geworden. Die Sonne ging auf. Der Himmel war blau und der Wind sanft und warm. Auf den Chausseen au?erhalb der Stadt war nichts zu sehen; nicht einmal mehr Fluchtlinge. Die Stadt lag schwarz und ausgebrannt da; der Flu?, schlangelte sich hindurch wie eine riesige, glitzernde Schlange, die sich an ihrer Verwesung sattigte. Nirgendwo waren Truppen. Es hatte nachts eine Stunde lang geregnet, einen weichen, schuttenden Regen, und ein paar Wasserlachen waren davon stehengeblieben. 509 hockte neben einer davon und sah zufallig sein Gesicht darin gespiegelt. Er beugte sich tiefer uber die flache, klare Pfutze. Er konnte sich nicht erinnern, wann er das letztemal in einen Spiegel geschaut hatte; es mu?te viele Jahre her sein. Im Lager hatte er nie einen gesehen; und das Gesicht, das ihm jetzt entgegenstarrte, kannte er nicht. Die Haare waren wei?graue Stoppeln. Sie waren vor dem Lager voll und braun gewesen. Er wu?te, da? sie die Farbe geandert hatten, er hatte das gesehen, wenn beim Haarschneiden die Buschel zu Boden gefallen waren; aber loses Haar auf dem Boden schien nichts mehr mit einem zu tun zu haben. Im Gesicht erkannte er kaum etwas; nicht einmal die Augen. Was da uber einem schadhaften Gebi? und uber zu gro?en Nasenlochern in zwei Hohlen flackerte, war nur etwas, das ihn von den Toten unterschied. Das bin ich? dachte er. Er sah sich wieder an. Er hatte sich denken sollen, da? er ahnlich aussah wie alle anderen, aber er hatte es nie wirklich gedacht. Er hatte die anderen gesehen, Jahr fur Jahr, und bemerkt, wie sie sich verandert hatten; aber da er sie jeden Tag gesehen hatte, war es ihm weniger aufgefallen als jetzt, wo er sich seit so langer Zeit zum ersten Male selber sah. Es hatte nichts damit zu tun, da? sein Haar grau und unregelma?ig und da? sein Gesicht nur noch ein Hohn auf das kraftige, fleischige seiner Erinnerung war – was ihn besturzte, war, da? das, was er vor sich sah, ein alter Mann war. Er sa? eine Weile sehr still. Er hatte viel gedacht in diesen letzten Tagen; doch nie daran, da? er alt war. Zwolf Jahre Zeit waren nicht sehr viel. Zwolf Jahre eingesperrt sein, war mehr. Und zwolf Jahre KZ – wer konnte wissen, wieviel das spater sein wurde? Hatte er Kraft genug behalten? Oder wurde er zusammenbrechen, wenn er hinauskam, wie ein von innen morscher Baum, der in der Windstille noch gesund erscheint, aber beim ersten Sturm sturzt? Denn eine Windstille, eine gro?e, entsetzliche, einsame, hollische – aber trotz allem, eine Windstille war dieses Lagerleben gewesen. Kaum ein Laut von der Welt drau?en war hineingedrungen. Was wurde werden, wenn der Stacheldraht fiel? 509 starrte noch einmal in die blanke Pfutze. Das sind meine Augen, dachte er: Er beugte sich tief, um sie genau zu sehen. Unter seinem Atem krauselte sich das Wasser, und das Bild verschwamm. Das sind meine Lungen, dachte er, und sie pumpen noch. Er tauchte die Hand in die Lache und spritzte das Wasser auseinander – und das sind meine Hande, die dieses Bild zerstoren konnen – Zerstoren, dachte er. Aber aufbauen? Hassen. Aber kann ich noch anders? Ha? allein ist wenig. Man braucht mehr als Ha? zum Leben.
Er richtete sich auf. Er sah Bucher kommen. Der hat es, dachte er. Er ist Jung. »509«, sagte Bucher. »Hast du es gesehen? Das Krematorium arbeitet nicht mehr.«
»Wahrhaftig!«
»Das Kommando ist tot. Sie scheinen noch kein neues bestimmt zu haben. Warum wohl nicht?
Sollte -«
Sie sahen sich an. »Sollte es keinen Zweck mehr haben? Sollten sie schon -«
Bucher stockte.
»Abziehen?« sagte 509.
»Vielleicht. Es sind heute morgen keine Toten mehr abgeholt worden.« Rosen und Sulzbacher kamen heran. »Man hort keine Geschutze mehr«, sagte Rosen. »Was mag blo? los sein?«
»Vielleicht sind sie durchgebrochen.«
»Oder zuruckgeworfen. Es hei?t, da? die SS das Lager verteidigen will.«
»Latrinenparole. Alle funf Minuten kommt was Neues durch. Wenn sie wirklich das Lager verteidigen, werden wir bombardiert.« 509 blickte auf. Ich wollte, es ware schon wieder Nacht, dachte er. Man kann sich besser verstecken im Dunkeln. Wer wei?, was noch alles passieren wird? Der Tag hatte viele Stunden, und der Tod brauchte nicht mehr als Sekunden. Viele Tode konnten verborgen sein in den schimmernden Stunden, die die Sonne erbarmungslos vom Horizont heraufbrachte. »Da ist ein Flugzeug«, rief Sulzbacher.
Er zeigte aufgeregt in den Himmel. Nach einer Weile sahen alle den kleinen Fleck.
»Es mu? ein deutsches sein!« flusterte Rosen. »Sonst ware doch Alarm.«
Sie blickten sich nach einem Versteck um. Es waren Geruchte umgegangen, da? deutsche Flugzeuge beauftragt seien, das Lager im letzten Augenblick vom Erdboden zu bombardieren.
»Es ist nur eins! Nur ein einzelnes!«
Sie blieben stehen. Fur ein Bombardement hatte man wahrscheinlich mehr als ein Flugzeug ausgeschickt. »Vielleicht ist es ein amerikanischer Beobachter«, sagte Lebenthal, der plotzlich auftauchte. »Dafur geben sie keinen Alarm mehr.«
»Woher wei?t du das?«
Lebenthal antwortete nicht. Sie starrten alle auf den Fleck, der sich rasch vergro?erte.
»Es ist kein Deutscher!« sagte Sulzbacher.
Sie konnten das Flugzeug jetzt deutlich sehen. Es scho? gerade auf das Lager los. 509 hatte ein Gefuhl, als zerre eine Faust aus der Erde seine Eingeweide zu Boden. Es war, als stande er nackt auf einer Plattform, dargebracht einer finsteren, heruntersto?enden Mordgottheit, ohne fliehen zu konnen. Er bemerkte, da? die anderen am Boden lagen, und begriff nicht, da? er stehen» geblieben war.
In diesem Augenblick prasselten Schusse. Das Flugzeug richtete sich aus seinem Sturzflug auf, wendete und umflog das Lager. Die Schusse waren vom Lager gekommen. Die Maschinengewehre prasselten hinter den Kasernen. Das Flugzeug kam noch dichter herunter. Alle starrten hinauf. Und auf einmal bewegte es die Flugel.
Es sah aus, als winke es mit ihnen. Im ersten Augenblick glaubten die Haftlinge, es sei angeschossen; aber es machte eine neue Runde, und die Flugel bewegten sich noch zweimal, auf und nieder, wie Vogelflugel. Dann flog es aufwarts, wieder davon. Schusse knatterten ihm nach. Auch von einigen Turmen wurde jetzt geschossen. Aber gleich darauf verebbten die Schusse, und man horte nur noch das Summen des Motors. »Es war ein Signal«, sagte Bucher. »Es sah aus, als winke es mit den Flugeln. Wie jemand, der mit der Hand winkt.« »Es war ein Signal fur uns! Ganz sicher. Was sonst?« »Es wollte zeigen, da? sie wissen, wir sind hier! Es war fur uns! Es kann nichts anderes gewesen sein. Was glaubst du, 509?« »Ich glaube es auch.« Es war fast das erste Zeichen, das sie von drau?en erhalten hatten, seit sie im Lager waren. Die entsetzliche Einsamkeit all der Jahre schien plotzlich durchbrochen. Sie sahen, da? sie nicht tot waren fur die Welt. Man dachte an sie. Unbekannte Retter winkten ihnen zu. Sie waren nicht mehr allein. Es war der erste sichtbare Gru? der Freiheit. Sie waren nicht mehr der Dreck der Erde, m Man schickte, trotz Gefahr, ein Flugzeug, um ihnen zu versichern, da? man um sie wisse und da? man kame fur sie. Sie waren nicht mehr der Dreck der Erde, verabscheut, bespuckt, geringer als Wurmer – sie waren wieder Menschen – fur Menschen, die sie nicht kannten. Was ist los mit mir? dachte 509. Tranen? Ich? Ein alter Mann?
Neubauer betrachtete den Anzug. Selma hatte ihn an die vorderste Stelle in seinem Schrank gehangt. Er verstand den Wink. Zivil – er hatte das seit 1933 nicht mehr getragen. Ein grauer »Pfeffer-und-Salz«-Anzug. Lacherlich. Er nahm ihn vom Bugel und betrachtete ihn. Dann zog er die Uniform aus, ging zur Tur des Schlafzimmers, schlo? sie ab und probierte die Jacke des Anzuges. Sie war zu eng. Er konnte sie nicht zuknopfen; auch nicht, wenn er den Bauch einzog. Er trat vor den Spiegel. Er sah albern aus. Er mu?te mindestens drei?ig, vierzig Pfund zugenommen haben. Das war schlie?lich kein Wunder; vor 33 hatte man verdammt sparen mussen. Sonderbar, wie die Entschlossenheit sich aus einem Gesicht verlor, wenn die Uniform fehlte! Man wurde wabblig, weich. Fuhlte sich auch so. Er betrachtete die Hose. Sie wurde noch weniger passen als die Jacke. Keinen Zweck, sie zu probieren. Wozu uberhaupt das Ganze? Er wurde das Lager ubergeben, korrekt. Man wurde ihn militarisch korrekt behandeln. Es gab dafur Traditionen, Umgangsformen, militarische Uberlieferungen. Man war ja selbst Soldat. So gut wie Soldat. Uniformtrager. Hoher Offizier. Man verstand sich da. Neubauer reckte sich. Man wurde ihn internieren, das war moglich. Fur eine kurze Zeit sicherlich nur. Vielleicht auf einem Schlo? in der Umgebung, mit Herren desselben Ranges. Er uberlegte, wie er das Lager ubergeben sollte. Militarisch, selbstverstandlich. Straffer Salut, Kein Hitlergru? mit erhobener Hand. Nein, besser nicht. Militarisch, einfach, Hand an der Mutze. Er machte ein paar Schritte und salutierte. Nicht steif, nicht wie ein Untergeordneter. Er probierte es noch einmal. Es war gar nicht so leicht, die richtige Mischung von Korrektheit und eleganter Wurde herauszukriegen. Die Hand flog zu hoch. Immer noch dieser verdammte Hitlergru?. Eigentlich eine blodsinnige Art zu gru?en, fur erwachsene Menschen. Die Hand hochrei?en – das pa?te fur Wandervogel, aber nicht fur Offiziere. Sonderbar, da? man es so