brauchen sie – vielleicht nur einen -«, Bucher stockte.
»Einen Tag?« wiederholte Lebenthal. »Was sagst du da? Einen Tag?« Wenn sie durchbrechen.
Wir haben gestern noch nichts gehort. Heute ist es da.
Morgen kann es naher sein. Ubermorgen – oder am Tag nach ubermorgen -« »Rede nicht! Rede nicht so etwas! Mach keine Menschen verruckt!« schrie Lebenthal plotzlich.
»Es ist moglich, Leo«, sagte 509.
»Nein!« Lebenthal schlug die Hande vor die Augen.
»Was meinst du, 509?« Bucher hatte ein totblasses, erregtes Gesicht. »Ubermorgen? Oder wieviel Tage?«
»Tage!« schrie Lebenthal und lie? die Hande sinken. »Wie konnen es jetzt nur noch Tage sein?«
murmelte er. »Jahre, Ewigkeiten, und jetzt redet ihr auf einmal von Tagen, Tagen! Lugt nicht!« Er kam naher. »Lugt nicht!« flusterte er. »Ich bitte euch, lugt nicht!«
»Wer wurde bei so etwas lugen?« 509 wendete sich um. Goldstein stand direkt hinter ihm. Er lachelte. »Ich hore es auch«, sagte er. Seine Augen wurden gro?er und gro?er und sehr schwarz.
Er lachelte und hob die Arme und die Beine in einer Gebarde, als. wolle er tanzen, lachelte nicht mehr und fiel vornuber.
»Er ist ohnmachtig geworden«, sagte Lebenthal. »Macht seine Jacke auf. Ich werde Wasser holen.
Es mu? noch etwas in der Abflu?rinne sein.«
Bucher, Sulzbacher, Rosen und 509 drehten Goldstein um. »Sollen wir Berger holen?« fragte Bucher. »Kann er aufstehen?«
»Warte.« 509 beugte sich dicht uber Goldstein. Er knopfte die Jacke und den Hosengurt auf. Als er sich aufrichtete, war Berger da. Lebenthal hatte ihm Bescheid gesagt. »Du solltest doch in deinem Bett bleiben«, sagte 509.
Berger kniete neben Goldstein nieder und horchte ihn ab. Es dauerte nicht lange. »Er ist tot«, erklarte er. »Herzschlag, wahrscheinlich. Es war immer zu erwarten. Sie haben sein Herz vollig kaputt gemacht.«
»Er hat es noch gehort«, sagte Bucher. »Das ist die Hauptsache. Er hat es noch gehort.«
»Was?« 509 legte den Arm um die schmalen Schultern Bergers. »Ephraim«, sagte er sanft. »Ich glaube, es ist soweit.«
»Was?«
Berger sah auf. 509 merkte plotzlich, da? es ihm schwer wurde, zu sprechen »Sie -«, sagte er und stockte und zeigte dann mit der Hand zum Horizont. »Sie kommen, Ephraim. Wir konnen sie schon horen.« Er blickte auf die Drahtpalisaden und die MG-Turme, die im milchigen Wei? schwammen. »Sie sind da, Ephraim -«
Mittags sprang der Wind um, und das Grollen wurde etwas deutlicher. Es war wie ein ferner elektrischer Kontakt, der ubersprang in Tausende von einzelnen Herzen. Die Baracken wurden unruhig. Nur einige Arbeitskommandos wurden ausgeschickt. Uberall waren Gesichter an die Fenster gepre?t. Wieder und wieder erschienen dunne Gestalten vor den Turen und standen mit gereckten Kopfen da. »Ist es naher gekommen?« »Ja. Es scheint, da? es deutlicher geworden ist.« In der Schuhabteilung arbeiteten alle schweigend. Die Kapos pa?ten auf, da? nicht gesprochen wurde, die SS-Aufsicht war da. Die Messer trennten das! Leder, schnitten bruchige Stucke fort, und in vielen Handen fuhlten sie sich! anders an als sonst. Nicht als Werkzeuge; als Waffen. Hier und da traf ein Blick die Kapos, die SS und die Revolver und das leichte Maschinengewehr, das am Tage vorher noch nicht dagewesen war. Aber trotz aller Wachsamkeit der Aufseher wu?te jeder einzelne in der Abteilung den ganzen Tag Bescheid. Die meisten hatten seit Jahren gelernt zu sprechen, ohne die Lippen zu bewegen, und fast jedesmal, nachdem die vollen Korbe mit den Lederstucken zusammen» geschuttet und fortgetragen worden waren, lief durch die Gruppe derjenigen die sitzengeblieben waren, bald die Meldung der Trager, die andere von drau?en gesehen hatten: Man hort es noch. Es hat nicht aufgehort. Die Au?en-Arbeitskommandos waren doppelt bewacht. Sie marschierten um die Stadt herum und dann von Westen herein in den alten Teil zum Markt. Die Wachen waren sehr nervos. Sie schrieen und kommandierten ohne Ursache; die Gefangenen marschierten in voller Ordnung. Sie hatten bisher nur in den neuen Stadtteilen aufgeraumt; jetzt kamen sie zum erstenmal in die innere alte Stadt und sahen die Verwustung dort. Sie sahen die niedergebrannten Reste des Viertels, in dem die Holzhauser aus dem Mittelalter gestanden hatten. Fast nichts war davon geblieben. Sie sahen es und marschierten hindurch, und die Bewohner, die noch da waren, blieben stehen oder wendeten sich ab, wenn sie vorbeikamen. Die Haftlinge fuhlten sich nicht mehr als Gefangene, wahrend sie durch die Stra?en marschierten. Auf eine sonderbare Weise hatten sie einen Sieg erfochten, ohne dabeizusein, und die Jahre der Gefangenschaft erschienen plotzlich nicht mehr als Jahre verteidigungsloser Niederlage, sondern als Jahre des Kampfes. Und der Kampf war gewonnen. Sie hatten uberlebt. Sie kamen zum Marktplatz. Das Rathaus war vollig zusammengesturzt. Man gab ihnen Hacken und Schaufeln, um den Schutt zu entfernen. Sie arbeiteten. Es roch nach Brand; aber darunter spurten sie wieder den anderen Geruch, su?lich, faul, gegen den Magen pressend, den Geruch, den sie besser kannten als alle anderen: den Geruch der Verwesung. Die Stadt roch in den warmen Apriltagen nach den Leichen, die noch unter den Trummern begraben waren. Nach zwei Stunden fanden sie unter dem Schutt den ersten Toten. Sie sahen zuerst seine Stiefel. Es war ein SS-Hauptscharfuhrer. »Es hat sich gedreht«, flusterte Munzer. »Es hat sich endlich gedreht! Jetzt graben wir ihre Toten aus. Ihre Toten!« Er arbeitete mit neuer Kraft weiter. »Vorsichtig!« brullte eine Wache, die herankam. »Das ist ein Mensch da, siehst du das nicht?« Sie scharrten mehr Schutt hinweg. Die Schultern kamen heraus und dann der Kopf. Sie hoben den Toten hoch und trugen ihn beiseite. »Weiter!« Der SS-Mann war nervos. Er starrte auf den Toten. »Vorsichtig!« Sie gruben rasch nacheinander noch drei andere aus und legten sie zu dem ersten. Sie trugen sie an ihren Stiefeln und an den uniformierten Armen fort. Es war fur sie ein unerhortes Gefuhl; bislang hatten sie so, zerschlagen und schmutzig, immer nur ihre Kameraden weggetragen, aus Bunkern, aus Folterkammern, sterbend oder tot, und dann, in den letzten Tagen, eine Anzahl Zivilisten. Jetzt, zum erstenmal, waren es ihre Feinde, die sie so trugen. Sie arbeiteten weiter, und niemand brauchte sie anzutreiben.
Der Schwei? uberstromte sie, so arbeiteten sie, um mehr Tote zu finden. Sie schleppten mit Kraften, die sie nie erwartet hatten, Balken und Eisenstangen beiseite und gruben voll Ha? und Genugtuung nach Toten, als gruben sie nach Gold.
Nach einer weiteren Stunde fanden sie Dietz. Er hatte das Genick gebrochen. Der Kopf war vollig auf die Brust heruntergepre?t, als hatte er sich selbst die Kehle durchbei?en wollen. Sie ruhrten ihn anfangs nicht an. Sie schaufelten ihn ganz frei.
Beide Arme waren gebrochen. Sie lagen so da, als hatten sie ein Gelenk zuviel.
»Es gibt einen Gott«, flusterte der Mann neben Munzer, ohne jemand anzusehen. »Es gibt doch einen Gott! Es gibt einen Gott.«
»Schnauze!« schrie ein SS-Mann. »Was sagst du da?«
Er trat dem Mann in die Knie. »Was hast du gesagt? Ich habe gesehen, da? du geredet hast.«
Der Mann richtete sich auf. Er war uber Dietz gefallen. »Ich habe gesagt, wir mu?ten eine Bahre machen fur den Herrn Obergruppenfuhrer«, erwiderte er mit unbewegtem Gesicht. »Wir konnen ihn nicht einfach so tragen wie die anderen.«
»Du hast hier nichts zu sagen! Hier befehlen wir noch! Verstanden? Verstanden?« »Jawohl.«
Noch, horte Lewinsky. Befehlen noch! Sie wissen es also, dachte er. Er hob seinen Spaten.
Der SS-Mann blickte auf Dietz. Unwillkurlich stand er stramm. Das rettete den Gefangenen, der wieder an Gott glaubte. Der SS-Mann drehte sich um und holte den Kolonnenfuhrer. Auch der Kolonnenfuhrer nahm so etwas wie Haltung an.
»Die Bahren sind noch nicht da«, erklarte der SS-Mann. Die Antwort des Mannes, der wieder an Gott glaubte, hatte Eindruck auf ihn gemacht. Einen so hohen SS-Offizier konnte man tatsachlich nicht an Armen und Beinen wegschleppen.
Der Kolonnenfuhrer sah sich um. Er bemerkte ein Stuck weiter eine Tur unter dem Schutt. »Grabt die da aus. Wir mussen uns einstweilen damit helfen.« Er salutierte zu Dietz hinuber »Legt den Herrn Obergruppenfuhrer vorsichtig auf die Tur druben.«
Munzer, Lewinsky und zwei andere holten die Tur. Es war eine geschnitzte Arbeit aus dem 16.
Jahrhundert, die eine Darstellung der Auffindung des Moses zeigte. Sie hatte einen Sprung und war angekohlt. Sie fa?ten Dietz hei den Schultern und den Beinen und hoben ihn hinuber. Die Arme baumelten, und der Kopf fiel sehr weit nach hinten.
»Vorsicht! Lausehunde!« schrie der Kolonnenfuhrer.