»Nein. Ich habe nur einen Nazi, der spater Gruppenfuhrer wurde, von 1928 bis 1932 arztlich behandelt. Vielmehr nicht ich; er ist zu mir in die Sprechstunde gekommen und dort behandelt worden durch einen Freund von mir, der Facharzt war. Der Nazi kam zu mir, weil er im selben Hans wohnte wie ich. Es war fur ihn bequemer.«
»Und deshalb hat er dich einsperren lassen?«
»Ja. Er hatte Syphilis.«
»Und der Facharzt?«
»Er hat ihn erschie?en lassen. Ich selbst konnte ihm vormachen, da? ich nicht wu?te, was er hatte, und glaubte, es seien nur Entzundungen vom letzten Krieg. Er war trotzdem vorsichtig genug, mich einsperren zu lassen.«
»Was wirst du machen, wenn er noch lebt und du 'rauskommst?«
Berger dachte nach. »Ich wei? es nicht.«
»Ich wurde ihn totschlagen«, erklarte Meyerhof.
»Und dafur wieder ins Gefangnis kommen, was?« sagte Lebenthal. »Fur Totschlag. Noch einmal zehn oder zwanzig Jahre.«
»Was willst du machen, Leo, wenn du 'rauskommst?« fragte 509.
»Ich mache ein Mantelgeschaft auf. Gute Halbkonfektion.«
»Mantel? Im Sommer? Es wird Sommer, Leo!«
»Es gibt Sommermantel! Ich kann Anzuge dazunehmen. Und Regenmantel, naturlich.«
»Leo«, sagte 509. »Warum willst du nicht in der Nahrungsmittelbranche bleiben? Das wird mehr gebraucht als Mantel, und du warst hier gro?artig darin.« »Meinst du?« Lebenthal war deutlich geschmeichelt.
»Unbedingt!«
»Vielleicht hast du recht. Ich werde es mir uberlegen. Amerikanische Lebensmittel, zum Beispiel.
Das wird gro? gehen. Erinnert ihr euch an den amerikanischen Speck nach dem letzten Krieg? Er war dick, wei? und zart wie Marzipan, mit rosa -«
»Halt's Maul, Leo! Bist du verruckt?«
»Nein. Es fiel mir nur plotzlich ein. Ob sie diesmal auch welchen schicken werden?
Fur uns wenigstens?«
»Sei ruhig, Leo!«
»Was willst du machen, Berger?« fragte Rosen.
Berger wischte sich die entzundeten Augen. »Ich werde bei einem Apotheker in die Lehre gehen.
Versuchen, so was Ahnliches zu werden. Operieren – mit solchen Handen? Nach so langer Zeit?«
Er ballte die Hande unter der Jacke zusammen, die er uber sich gezogen hatte. »Unmoglich. Ich werde Apotheker werden. Und du?«
»Meine Frau hat sich scheiden lassen, weil ich Jude war. Ich wei? nichts mehr von ihr.«
»Du willst sie doch nicht suchen?« fragte Meyerhof.
Rosen zogerte. »Sie hat es vielleicht unter Zwang getan. Was hatte sie sonst tun sollen? Ich habe es ihr selbst geraten.«
»Vielleicht ist sie inzwischen so mies geworden, da? es kein Problem fur dich ist«, sagte Lebenthal.
»Vielleicht bist du froh, da? du sie los bist.«
»Wir sind auch nicht junger geworden.«
»Nein. Neun Jahre.« Sulzbacher hustete. »Wie wird das sein, wenn man jemand nach so langer Zeit wiedersieht?«
»Sei froh, da? einer da ist zum Wiedersehen.«
»Nach so langer Zeit«, wiederholte Sulzbacher. »Wer kennt sich da noch?«
Sie horten im Schuffeln der Muselmanner einen festeren Schritt. »Achtung«, flusterte Berger.
»Vorsicht, 509.«
»Es ist Lewinsky«, sagte Bucher. Er konnte Leute am Schritt erkennen. Lewinsky kam heran.
»Was macht ihr? Kein Fressen heute. Wir haben einen Verbindungsmann in der Kuche. Er konnte Brot und Kartoffeln stehlen. Gekocht worden ist nur fur die Bonzen. Da war nichts zu schnappen.
Hier ist etwas Brot. Und hier sind ein paar rohe Karotten. Es ist wenig; aber wir haben auch nichts gekriegt.«
»Berger«, sagte 509. »Verteile es.«
Jeder bekam eine halbe Schnitte Brot und eine Karotte. »E?t es langsam. Kaut, bis es weg ist.«
Berger gab ihnen erst die Karotten; dann, einige Minuten spater, das Brot.
»Man fuhlt sich wie ein Verbrecher, da? man heimlich fri?t«, sagte Rosen. »Dann tu es nicht«, erwiderte Lewinsky lakonisch. »Du Quatschkopf.« Lewinsky hatte recht.
Rosen wu?te es. Er wollte erklaren, da? er nur heute, In dieser sonderbaren Nacht, in der sie uber die Zukunft geredet hatten, um uber ihren Hunger hinwegzukommen, einen solchen Gedanken gehabt habe und da? es eben mit der Zukunft zusammenhange; aber er gab es auf. Es war zu kompliziert. Und zu unwichtig.
»Sie fallen um«, erklarte Lewinsky heiser und atemlos. »Grune fallen ebenfalls um.
Wollen mitmachen. Wir lassen sie. Kapos, Blockalteste, Stubenalteste. Spater werden wir sortieren. Zwei SS- Leute auch. Dazu der Hospitalarzt.« »Das Schwein«, sagte Bucher.
»Wir wissen, was er ist. Aber wir konnen ihn gebrauchen. Wir kriegen Nachrichten durch ihn.
Heute abend ist ein Befehl fur einen Abtransport gekommen.«
»Was?« fragten Berger und 509 zugleich. »Transport. Zweitausend Mann sollen abtransportiert werden.« »Sie wollen das Lager raumen?« »Sie wollen zweitausend Mann. Vorlaufig.« »Der Transport. Das haben wir gefurchtet«, sagte Berger. »Seid ruhig. Der Schreiber mit den roten Haaren pa?t auf. Wenn sie eine Liste machen, kommt ihr nicht mit drauf. Unsere Leute sind jetzt uberall. Au?erdem hei?t es, da? Neubauer zogert. Er hat den Befehl noch nicht weitergegeben.«
»Sie werden nicht nach einer Liste gehen«, sagte Rosen. »Sie werden sie zusammenfangen, wie sie es bei uns getan haben, wenn sie sie nicht anders kriegen konnen. Die Liste machen sie dann nachher.«
»Regt euch nicht auf. Es ist noch nicht soweit. Jede Stunde kann alles andern.« »Regt euch nicht auf, sagt er.« Rosen zitterte.
»Wir schmuggeln euch zur Not ins Hospital. Der Arzt druckt jetzt beide Augen zu.
Wir haben schon eine Anzahl gefahrdeter Leute drin.«
»Haben sie davon gesprochen, da? auch Frauen abtransportiert werden?« fragte Bucher.
»Nein. Das werden sie auch nicht machen. Es sind noch viel zu wenige hier.«
Lewinsky stand auf. »Komm mit«, sagte er zu Berger. »Ich wollte dich holen. Deshalb bin ich hier.«
»Wohin?«
»Zum Lazarett. Wir verstecken dich da fur ein paar Tage. Wir haben einen Raum neben der Flecktyphusabteilung; kein Nazi wagt sich dort in die Nahe. Es ist alles arrangiert.«
»Und warum?« fragte 509.
»Das Krematoriumskommando. Sie erledigen es morgen. Das sind die Geruchte. Ob sie ihn dazu rechnen, wei? keiner von uns. Ich glaube, ja.« Er wandte sich zu Berger.
»Du hast unten zuviel gesehen. Komm zur Vorsicht mit. Zieh dich um. La? deine Sachen hier an einem Toten. Nimm seinen Kram.«
»Geh«, sagte 509.
»Und der Blockalteste? Konnt ihr das machen?«
»Ja«, sagte Ahasver uberraschend. »Er wird den Mund halten. Wir konnen das machen.«
»Gut. Der rothaarige Schreiber ist informiert. Dreyer im Krematorium zittert vor Angst um sich selbst. Er wird nicht nach dir unter den Toten suchen.« Lewinsky zog gerauschvoll Luft durch die Nase ein. »Es sind auch zu viele da. Man stolpert den ganzen Weg hierher daruber. Dauert sicher vier, funf Tage, bis alle verbrannt sind.
Dann sind neue da. Das Durcheinander ist uberall» schon so gro?, da? niemand mehr Bescheid wei?. Die Hauptsache ist, da? du nicht zu finden bist.« Ein Grinsen flackerte uber sein Gesicht. »In solchen! Zeiten ist das