nur die SS feuerte oder ob Werners Leute bereits antworteten.
Dann kam das Bellen eines leichten Maschinengewehres.
Er kroch hinter einen Haufen Toter und beobachtete den Eingang zum Kleinen Lager.
Es war noch dunkel, und neben dem Haufen waren noch so viele einzelne Tote verstreut, da? er sich leicht dazulegen konnte, ohne aufzufallen.
Das Brullen und Schie?en dauerte einige Minuten. Dann wurde es plotzlich starker und kam naher. 509 druckte sich dichter hinter die Toten. Er sah das rote Stottern des Maschinengewehres. Einschusse klatschten uberallhin. Ein halbes Dutzend SS-Leute kam feuernd den gro?en Mittelweg herunter. Sie Schossen in die Baracken zu beiden Seiten. Ab und zu patschten verirrte Kugeln weich in die Haufen der Toten. 509 lag flach und vollig gedeckt auf dem Boden. Auf allen Seiten erhoben sich Haftlinge wie verangstigte Vogel. Sie flatterten mit den Armen und taumelten ziellos umher. »Hinlegen!« rief 509. »Hinlegen! Tot stellen! Still liegenbleiben!« Einige horten ihn und lie?en sich fallen. Andere stolperten auf die Baracke los und stauten sich an den Turen. Die meisten, die drau?en waren, blieben liegen, wo sie lagen. Der Trupp kam an der Latrine vorbei, auf das Kleine Lager los. Das Tor wurde aufgerissen. 509 sah im Dunkeln die Silhouetten und im Aufspruhen der Revolver die verzerrten Gesichter. »Hierher!« schrie jemand. »Hier zu den Holzbaracken! Wollen den Brudern mal einheizen. Frieren sicher! Hierher!« »Los! 'ran hier! Los, Steinbrenner. Bringt die Kannen her!« 509 erkannte Webers Stimme. »Da sind ja welche vor der Tur!« rief Steinbrenner. Das leichte MG spuckte in den dunklen Haufen an der Tur. Er sank langsam in sich zusammen. »Gut so! Und jetzt los!« 509 horte Glucksen, als wenn Wasser ausgeschuttet wurde. Er sah dunkle Kannen, die geschwenkt wurden und aus denen Flussigkeit hoch uber die Wande schwappte. Dann roch er das Benzin. Die Elitetruppe Webers hatte Abschied gefeiert. Um Mitternacht war der Befehl zum Abrucken durchgekommen, und die meisten Truppen waren bald abmarschiert; aber Weber und seine Rotte hatten noch Schnaps genug und sich rasch besoffen. Sie wollten nicht einfach so abziehen und waren noch einmal durch das Lager gesturmt. Weber hatte angeordnet, Benzinkannen mitzunehmen. Sie wollten ein Fanal hinterlassen, an das man noch lange denken sollte. Die Baracken, die aus Stein waren, hatten sie in Ruhe lassen mussen; dafur aber hatten sie an den alten polnischen Holzbaracken alles, was sie suchten. »Feuerzauber! Los!« schrie Steinbrenner. Ein Streichholz flammte auf; gleich darauf brannte eine Schachtel. Der Mann, der sie hielt, warf sie auf den Boden. Ein anderer warf eine zweite in eine Kanne, die dicht neben der Baracke stand. Sie erlosch. Aber von dem hellen Rot des ersten Streichholzes lief ein dunner blauer Streifen uber den Boden zur Baracke, die Wand hinauf, schlug facherformig, gasig auseinander und verbreitete sich zu einer zitternden blauen Flache. Es sah im ersten Augenblick nicht gefahrlich aus, sondern wirkte wie eine kalte, elektrische Entladung, dunn und wehend, die rasch verloschen wurde. Dann aber begann es zu knistern, und in dem blauen Wehen zum Dache hin tauchten herzformige, gelbe, wabernde Feuerkerne auf – Flammen. Die Tur offnete sich ein Stuck. »Knallt die 'runter, die 'rauskommen!« kommandierte Weber. Er hatte ein Maschinengewehr unter dem Arm und feuerte. Eine Gestalt fiel in der Tur nach hinten. Bucher, dachte 509. Ahasver. Sie schliefen dicht an der Tur. Ein SS-Mann sprang vor, ri? die zusammengesunkenen Gestalten, die noch vor dem Eingang lagen zur Seite, stie? die Tur wieder zu und sprang zuruck. »Jetzt kann's losgehen! Hasenjagd!« Das Feuer scho? bereits in Garben hoch. Durch das Brullen der SS-Leute horte man das Schreien der Gefangenen. Die Tur der nachsten Sektion offnete sich. Menschen purzelten heraus. Die Munder waren schwarze Locher. Schusse knatterten. Keiner kam durch. Wie ein Haufen Spinnen zuckten sie vor dem Eingang. 509 hatte im Anfang erstarrt dagelegen. Jetzt richtete er sich vorsichtig auf Er sah vor den Flammen die Silhouetten der SS deutlich. Er sah Weber breitbeinig dastehen. Langsam, dachte er, wahrend alles in ihm zitterte. Langsam, eines nach dem anderen.
Er holte den Revolver unter dem Hemd hervor. Dann horte er in einer kurzen Stille zwischen dem Brullen der SS und dem Sausen des Feuers das Schreien der Gefangenen lauter. Es war ein hohes, Unmenschliches Schreien. Ohne zu uberlegen, zielte er auf den Rucken Webers und druckte ab.
Er horte den Schu? unter den anderen Schussen nicht. Er sah Weber auch nicht fallen.
Und plotzlich fiel ihm ein, da? er keinen Rucksto? der Waffe in der Hand gespurt hatte. Ihm war, als hiebe ihm jemand mit einem Hammer gegen das Herz. Der Revolver hatte nicht funktioniert.
Er merkte nicht, da? er sich die Lippen zerbi?. Ohnmacht sturzte wie Nacht uber ihn herein, er bi? und bi?, um nicht in den schwarzen Nebel zu versinken. Na? geworden, wahrscheinlich, unbrauchbar, Tranen, Salz, Wut, ein letztes Tasten – und dann plotzlich die Erlosung, die rasche, huschende Hand uber die glatte Flache, ein kleiner Hebel, der nachgab, und Stromen, Stromen – der Revolver war nicht entsichert gewesen.
Er hatte Gluck. Niemand von der SS wandte sich um. Sie erwarteten nichts von seiner Seite. Sie standen und schrieen und hielten die Turen unter Feuer. 509 hob die Waffe gegen die Augen. Er sah in der flackernden Helle, da? sie jetzt entsichert war. Seine Hande zitterten immer noch. Er lehnte sich uber den Haufen Toter und stutzte die Arme auf, um mehr Sicherheit zu haben. Er zielte mit beiden Handen. Weber stand etwa zehn Schritte vor ihm. 509 holte einige Male langsam Atem.
Dann hielt er die Luft an, machte seine Arme so starr wie moglich und krummte langsam den Finger.
Der Schu? ging in den anderen Schussen unter. Aber 509 spurte den Ruckschlag sehr stark. Er feuerte noch einmal. Weber stolperte nach vorn, blickte sich halb um, als sei er ungeheuer erstaunt, und knickte in den Knien ein. 509 scho? weiter. Er zielte auf den nachsten SS-Mann, der ein MG unter dem Arm hatte. Er druckte und druckte den Abzugshebel noch, als er langst keine Patronen mehr hatte. Der andere fiel nicht. 509 stand eine Sekunde, den Revolver schlaff in der Hand. Er hatte erwartet, sofort erschossen zu werden. Aber niemand hatte in all dem Geknalle etwas von ihm gemerkt. Er lie? sich hinter dem Haufen Toter auf den Boden fallen.
In diesem Augenblick sah einer der SS-Leute Weber. »He!« schrie er. »Sturmfuhrer!«
Weber hatte seitlich hinter ihnen gestanden, und sie hatten nicht gleich bemerkt, was passiert war.
»Sturmfuhrer! Was ist los?«
»Er ist verwundet!«
»Wer hat das gemacht? Wer von euch?«
»Sturmfuhrer!«
Sie kamen nicht auf den Gedanken, da? Weber anders als durch einen Fehlschu? getroffen worden sein konnte. »Verflucht! Welcher Idiot -«
Neue Schusse knatterten. Aber sie kamen vom Arbeitslager her. Man sah das Aufblitzen. »Die Amerikaner!« schrie einer der SS-Leute. »Los! Verschwinden!«
Steinbrenner feuerte in die Richtung der Latrine. »Verschwinden! Rechts herum! Uber den Appellplatz!« rief jemand. »Rasch! Bevor sie uns hier abschneiden!«
»Der Sturmfuhrer!«
»Wir konnen ihn nicht mitschleppen!«
Das Aufblitzen von der Richtung der Latrine her kam naher. »Los! Los!«
Die SS-Leute rannten feuernd um die brennende Baracke herum. 509 erhob sich. Er taumelte auf die Baracke zu. Einmal fiel er. Dann stie? er die Tur auf. »'raus! 'raus! Sie sind fort!«
»Sie schie?en noch -«
»Das sind unsere! 'raus! 'raus!«
Er stolperte zur nachsten Tur und begann an Armen und Beinen zu zerren,»'raus! 'raus! Sie sind fort!«
Gestalten brachen durch die Tur, uber die Liegenden hinweg. 509 hastete weiter. Die Tur von A brannte bereits. Er konnte nicht heran. Er schrie und schrie, er horte Schusse, Larm, ein Stuck brennenden Holzes fiel ihm vom Dach auf die Schulter, er sturzte, stolperte wieder hoch, fuhlte einen heftigen Schlag und kam zu sich, als er auf der Erde sa?. Er wollte aufstehen, aber er konnte es nicht. Er horte von weitem Rufe und sah, als sei es sehr fern, Menschen, viele plotzlich, keine SS-Leute mehr, Gefangene, die Leute trugen, uber ihn stolperten – er kroch weg. Er konnte nichts mehr tun. Er war plotzlich todmude. Er wollte aus dem Wege sein. Er hatte den zweiten Mann nicht getroffen. Vielleicht auch Weber nicht richtig. Es war vergebens gewesen. Er hatte versagt. Er kroch weiter. Da war der Haufen der Toten. Er gehorte dazu. Er war nichts wert. Bucher tot. Ahasver tot. Er hatte es Bucher machen lassen sollen. Ihm den Revolver geben sollen. Es ware besser gewesen. Wozu war er nun nutze gewesen? Er lehnte sich muhsam gegen den Haufen. Irgendwas schmerzte. Er schob die Hand gegen die Brust und hob sie hoch. Sie war blutig. Er sah es, ohne da? es Eindruck auf ihn machte. Er war nicht mehr er. Er fuhlte nur noch die Hitze und horte die Schreie. Dann wurden sie ferner.
Er erwachte. Die Baracke brannte noch. Es roch nach verbranntem Holz und verkohltem Fleisch und Verwesung. Die Hitze hatte die Toten erwarmt. Sie hatten schon tagelang gelegen und begannen zu tropfen und zu stinken. Das entsetzliche Schreien war verstummt. Eine endlose Prozession von Leuten trug versengte und