hier wie in einem Affenkasten.«

»Dysenterie«, erwiderte Weber. »Es ist ja eigentlich ein Erholungsplatz fur Kranke -«

»Kranke, richtig!« Neubauer nahm sofort den Faden auf. »Kranke, Dysenterie, daher stinkt es naturlich. Wurde ja im Hospital ebenso sein.« Er blickte sich unentschlossen um. »Konnen die Leute nicht mal baden?«

»Die Ansteckungsgefahr ist zu gro?. Wir haben diesen Teil des Lagers deshalb ziemlich abgeschlossen gehalten. Die Badeeinrichtungen sind auf der anderen Seite.«

Neubauer war bei dem Wort Ansteckung unwillkurlich einen Schritt zuruckgetreten.

»Haben wir genug Wasche, damit die Kerle frische kriegen konnen? Die alte mu? dann wohl verbrannt werden, wie?«

»Nicht unbedingt. Sie kann desinfiziert werden. Wasche ist genug in der Kleiderkammer. Wir haben reichliche Sendungen von Belsen bekommen.«

»Gut«, sagte Neubauer erleichtert. »Also frische Wasche und eine Anzahl heile Kittel und Hosen oder was wir sonst haben an Sachen. Chlorkalk und Des. Infektionsmittel verteilen. Das sieht dann gleich ganz anders aus. Schreiben Sie das auf.« Der erste Lageralteste, ein dicker Strafling, notierte dienstfertig. »Au?erste Sauberkeit anstreben!« diktierte Neubauer. »Au?erste Sauberkeit anstreben«, wiederholte der Lageralteste.

Weber unterdruckte ein Grinsen. Neubauer wandte sich den Haftlingen zu. »Habt ihr alles, was euch zusteht?«

Die Antwort war durch zwolf Jahre vorgeschrieben. »Jawohl, Herr Obersturmbannfuhrer.«

»Gut. Weitermachen.«

Neubauer blickte noch einmal umher. Die alten Baracken standen schwarz wie Sarge da. Er suchte und hatte plotzlich eine Eingebung. »Lassen Sie etwas Grunes hier pflanzen«, erklarte er. »Es ist jetzt die Zeit dafur. Ein paar Busche an die Nordseiten und einen Blumenstreifen an die Sudwande.

Das heitert auf. Wir haben doch so was in der Gartnerei, wie?« »Zu Befehl, Herr Obersturmbannfuhrer.«

»Also dann! Fangen Sie gleich damit an. Wir konnen das auch bei den Baracken im Arbeitslager machen.« Neubauer begeisterte sich fur seine Idee. Der Gartenbesitzer in ihm brach durch. »Schon eine Rabatte Veilchen – nein, Primeln sind besser, das Gelb leuchtet mehr -«

Zwei Leute glitten langsam zu Boden. Niemand ruhrte sich, ihnen zu helfen. »Primeln – haben wir genug Primeln in der Gartnerei?« »Zu Befehl, Herr Obersturmbannfuhrer.« Der dicke Lageralteste stand stramm. »Es sind reichlich Primeln da. In Blute.«

»Gut. Machen Sie das. Und lassen Sie die Lagerkapelle ab und zu weiter unten spielen, damit die hier auch was horen.«

Neubauer ging zuruck. Die anderen folgten ihm. Er war wieder einigerma?en beruhigt.

Die Gefangenen hatten keine Beschwerden. Er war durch viele Jahre ohne Kritik daran gewohnt, das, was er selbst glauben wollte, als Tatsache anzusehen. Deshalb erwartete er auch jetzt, da? die Gefangenen ihn so sahen, wie er es wollte: als einen Mann, der unter schwierigen Umstanden sein Bestes; fur sie tat. Da? sie Menschen waren, wu?te er langst nicht mehr.

XXII

»Was?« fragte Berger unglaubig. »Uberhaupt kein Abendessen?« »Nichts.« »Keine Suppe?« »Keine Suppe und kein Brot. Ausdrucklicher Befehl von Weber.« »Und die anderen? Das Arbeitslager?« »Nichts. Kein Abendessen fur das ganze Lager.« Berger wandte sich um. »Versteht einer das? Wasche haben wir gekriegt, aber kein Essen?« »Primeln haben wir auch gekriegt.« 509 zeigte auf zwei kummerliche Flecken zu beiden Seiten der Tur. Ein paar Pflanzen standen halb verwelkt darin. Sie waren mittags von Gefangenen aus der Gartnerei hergesetzt worden. »Vielleicht kann man sie essen.« »Versuch es nicht. Wenn sie fehlen, kriegen wir eine Woche lang nichts zu essen.« »Warum nur?« sagte Berger. »Nach all dem Getue von Neubauer habe ich gedacht, da? wir vielleicht sogar Kartoffeln in die Suppe kriegen wurden.« Lebenthal kam heran. »Es ist Weber. Nicht Neubauer. Weber ist wutend uber Neubauer. Denkt, er will sich den Rucken decken. Will er sicher auch. Deshalb arbeitet Weber gegen ihn, wo er kann. Habe es von der Schreibstube. Lewinsky und Werner und die anderen druben sagen es auch. Wir mussen darunter leiden.« »Das wird viele Tote geben.« Sie starrten in den roten Himmel. »Weber hat auf der Schreibstube gesagt, es solle sich keiner was einbilden; er wurde schon dafur sorgen, da? wir kurzgehalten wurden.« Lebenthal holte sein Gebi? aus dem Mund, besah es fluchtig und setzte es wieder ein. Von der Baracke her kam dunnes Schreien. Die Nachricht hatte sich verbreitet. Skelette taumelten aus der Tur und inspizierten die E?kannen – ob sie nach Essen rochen und die anderen sie betrogen hatten. Die Kannen waren blank und trocken. Das Jammern wurde starker. Viele Leute lie?en sich einfach zu Boden fallen und hammerten mit ihren Knochenfausten auf die schmutzige Erde. Die meisten aber schlichen fort oder lagen bewegungslos mit offenen Mundern und gro?en Augen herum. Aus den Turen kamen die leisen Stimmen derer, die nicht mehr aufstehen konnten. Es war kein artikuliertes Schreien; es war nur noch ein schwacher Choral der Verzweiflung, ein Singsang, der nicht einmal mehr Worte und Bitten und Fluche fur die Verzweiflung hatte. Es war jenseits davon; es war das letzte bi?chen untergehendes Leben, das da summte und zirpte und pfiff und kratzte, als seien die Baracken riesige Kisten mit sterbenden Insekten. Um sieben Uhr begann die Lagerkapelle zu spielen. Sie stand au?erhalb des Kleinen Lagers, aber so nahe, da? sie gut zu horen war. Neubauers Anweisung war prompt befolgt worden. Das erste Stuck war wie immer der Lieblingswalzer des Kommandanten:»Rosen aus dem Suden.« »La?t uns Hoffnung fressen, wenn wir nichts anderes haben«, sagte 509. »La?t uns all die Hoffnung fressen, die es gibt. La?t uns das Geschutzfeuer fressen! Wir mussen durchkommen. Wir werden durchkommen!« Die kleine Gruppe hockte nahe der Baracke zusammen. Es war eine kuhle, dunstige Nacht. Sie froren nicht zu sehr. Die Baracke hatte bereits achtundzwanzig Tote in den ersten Stunden gehabt; die Veteranen hatten ihnen die Suchen ausgezogen, die sie gebrauchen konnten, und sie selbst angezogen, um nicht zu frieren und krank zu werden. Sie wollten nicht in die Baracke. In der Baracke keuchte, stohnte und schmatzte der Tod. Sie waren drei Tage ohne Brot geblieben und heute auch noch ohne Suppe. Auf allen Betten kampfte es, ergab sich und starb. Sie wollten nicht hinein. Sie wollten nicht dazwischen schlafen. Das Sterben war ansteckend, und es schien ihnen, als seien sie wehrlos dagegen im Schlaf. So sa?en sie drau?en, die Sachen der Toten uber sich gezogen, und starrten zum Horizont, von dem die Freiheit kommen mu?te.

»Es ist nur diese Nacht«, sagte 509. »Nur diese eine Nacht! Glaubt es mir. Neubauer wird es erfahren und die Verordnung morgen aufheben. Sie sind bereits uneinig. Es ist der Anfang vom Ende. Wir haben so lange ausgehalten. Nur noch diese Nacht!«

Niemand antwortete. Sie sa?en dicht zusammengedrangt wie eine Gruppe von Tieren im Winter.

Es war nicht nur Warme, die sie sich gaben; es war vervielfachter Lebensmut. Er war wichtiger als Warme. »La?t uns uber etwas reden«, sagte Berger.

»Aber etwas, was nichts mit diesem hier zu tun hat.« Er wandte sich zu Sulzbacher, der neben ihm hockte. »Was willst du machen, wenn du hier herauskommst?«

»Ich?« Sulzbacher zogerte. »Besser, nicht daruber zu reden, bevor es soweit ist. Es bringt Ungluck.«

»Es bringt kein Ungluck mehr«, erwiderte 509 heftig. »Wir haben nicht daruber geredet durch all die Jahre, weil es uns zerfressen hatte. Jetzt aber mussen wir daruber reden. In einer solchen Nacht! Wann sonst? La?t uns fressen, was wir an Hoffnung haben. Was willst du machen, wenn du herauskommst, Sulzbacher?«

»Ich wei? nicht, wo meine Frau ist. Sie war in Dusseldorf. Dusseldorf ist zerstort.«

»Wenn sie in Dusseldorf ist, ist sie sicher. Dusseldorf ist von den Englandern besetzt.

Das Radio hat es langst zugegeben.« »Oder sie ist tot«, sagte Sulzbacher.

»Damit mu? man rechnen. Was wissen wir schon von denen, die drau?en sind?«

»Und die drau?en von uns«, sagte Bucher.

509 blickte ihn an. Er hatte ihm immer noch nicht gesagt, da? sein Vater tot »ei und wie er gestorben war. Es hatte Zeit, bis er frei war. Er wurde es dann besser ertragen.

Er war jung und hatte als einziger jemanden, der mit ihm hinausging. Er wurde es fruh genug erfahren.

»Wie wird das nur sein, wenn wir herauskommen?« sagte Meyerhof. »Ich bin seit sechs Jahren im Lager.«

»Ich seit zwolf«, sagte Berger.

»So lange? Warst du politisch?«

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