immer die Hauptsache. Weit vom Schu? sein.«

»Los«, sagte 509. »La?t uns einen Toten suchen, der nicht tatowiert ist.«

Sie hatten wenig Licht. Ein schwelendes, unruhiges Rot am westlichen Horizont half ihnen nicht. Sie mu?ten sich tief uber die Arme der Toten beugen, um festzustellen, ob Nummern auf die Arme tatowiert waren. Sie fanden einen, der ungefahr in Bergers Gro?e war, und zogen ihm seine Sachen aus.

»Los, Ephraim!«

Sie sa?en an der Seite der Baracke, die von den Posten abgekehrt war. »Zieh dich rasch hier um«, flusterte Lewinsky. »Je weniger es wissen, um so besser. Gib deine Jacke und Hose her!«

Berger zog sich aus. Er stand wie ein gespenstischer Harlekin gegen der Himmel. Bei dem unvermuteten Wascheempfang hatte er eine Frauenunterhose zugeworfen bekommen, die ihm bis zur halben Wade ging. Dazu trug er ein tief ausgeschnittenes Hemd ohne Armel.

»Meldet ihn morgen fruh als tot.«

»Ja. Der SS-Blockfuhrer kennt ihn nicht. Mit dem Blockaltesten werden schon fertig.«

Lewinsky grinste fluchtig. »Ihr habt euch ganz gut rausgemacht. Komm, Burger.«

»Also doch ein Transport!« Rosen starrte hinter Berger her. »Sulzbacher hat recht gehabt. Wir hatten nicht uber die Zukunft reden sollen. Es bringt Ungluck.«

»Unsinn! Wir haben zu essen gekriegt. Berger ist gerettet worden. Es ist nicht sicher, ob Neubauer den Befehl weitergibt. Was willst du mit deinem Ungluck? Willst du Garantien auf Jahre haben?«

»Kommt Berger wieder?« fragte jemand hinter 509.

»Er ist gerettet«, sagte Rosen bitter. »Er kommt nicht in den Transport.«

»Halt die Schnauze!« erwiderte 509 scharf. Dann wandte er sich um. Hinter ihm stand Karel.

»Naturlich kommt er wieder, Karel«, sagte er. »Warum bleibst du nicht in der Baracke?«

Karel zog die Schultern hoch. »Ich dachte, ihr hattet ein bi?chen Leder zum Kauen.«

»Hier ist etwas Besseres«, sagte Ahasver. Er gab ihm sein Stuck Brot und die Karotte.

Er hatte sie fur ihn aufbewahrt.

Karel begann sehr langsam zu essen. Nach einer Weile sah er die Blicke der anderen.

Er stand auf und ging weg. Als er wiederkam, kaute er nicht mehr. »Zehn Minuten«, sagte Lebenthal und blickte auf seine Nickeluhr. »Eine gute Leistung, Karel. Bei mir hat es zehn Sekunden gedauert.«

»Konnen wir die Uhr nicht gegen Essen tauschen, Leo?« fragte 509.

»Heute nacht konnen wir nichts tauschen. Nicht einmal Gold.«

»Man kann Leber essen«, sagte Karel.

»Was?«

»Leber. Frische Leber. Wenn man sie gleich herausschneidet, kann man sie essen.«

»Wo herausschneidet?«

»Aus den Toten.«

»Woher hast du das, Karel?« fragte Ahasver nach einiger Zeit.

»Von Blatzek.«

»Von was fur einem Blatzek?«

»Blatzek im Brunner Lager. Er sagte, es sei besser, als selber zu sterben. Die Toten seien tot und wurden sowieso verbrannt. Er hat mir viel beigebracht. Er hat mir gezeigt, wie man sich tot stellt und wie man laufen mu?, wenn hinter einem geschossen wird: Zickzack, unregelma?ig, auf und nieder. Auch wie man Platz zum Atmen im Massengrab behalt und sich nachts ausgrabt. Blatzek wu?te viel.«

»Du wei?t auch genug Karel.«

»Naturlich. Sonst ware ich nicht mehr hier.«

»Stimmt. Aber la?t uns an etwas anderes denken«, sagte 509.

»Wir mussen dem Toten noch Bergers Sachen anziehen.«

Es war leicht. Der Tote war noch nicht starr. Sie packten einige andere Leichen uber ihn. Dann hockten sie sich wieder hin. Ahasver murmelte halblaut. »Du hast viel zu beten diese Nacht, Alter«, sagte Bucher finster.

Ahasver blickte auf. Er horchte einen Augenblick auf das ferne Rollen. »Als der erste Jude von ihnen erschlagen wurde, ohne da? Gericht uber die Morder gehalten wurde, haben sie das Gesetz des Lebens gebrochen«, sagte er langsam. »Sie haben gelacht.

Sie haben gesagt: Was sind schon ein paar Juden gegen das gro?ere Deutschland? Sie haben weggesehen. Dafur werden sie jetzt von Gott geschlagen. Ein Leben ist ein Leben. Auch das armste.« Er begann wieder zu murmeln. Die anderen schwiegen. Es wurde kuhler. Sie krochen enger zusammen.

Der Scharfuhrer Breuer erwachte. Er knipste schlaftrunken die Lampe neben seinem Bett an. Im gleichen Moment leuchteten zwei grune Lichter auf seinem Tisch auf. Es waren zwei kleine elektrische Birnen, die geschickt in den Augenhohlen eines Totenschadels angebracht worden waren. Wenn Breuer noch einmal knipste, erloschen alle anderen Lampen – nur der Totenschadel leuchtete durch das Dunkel weiter. Es war ein interessanter Effekt. Breuer liebte ihn sehr. Auf dem Tisch standen ein Teller mit Kuchenkrumeln und eine geleerte Kaffeetasse. Daneben lagen ein paar Bucher – Abenteuerromane von Karl May. Breuers literarische Bildung erschopfte sich damit und mit einem obszonen Privatdruck uber die Liebesabenteuer einer Tanzerin. Gahnend richtete er sich auf. Er hatte einen schlechten Geschmack im Munde. Eine Weile lauschte er. Die Zellen im Bunker waren stumm. Niemand wagte zu jammern; Breuer hatte den Insassen schon Disziplin beigebracht. Er griff unter das Bett, holte eine Flasche Kognak hervor und langte ein Weinglas vom Tisch herunter. Er fullte es und trank es aus. Dann lauschte er wieder. Das Fenster war geschlossen: trotzdem glaubte er das Grollen der Geschutze zu horen. Er go? sich noch ein Glas ein und trank es. Dann stand er auf und blickte auf seine Uhr. Es war halb drei. Er zog seine Stiefel uber seinen Pyjama. Er brauchte die Stiefel; er trat gern gegen Bauche. Ohne Stiefel hatte das wenig Effekt. Der Pyjama war praktisch; der Bunker war sehr hei?. Breuer hatte genug Kohlen. Das Krematorium war schon knapp daran; aber Breuer hatte sich rechtzeitig einen Vorrat fur seine Zwecke gesichert. Langsam ging er den Korridor entlang. Jede Zelle hatte ein Fenster, durch das man hineinsehen konnte. Breuer hatte das nicht notig. Er kannte seine Menagerie, und er war stolz auf diesen Ausdruck. Ab und zu nannte er ihn auch seinen Zirkus; dann kam er sich mit seiner Peitsche wie ein Dompteur vor. Er ging die Zellen ab wie ein Weinliebhaber seinen Keller. Und so, wie ein Weinkenner den altesten Wein wahlt, so beschlo? Breuer, seinen altesten Gast fur heute vorzunehmen. Es war Lubbe in Zelle 7. Er schlo? sie auf. Die Zelle war klein und unertraglich hei?. Sie hatte einen sehr gro?en Zentralheizungskorper, der voll aufgedreht war An den Rohren war ein Mann mit Handen und Fu?en angekettet. Er hing bewu?tlos knapp uber dem Boden. Breuer betrachtete ihn eine Zeitlang; dann holte er eine Gie?kanne mit Wasser vom Korridor und besprengte den Mann wie eine verdorrte Pflanze. Das Wasser zischte auf den Heizungsrohren und verdampfte. Lubbe ruhrte sich nicht., Breuer schlo? die Ketten auf. Die angebrannten Hande fielen nieder. Der Rest der Gie?kanne spruhte uber die Figur am Boden. Eine Wasserlache bildete sich. Breuer ging mit der Gie?kanne hinaus, um sie noch einmal zu fullen. Drau?en blieb er stehen. Zwei Zellen weiter stohnte jemand. Er stellte die Kanne ab, schlo? die zweite Zelle auf und ging gemachlich hinein. Man horte ihn murmeln; dann kamen dumpfe Gerausche wie Tritte; dann Poltern, Klirren, Sto?en, Schieben und plotzlich gellende Schreie, die langsam in Rocheln ubergingen. Noch ein paar dumpfe Aufschlage, und Breuer erschien wieder. Sein rechter Stiefel war na?. Er fullte die Gie?kanne und schlenderte zuruck zur Zelle 7. »Sieh da!« sagte er. »Aufgewacht!«

Lubbe lag flach am Boden, das Gesicht nach unten. Er versuchte, mit beiden Handen das Wasser auf dem Fu?boden zusammenzuscharren, um es aufzulecken. Er bewegte sich ungeschickt, wie eine halbtote Krote. Plotzlich sah er die volle Gie?kanne. Mit einem leisen Krachzen baumte er sich auf, warf sich herum und haschte danach.

Breuer trat ihm auf die Hande. Lubbe konnte sie nicht unter den Stiefeln fortziehen. Er reckte seinen Hals, so weit er konnte, zur Gie?kanne hin; seine Lippen bebten, sein Kopf zitterte, und er krachzte mit gro?er Anstrengung.

Breuer betrachtete ihn mit den Augen des Fachmannes. Er sah, da? Lubbe fast fertig war. »Na, sauf schon«, knurrte er. »Sauf deine Henkersmahlzeit.«

Er grinste uber seinen Witz und stieg von den Handen herunter. Lubbe warf sich uber die Kanne mit solcher Hast, da? sie schwankte. Er glaubte nicht an sein Gluck. »Sauf langsam«, sagte Breuer.

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