sie sahen nicht hin. »Los!« sagte der vorderste zu dem Chauffeur. »Schneller.«

Die Gefangenen standen still. Lewinsky hielt die Tur an der hintersten rechten Ecke.

Er sah den gebrochenen Kopf von Dietz und den lachelnden, geschnitzten des geretteten Mosesknableins, und er sah den Mercedes und die Koffer und die fluchtenden Offiziere, und er atmete tief.

Der Wagen kroch voruber. »Schei?e!« sagte einer der SS-Leute plotzlich, cm riesiger Schlachter mit einer Boxernase. »Schei?e. Verfluchte Schei?e!« Er meinte nicht die Gefangenen.

Lewinsky lauschte. Das ferne Grollen ertrank eine kurze Zeit im Drohnen des Mercedes-Motors; dann kam es wieder durch, gedampft und unentrinnbar.

Unterirdische Trommeln fur einen Totenmarsch.

»Los!« kommandierte der Kolonnenfuhrer irritiert. »Los! Los!«

Der Nachmittag schlich dahin. Das Lager war voller Geruchte. Sie wehten durch die Baracken und anderten sich jede Stunde. Einmal hie? es, die SS sei fort; dann kam jemand und berichtete, sie sei im Gegenteil verstarkt worden.

Einmal hie? es, amerikanische Tanks seien in der Nahe der Stadt; dann kam durch, es seien deutsche Truppen, die die Stadt verteidigen wurden.

Um drei Uhr erschien der neue Blockalteste. Es war ein Roter, kein Gruner »Keiner von uns«, sagte Werner enttauscht.

»Warum nicht?« fragte 509. »Er ist einer von uns. Ein Politischer. Kein Krimineller.

Oder was meinst du mit ›uns‹?« »Das wei?t du doch. Wozu fragst du?«

Sie sa?en in der Baracke. Werner wollte bis nach dem Abpfeifen warten, um ins Arbeitslager zuruckzugehen. 509 hielt sich versteckt, um zu sehen, wie der neue Blockalteste war. Neben ihnen rochelte sich ein Mann mit schmutzigen wei?en Haaren an einer Lungenentzundung zu Tode.

»Einer von uns ist jemand, der zur Untergrundbewegung des Lagers gehort«, dozierte Werner.

»Das wolltest du doch wissen, wie?« Er lachelte.

»Nein«, erwiderte 509. »Das wollte ich nicht wissen. Und das meintest du auch nicht.«

»Einstweilen meine ich das.«

»Ja. Solange die Notgemeinschaft hier notwendig ist. Und dann?« »Dann«, sagte Werner, erstaunt uber so viel Unwissenheit,»dann mu? selbstverstandlich eine Partei dasein, die die Macht ubernimmt. Eine geschlossene Partei; nicht ein Haufen zusammengewurfelter Menschen.« »Also deine Partei. Die Kommunisten.« »Wer sonst?« »Jede andere«, sagte 509. »Nur nicht wieder eine totalitare.« Werner lachte kurz auf. »Du Narr! Keine andere, nur eine totalitare. Siehst du nicht die Zeichen an der Wand? Alle Zwischenparteien sind zerrieben. Der Kommunismus ist stark geblieben. Der Krieg wird zu Ende gehen. Ru?land hat einen gro?en Teil Deutschlands besetzt. Es ist bei weitem die starkste Macht in Europa. Die Zeit der Koalitionen ist vorbei. Dieses war die letzte. Die Alliierten haben dem Kommunismus geholfen und sich selbst geschwacht, die Narren. Der Weltfriede wird abhangen von -« »Ich wei?«, unterbrach 509. »Ich kenne das Lied. Sag mir lieber, was mit denen geschahe, die gegen euch sind, wenn ihr gewinnen wurdet und die Macht hattet? Oder denen, die nicht fur euch sind?« Werner schwieg einen Moment. »Da gibt es viele verschiedene Wege«, sagte er dann. »Ich kenne welche. Du auch. Toten, Foltern, Konzentrationslager – meinst du die auch?« »Unter anderem. Je nachdem, was notwendig ist,« »Das ist ein Fortschritt. Wert, dafur hiergewesen zu sein!« »Es ist ein Fortschritt«, erklarte Werner unbeirrt. »Es ist ein Fortschritt im Ziel. Und auch in der Methode. Wir tun nichts aus Grausamkeit. Nur aus Notwendigkeit.« »Das habe ich oft genug gehort. Weber hat es mir auch erklart, als er mir Streichholzer unter die Nagel trieb und sie verbrannte. Es war notwendig, um Informationen zu bekommen.« Das Atmen des wei?haarigen Mannes ging in das stockende Todesrocheln uber, das jeder im Lager kannte. Das Rocheln setzte manchmal aus; dann horte nun in der Stille das leise Grollen am Horizont. Es war wie eine Litanei – der letzte Atem des Sterbenden und die Antwort aus der Ferne. Werner sah 509 an Er wu?te, da? Weber ihn wochenlang gefoltert hatte, um Namen und Adressen von ihm zu bekommen. Werners Adresse auch. 509 hatte geschwiegen. Werner war dann spater von einem schwachen Parteigenossen verraten worden. »Warum kommst du nicht zu uns, Koller?« fragte er. »Wir konnen dich gebrauchen.« »Das hat Lewinsky mich auch gefragt. Und daruber haben wir beide schon vor zwanzig Jahren diskutiert.« Werner lachelte. Es war ein gutes, entwaffnendes Lacheln. »Das haben wir. Oft genug. Trotzdem frage ich dich wieder. Die Zeit des Individualismus ist vorbei. Man kann nicht mehr allein stehen. Und die Zukunft gehort uns. Nicht der korrupten Mitte.« 509 blickte auf den Asketenkopf. »Wenn dieses hier vorbei ist«, sagte er langsam,»dann soll es mich wundern, wie lange es dauern wird, bis du ebenso mein Feind bist, wie die da auf den Turmen es jetzt sind.« »Nicht lange. Wir hier hatten eine Notgemeinschaft gegen die Nazis. Die fallt weg, wenn der Krieg zu Ende ist.« 509 nickte. »Es soll mich ebenfalls wundem, wie lange es dauern wurde, wenn ihr die Macht hattet, bis du mich einsperren lie?est.« »Nicht lange. Du bist immer noch gefahrlich. Aber du wurdest nicht gefoltert werden.« 509 zuckte die Achseln. »Wir wurden dich einsperren und arbeiten lassen. Oder dich erschie?en.« »Das ist trostlich. So habe ich mir euer goldenes Zeitalter immer vorgestellt.« »Deine Ironie ist billig. Du wei?t, da? Zwang notig ist. Er ist die Verteidigung fur den Beginn. Spater wird er nicht mehr erforderlich sein.« »Hoch«, sagte 509. »Jede Tyrannei braucht ihn. Und jedes Jahr mehr; nicht weniger. »Das ist ihr Schicksal. Und immer ihr Ende. Du siehst es hier.« Nein. Die Nazis haben den fundamentalen Irrtum begangen, einen Krieg anzufangen, dem sie nicht gewachsen waren.«

»Es war kein Irrtum. Es war eine Notwendigkeit. Sie konnten nicht anders. Hatten sie abrusten mussen und Frieden halten, so waren sie bankrott gewesen.

»Es wird euch ebenso gehen.«

»Wir werden unsere Kriege gewinnen. Wir fuhren sie anders. Von innen.«

»Ja, von innen und nach innen. Ihr konnt die Lager hier dann gleich behalten. Und sie fullen.«

»Das konnen wir«, sagte Werner vollig ernst. »Warum kommst du nicht zu uns? «wiederholte er dann.

»Genau deshalb nicht. Wenn du drau?en an die Macht kamst, wurdest du muh liquidieren lassen.

Ich dich nicht. Das ist der Grund.« Der wei?haarige Mann rochelte jetzt in gro?en Zwischenraumen. Sulzbacher kam herein. »Sie sagen, da? deutsche Flieger morgen fruh das Lager bombardieren sollen. Alles zerstoren.«

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