gebildet wurde, um zweihundert andere, die ihn nicht mehr aushaken konnten, zu retten. Werner hockte in einem Hospitalkittel neben der Fleckfieberabteilung. »Jede Stunde arbeitet fur uns«, murmelte er. »Ist Hoffmann noch bei Neubauer?« »Ja.« »Wenn er nichts erreicht, mussen wir uns selbst helfen.« »Mit Gewalt?« fragte Lewinsky. »Nicht offen mit Gewalt. Halb mit Gewalt. Aber erst morgen. Morgen sind wir doppelt so stark wie heute.« Werner blickte aus dem Fenster und nahm dann seine Tabellen wieder vor. »Noch einmal. Wir haben Brot fur vier Tage, wenn wir taglich eine Ration ausgeben. Mehl. Graupen, Nudeln sind -«

»Also gut, Herr Doktor. Ich werde es auf meine Kappe nehmen. Bis morgen.« Neubauer blickte dem Hospitalleiter nach und pfiff leise vor sich hin. Du auch, dachte er. Meinetwegen! Je mehr, desto besser. Konnen uns gegenseitig entlasten. Vorsichtig legte er den Transportbefehl in seine besondere Mappe. Dann tippte er auf der kleinen Reiseschreibmaschine seine Anordnung, den Transport zu verschieben, und fugte sie hinzu. Er offnete das Safe, packte die Mappe hinein und schlo? ab. Der Befehl war ein Glucksfall gewesen. Er holte die Mappe noch einmal hervor und offnete die Schreibmaschine wieder. Langsam tippte er ein neues Memorandum -die Aufhebung von Webers Anordnung, kein Essen auszugeben. Dafur ein eigener Befehl furreichliches Abendessen im Lager. Kleine Dinge – aber alle von Wert. In der SS-Kaserne herrschte eine gedruckte Stimmung. Der Oberscharfuhrer Kammler uberlegte verdrossen, ob er pensionsberechtigt sei und ob die Pension bezahlt werden wurde; er war ein verkrachter Student und hatte nichts gelernt, um arbeiten zu konnen. Der SS-Mann und ehemalige Schlachtergeselle Florstedt grubelte daruber nach, ob wohl alle Leute tot seien, die er in den Jahren 1933 bis 1935 unter den Handen gehabt hatte. Er wunschte es. Von etwa zwanzig wu?te er es. Er hatte sie selbst mit Peitschen, Tischbeinen und Ochsenziemern erledigt. Aber von etwa zehn anderen wu?te er es nicht so genau. Der kaufmannische Angestellte, Scharfuhrer Bolte, hatte gern von einem Fachmann erfahren, ob seine Unterschlagungen im Zivilberuf verjahrt waren oder nicht. Niemann, der Abspritzer, hatte einen homosexuellen Freund in der Stadt, der versprochen hatte, ihm falsche Papiere zu besorgen; aber er traute ihm nicht und nahm sich vor, eine letzte Spritze fur ihn bereitzuhalten. Der SS-Mann Duda beschlo?, sich nach Spanien und Argentinien durchzuschlagen; er erwartete, da? man in solchen Zeiten immer Leute gebrauchen konne, die vor nichts zuruckschreckten. Breuer totete im Bunker den katholischen Vikar Werkmeister, indem er ihn langsam, mit Pausen, erdrosselte. Der Scharfuhrer Sommer, ein sehr klein gewachsener Mensch, der eine besondere Freude daran gehabt hatte, gro? gewachsene Haftlinge zu entsetztem Schreien zu bringen, war voll Wehmut wie ein verbluhendes Madchen nach den goldenen Tagen der Jugend. Ein halbes Dutzend anderer SS- Leute hoffte, die Haftlinge wurden ihnen gute Zeugnisse ausstellen; einige glaubten noch an einen Sieg Deutschlands; andere waren bereit, zu den Kommunisten uberzugehen; eine Anzahl war bereits uberzeugt, nie wirkliche Nazis gewesen zu sein; viele dachten einfach gar nichts, weil sie es nie gelernt hatten. Fast alle aber hatten das Bewu?tsein, da? sie stets auf Befehl gehandelt hatten und dadurch von jeder personlichen und menschlichen Schuld frei waren.

»Uber eine Stunde«, sagte Bucher.

Er blickte auf die leeren Maschinengewehrturme. Die Wachen waren abgezogen, und es war keine Ablosung gekommen. Das war schon ab und zu vorher passiert; doch dann nur auf kurze Zeit und nur im Kleinen Lager. Jetzt aber waren nirgendwo mehr Wachen zu sehen.

Der Tag schien gleichzeitig funfzig Stunden gedauert zu haben und nur drei; so aufregend war er gewesen. Alle waren vollig erschopft; sie konnten kaum noch sprechen. Sie hatten anfangs nicht sehr darauf geachtet, da? die MG-Turme nicht wieder besetzt worden waren. Bucher hatte es dann gemerkt. Er hatte auch gesehen, da? das Arbeitslager ohne Wachen war.

»Vielleicht sind sie schon abgezogen.«

»Nein. Lebenthal hat gehort, da? sie noch da sind.«

Sie warteten weiter. Die Wachen kamen nicht. Es gab Essen. Die Essenholer berichteten, da? noch SS da sei. Es sahe allerdings nach Abzug aus.

Das Essen wurde ausgegeben. Es entstand eine kraftlose Schlagerei. Die ausgehungerten Skelette mu?ten zuruckgetrieben werden. »Es ist genug da fur alle«, rief 509. »Mehr als sonst! Viel mehr!

Jeder kriegt was.«

Es gab endlich Ruhe. Die Kraftigsten bildeten eine Kette um den Kessel, und 509 begann mit dem Verteilen. Berger war noch im Hospital versteckt.

»Seht euch das an! Sogar Kartoffeln!« sagte Ahasver. »Und Sehnen. Ein Wunder!«

Die Suppe war bedeutend dicker als gewohnlich, und es gab fast doppelt soviel wie sonst. Es gab auch doppelte Brotportionen. Es war immer noch viel zuwenig, aber fur das Kleine Lager war es etwas Unbegreifliches. »Der Alte stand selbst dabei«, berichtete Bucher. »Solange ich hier bin, habe ich das nicht gesehen.«

»Er will sich ein Alibi verschaffen.«

Lebenthal nickte. »Sie halten uns hier fur bloder, als wir sind.«

»Nicht einmal.« 509 stellte seinen leeren Topf neben sich. »Sie geben sich keine Muhe, uber uns nachzudenken. Sie glauben, da? wir so sind, wie sie wollen, fertig. Sie tun das uberall. Sie wissen alles und alles immer besser. Deshalb haben sie auch den Krieg verloren. Sie wu?ten alles besser uber Ru?land, England und Amerika.«

Lebenthal rulpste. »Welch ein wunderbarer Laut«, sagte er andachtig »Gro?er Gott, wann habe ich zum letztenmal gerulpst!«

Sie waren aufgeregt und mude. Sie redeten und horten kaum, was sie sagten. Sie lagen auf einer unsichtbaren Insel. Rundum starben Muselmanner. Sie starben trotz der kraftigeren Suppe.

Langsam bewegten sie ihre Spinnenglieder und krachzten und flusterten ab und zu oder schliefen hinuber. Bucher ging langsam, so gerade aufgerichtet, wie er konnte, uber den Appellplatz zu dem doppelten Stacheldrahtzaun hinuber, der die Frauenbaracke vom Kleinen Lager trennte. Er lehnte sich dagegen. »Ruth.« Sie stand auf der anderen Seite. Das Abendrot farbte ihr Gesicht und gab ihm einen Schein von Gesundheit, als hatte sie schon viele gute Mahlzeiten hinter sich. »Da stehen wir«, sagte Bucher. »Da stehen wir, offen, und kummern uns um nichts.« Sie nickte. Ein schwaches Lacheln huschte uber ihr Gesicht. »Ja. Zum ersten Male.« »Als sei es ein Gartenzaun. Wir konnen uns dagegenlehnen und miteinander sprechen. Ohne Angst. Wie an einem Gartenzaun im Fruhling.« Sie waren trotzdem nicht ohne Angst. Sie blickten alle Augenblicke hinter sich und zu den unbesetzten Turmen hinuber. Es sa? viel zu tief in ihnen. Sie wu?ten es. Sie wu?ten auch, da? sie es uberwinden mu?ten. Sie lachelten sich zu, und jeder versuchte, langer als der andere auszuhalten, nicht rasch einen hastigen Blick seitwarts zu werfen. Andere fingen an, es nachzumachen. Wer konnte, richtete sich auf und ging umher. Manche naherten sich dem Stacheldraht weiter, als erlaubt war – so weit, da? die Wachen schon geschossen hatten, wenn sie dagewesen waren. Es lag eine sonderbare Befriedigung darin. Es schien kindisch, und es war alles andere, nur nicht kindisch. Sie schritten vorsichtig auf ihren Stelzbeinen dahin; manche schwankten und mu?ten sich festhalten; die Kopfe hoben sich, die Augen in den verwusteten Gesichtern starrten nicht mehr auf den Boden ins Leere – sie begannen wieder zu sehen. Etwas fast Vergessenes ruhrte sich in den Gehirnen, qualvoll, besturzend und beinahe noch ohne Namen. So wanderten sie uber den Platz, voruber an den Haufen von Toten, voruber an den Haufen teilnahmsloser Kameraden, die starben oder sich nur noch bewegten und an Essen denken konnten – eine geisterhafte Promenade von Skeletten, in denen ein Funke Leben trotz allem nicht erstorben war. Das Abendrot erlosch. Blaue Schatten wucherten im Tal und uberschwemmten die Hugel. Die Wachen waren immer noch nicht zuruck. Die Nacht wurde tiefer. Bolte erschien nicht zum Abendappell. Lewinsky brachte Nachrichten. In den Kasernen war gro?e Tatigkeit. Man erwartete die Amerikaner in ein bis zwei Tagen. Der Transport morgen wurde nicht mehr zusammengestellt werden. Neubauer sei in die Stadt gefahren. Lewinsky grinste mit allen Zahnen. »Nicht mehr lange! Ich mu? zuruck!« Er nahm drei von den Versteckten mit. Die Nacht war sehr still. Sie kam gro? und mit allen Sternen.

XXIV

Der Larm begann gegen Morgen. 509 horte zuerst das Schreien. Es kam von weit her durch die Stille. Es war nicht das Schreien gefolterter Menschen; es war das Grolen einer betrunkenen Rotte.

Schusse knatterten. 509 fuhlte nach seinem Revolver. Er hatte ihn unter dem Hemd. Er versuchte zu horen, ob

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