Er stapfte hinaus. Selma Neubauer ging zum Fenster. Sie sah ihn in den Wagen steigen. Beweise!
Befehle! dachte sie. Das ist ihnen der Freispruch fur alles. Schon und gut, solange es klappte. Hatte sie nicht selber mitgemacht? Sie blickte auf ihren Ehering. Vierundzwanzig Jahre trug sie ihn nun; er hatte zweimal erweitert werden mussen. Damals, als sie ihn bekam, war sie eine andere Person gewesen. Um die Zeit war auch ein Jude dagewesen, der sie hatte heiraten wollen. Ein kleiner, tuchtiger Mann, der lispelte und nicht schrie. Josef Bomfelder hatte er gehei?en. Er war 1928 nach Amerika gegangen. Kluger Mann. Rechtzeitig. Sie hatte dann noch einmal etwas von ihm gehort, uber eine Bekannte, der er geschrieben hatte, es ginge ihm sehr gut.
Mechanisch drehte sie an ihrem Trauring. Amerika, dachte sie. Da gibt es niemals Inflation.
Die sind zu reich.
509 horchte. Er kannte die Stimme. Vorsichtig hockte er sich hinter den Haufen von Toten und lauschte.
Er wu?te, da? Lewinsky diese Nacht jemand vom Arbeitslager hatte bringen wollen, der einige Tage versteckt bleiben sollte; aber Lewinsky hatte, getreu der alten Regel, da? nur Verbindungsleute sich kennen sollten, nicht gesagt, wer es war.
Der Mann sprach leise, aber sehr klar. »Wir brauchen jeden Mann, der mit uns ist«, sagte er.
»Wenn der Nationalsozialismus fallt, ist zum ersten Male keine geschlossene Partei da, um die politische Leitung zu ubernehmen. Alle sind in den zwolf Jahren zersplittert oder zerstort worden.
Die Reste sind! Untergrund gegangen. Wir wissen nicht, wieviel sich davon erhalten hat. Es wird entschlossene Leute brauchen, um eine neue Organisation aufzubauen. Nur eine einzige Partei wird im Chaos der Niederlage intakt bleiben: der Nationalsozialismus. Ich meine nicht die Mitlaufer, die schlie?en sich jeder Partei an – ich meine den Kern. Er wird geschlossen Untergrund gehen und warten, um wieder herauszukommen. Dagegen haben wir zu kampfen; und dazu brauchen wir Leute.«
Es ist Werner, dachte 509; er mu? es sein; aber ich wei? doch, da? er tot ist.
Er konnte nichts sehen; die Nacht war mondlos und diesig. »Die Massen drau?en sind zum gro?en Teil demoralisiert«, sagte der Mann. »Zwolf Jahre Terror, Boykott, Denunziationen und Angst haben das geschafft – dazu kommt jetzt der verlorene Krieg. Sie konnen durch Untergrundterror und Sabotage noch jahrelang in Angst vor den Nazis gehalten werden. Sie mussen wieder gewonnen werden – die Verfuhrten und Verangstigten. Ironischerweise hat sich die Gegnerschaft zu den Nazis in den Lagern besser erhalten als irgendwo drau?en. Man hat uns zusammengesperrt; drau?en hat man die Gruppen auseinandergetrieben. Drau?en war es schwer, Verbindungen aufrechtzuerhalten; hier war es einfach. Drau?en mu?te fast jeder fur sich durchstehen; hier gab einer dem anderen Kraft; ein Resultat, das die Nazis nicht vorgesehen haben.«
Der Mann lachte. Es war ein kurzes, freudloses Lachen.
»Abgesehen von denen, die getotet worden sind«, sagte Berger. »Und denen, die starben.«
»Abgesehen von denen, naturlich. Aber wir haben Leute ubrigbehalten. Jeder einzelne davon ist hundert andere wert.«
Es mu? Werner sein, dachte 509; er konnte jetzt den schattenhaften Asketenkopf im Dunkeln sehen. Er analysiert bereits wieder. Er organisiert. Er halt Reden; er ist der Fanatiker und Theoretiker seiner Partei geblieben. »Die Lager mussen die Zellen des Wiederaufbaus werden«, sagte die leise, klare Stimme. »Drei Punkte sind da zunachst die wichtigsten. Der erste ist: passiver und im au?ersten Falle aktiver Widerstand gegen die SS, solange sie im Lager ist. Der zweite: die Verhutung von Panik und Exzessen bei der Ubernahme des Lagers. Wir mussen ein Beispiel dafur sein, da? wir Disziplin haben und uns von Rache nicht leiten lassen. Ordentliche Gerichte werden dafur spater -«
Der Mann hielt inne. 509 war aufgestanden und kam auf die Gruppe zu. Sie bestand aus Lewinsky, Goldstein, Berger und dem Fremden. »Werner -«, sagte 509.
Der Mann starrte ins Dunkel. »Wer bist du?«
Er richtete sich auf und kam heran. »Ich dachte, du warest tot«, sagte 509 Werner blickte ihm dicht ins Gesicht. »Koller«, sagte 509.
»Koller! Du lebst noch? Und ich dachte, du warest langst tot.«
»Das bin ich auch. Offiziell.«
»Er ist 509«, sagte Lewinsky.
»Du bist also 509! Das macht die Sache einfacher. Ich bin auch offiziell tot.«
Beide starrten sich durch die Dunkelheit an. Es war keine neue Situation. Mancher im Lager hatte schon jemand wiedergefunden, den er tot geglaubt hatte. Aber 509 und Werner kannten sich noch aus der Zeit vor dem Lager. Sie waren Freunde gewesen; dann hatten ihre politischen Ansichten sie allmahlich auseinandergetrieben.
»Bleibst du jetzt hier?« fragte 509.
»Ja. Fur ein paar Tage.«
»Die SS ist beim Durchkammen der letzten Buchstaben des Alphabets«, sagte Lewinsky. »Sie haben Vogel erwischt. Er lief jemand in die Hande, der ihn kannte.
Einem verdammten Unterscharfuhrer.«
»Ich werde euch nicht zur Last fallen«, erklarte Werner. »Ich sorge fur meine eigene Verpflegung.«
»Sicher«, sagte 509 mit kaum merkbarer Ironie. »Das hatte ich auch nicht anders von dir erwartet.«
»Munzer besorgt morgen Brot. Lebenthal kann es bei ihm abholen. Er besorgt mehr als nur fur mich. Auch etwas fur eure Gruppe.«
»Ich wei?«, erwiderte 509. »Ich wei?, Werner, da? du nichts umsonst nimmst. Bleibst du in 22?
Wir konnen dich auch in 20 unterbringen.«
»Ich kann in 22 bleiben. Du jetzt doch auch. Handke ist ja nicht mehr da.«
Niemand von den anderen spurte, da? zwischen den beiden etwas wie ein Duell in Worten vor sich ging. Wie kindisch wir sind, dachte 509. Vor einer Ewigkeit sind wir politische Gegner gewesen – und immer noch will keiner dem anderen etwas schuldig bleiben. Ich fuhle eine idiotische Genugtuung daruber, da? Werner bei uns Schutz sucht; und er deutet mir an, da? ich ohne seine Gruppe vielleicht von Handke erledigt worden ware.
»Ich habe gehort, was du vorhin erklart hast«, sagte er. »Es stimmt. Was konnen wir tun?«
Sie sa?en noch drau?en. Werner, Lewinsky und Goldstein schliefen in der Baracke.
Lebenthal hatte sie in zwei Stunden zu wecken. Dann sollte gewechselt werden. Die Nacht war schwul geworden. Berger trug trotzdem die warme Husarenattila; 509 hatte darauf bestanden.
»Wer ist der Neue?« fragte Bucher. »Ein Bonze?«
»Er war einer, bevor die Nazis kamen. Nicht allzu gro?. Mittel. Ein Provinzbonze.
Tuchtig. Kommunist. Fanatiker ohne Privatleben und ohne Humor. Jetzt ist er einer der Untergrundfuhrer im Lager.« »Woher kennst du ihn?« 509 dachte nach. »Vor 1933 war ich Redakteur an einer Zeitung. Wir haben oft diskutiert. Und ich habe seine Partei oft angegriffen.
Seine Partei und die Nazis. Wir waren gegen beide.« »Und wofur wart ihr?«
»Fur etwas, das jetzt ziemlich pompos und lacherlich klingt. Fur Menschlichkeit, Toleranz und das Recht des einzelnen auf eine eigene Meinung. Komisch, was?« »Nein«, sagte Ahasver und hustete.
»Was gibt es sonst?« »Rache«, sagte Meyerhof plotzlich. »Rache gibt es noch! Rache fur dieses hier! Rache fur jeden einzelnen Toten! Rache fur alles, was getan worden ist.« s Alle sahen uberrascht auf. Meyerhofs Gesicht war verzerrt. Er hatte die Fauste geballt und schlug jedesmal, wenn er das Wort Rache aussprach, auf den Boden. »Was ist los mit dir?« fragte Sulzbacher.
»Was ist los mit euch?« fragte Meyerhof zuruck. »Er ist verruckt«, sagte Lebenthal. »Er ist gesund geworden, und das hat ihm meschugge gemacht. Sechs Jahre ist er ein angstlicher, mieser Bocher gewesen der sich nicht traute, den Schnabel aufzumachen – dann hat ein Wunder ihn vor dem Schornstein gerettet, und jetzt ist er Samson Meyerhof.«
»Ich will keine Rache«, flusterte Rosen. »Ich will nur hier heraus!« »Was? Und die ganze SS soll davonkommen, ohne da? abgerechnet wird?« »Es ist mir egal! Ich will nur heraus!« Rosen pre?te verzweifelt die Hande zusammen und flusterte so intensiv, als hinge alles davon ab:»Ich will nichts weiter als heraus! Heraus hier!«
Meyerhof starrte ihn an. »Wei?t du, was du bist? Du bist -« »Sei ruhig, Meyerhof!«
Berger hatte sich aufgesetzt. »Wir wollen nicht wissen, was wir sind. Wir alle sind hier nicht, was wir waren