»In ein oder zwei Tagen. Das hat mit dem Blockaltesten nichts zu tun.«

»Hast du sonst etwas gehort?«

Lewinsky blickte 509 prufend an. Dann ruckte er naher heran. »Wir erwarten die Ubernahme des Lagers in etwa zwei Wochen.«

»Was?«

»Ja. In zwei Wochen.«

»Du meinst die Befreiung?«

»Die Befreiung und die Ubernahme durch uns. Wir mussen es ubernehmen, wenn die SS abzieht.«

»Wer wir?«

Lewinsky zogerte wieder einen Augenblick. »Die kunftige Lagerleitung«, sagte er dann. »Es mu? eine dasein, und sie wird bereits organisiert; sonst gibt es nichts als Verwirrung. Wir mussen bereit sein, sofort einzugreifen. Die Verpflegung des Lagers mu? ohne Unterbrechung weitergefuhrt werden, das ist das wichtigste. Verpflegung, Versorgung, Verwaltung – Tausende von Menschen konnen nicht gleich auseinanderlaufen -«

»Hier sicher nicht. Hier konnen nicht alle laufen.«

»Das kommt dazu. Arzte, Medizin, Transportmoglichkeiten, Nahrungsnachschub, Requisitionen dafur in den Dorfern -«

»Und wie wollt ihr das alles machen?«

»Man wird uns helfen, das ist gewi?. Aber wir mussen es organisieren. Die Englander oder Amerikaner, die uns befreien, sind kampfende Truppen. Sie sind nicht ausgerustet dafur, sofort KZ-Lager zu verwalten. Das mussen wir selbst machen. Mit ihrer Hilfe naturlich.« 509 sah den Kopf Lewinskys gegen den wolkigen Himmel. Er war wuchtig und rund, ohne Weichheit.

»Sonderbar«, sagte er. »Wie selbstverstandlich wir mit der Hilfe unserer Feinde rechnen, wie?«

»Ich habe geschlafen«, sagte Berger. »Ich bin wieder in Ordnung. Es war nur der Magen, weiter nichts.«

»Du bist krank, und es ist nicht der Magen«, erwiderte 509. »Ich habe nie gehort, da? man vom Magen Blut spuckt.«

Berger hatte die Augen weit geoffnet. »Ich habe etwas Sonderbares getraumt. Es war sehr deutlich und wirklich. Ich operierte. Das helle Licht -«

Er blickte in die Nacht. »Lewinsky glaubt, da? wir in zwei Wochen frei sind, Ephraim«, sagte 509 behutsam. »Sie empfangen jetzt dauernd Nachrichten.«

Berger ruhrte sich nicht. Es schien, als habe er nichts gehort. »Ich operierte«, sagte er.

»Ich setzte zum Schnitt an. Eine Magenresektion. Ich setzte an, und plotzlich wu?te ich nicht weiter. Ich hatte alles vergessen. Der Schwei? brach mir aus. Der Patient lag da, offen, bewu?tlos – und ich wu?te nicht weiter. Ich hatte die Operation vergessen. Es war entsetzlich.«

»Denk nicht daruber nach. Es war ein Alptraum, weiter nichts. Was habe ich nicht alles schon getraumt! Und was werden wir nicht noch alles traumen, wenn wir hier heraus sind!« 509 roch plotzlich ganz deutlich Spiegeleier mit Speck. Er bemuhte sich, nicht daran zu denken. »Es wird nicht alles Jubel sein«, sagte er. »Das ist sicher.« »Zehn Jahre.« Berger starrte in den Himmel. »Zehn Jahre nichts. Weg! Fort! Nicht gearbeitet. Ich habe bis jetzt nie daran gedacht. Es ist moglich, da? ich viel vergessen habe. Ich wei? auch jetzt nicht genau, wie die Operation geht. Ich kann mich nicht richtig erinnern. In der ersten Zeit im Lager habe ich nachts Operationen rekapituliert. Um drin zu bleiben. Dann nicht mehr. Es kann «ein, da? ich es vergessen habe -« »Es kommt einem aus dem Sinn; aber man vergi?t es nicht wirklich. Es ist wie mit Sprachen oder Radfahren.« »Man kann es verlernen. Die Hande. Die Prazision. Man kann unsicher werden. Oder nicht mehr mitkommen. In zehn Jahren ist viel passiert. Vieles entdeckt. Ich wei? nichts davon. Ich bin nur alter geworden, alter und muder.« »Merkwurdig«, sagte 509. »Ich habe vorhin auch zufallig an meinen fruheren Beruf gedacht. Lewinsky hat mich danach gefragt. Er glaubt, da? wir in zwei Wochen hier 'rauskommen. Kannst du dir das vorstellen?« Berger schuttelte abwesend den Kopf. »Wo ist die Zeit geblieben?« sagte er. »Es war endlos. Jetzt sagst du zwei Wochen. Und auf einmal fragt man: Wo sind die zehn Jahre geblieben?« Die brennende Stadt gluhte im Talkessel. Es war immer noch schwul, obschon es Nacht war. Dunst begann aufzusteigen. Blitze zuckten. Am Horizont glimmten noch zwei andere Feuer – ferne, bombardierte Stadte. »Wollen wir es nicht einstweilen damit genug sein lassen, da? wir uberhaupt denken konnen, was wir jetzt denken. Ephraim?« »Ja. Du hast recht.« »Wir denken doch schon wieder wie Menschen. Und an das, was nach dem Lager sein wird. Wann konnten wir das? Alles andere wird schon von selbst wiederkommen.« Berger nickte. »Und wenn ich mein Leben lang Strumpfe stopfen mu?, wenn ich hier 'rauskomme! Trotzdem -« Der Himmel zerri? unter einem Blitz, und langsam folgte von weit der Donner. »Willst du 'reingehen?« fragte 509. »Kannst du vorsichtig aufstehen oder kriechen?« Das Gewitter brach um elf Uhr los. Die Blitze erhellten den Himmel, und fur Sekunden wurde eine fahle Mondlandschaft mit den Trichtern und den Ruinen der zerstorten Stadt hochgeworfen. Berger schlief fest. 509 sa? in der Turoffnung von Block 22. Die Baracke war wieder frei fur ihn, seit Handke von Lewinsky getotet worden war. Er hielt die Revolver und die Munition unter seiner Jacke verborgen. Er furchtete, da? sie bei starkem Regen in dem Loch unter dem Bett na? und unbrauchbar werden konnten. Aber es regnete wenig in dieser Nacht. Das Gewitter zog und zog, es teilte sich, und lange Zeit waren es mehrere, die sich Blitze von Horizont zu Horizont zuwarfen wie Schwerter. Zwei Wochen, dachte 509 und sah die Landschaft jenseits des Stacheldrahtes aufflammen und erloschen. Sie schien ihm einer anderen Welt zu gleichen, die unmerklich naher und naher gekommen war in der letzten Zeit, langsam herangewachsen aus einem Niemandsland der Hoffnungslosigkeit, und nun schon dicht vor den Stacheldrahten lagernd, wartend mit dem Geruch von Regen und Feldern, von Zerstorung und Brand, aber auch von Wachsen und Waldern und Grun. Er fuhlte, wie die Blitze durch ihn hindurchgingen und sie erhellten und wie gleichzeitig eine verlorene Vergangenheit aufdammerte, fahl, entfernt, fast unverstandlich und unerreichbar. Er frostelte in der warmen Nacht. Er war nicht so sicher, wie er sich Berger gegenuber gezeigt hatte. Er konnte sich erinnern, und es schien ihm viel, und es bewegte ihn, aber ob es genug war nach den Jahren hier, wu?te er nicht. Zuviel Tod war zwischen fruher und jetzt. Er wu?te nur, da? Leben bedeutete, aus dem Lager zu' entkommen, aber gleich danach wurde alles ungewi? und riesig und schwankend, und er konnte nicht weit daruber hinaussehen. Lewinsky konnte es, aber er dachte als Parteimitglied. Die Partei wurde ihn auffangen, und er wurde in ihr sein, das genugte ihm. Was konnte es dann sein? dachte 509, was war es, das rief, au?er dem primitiven Lebenswunsch? Rache? Mit Rache allein war wenig getan. Rache gehorte zu dem anderen, dem finsteren Teil, der erledigt werden mu?te, doch was kam danach? Er spurte ein paar warme Regentropfen auf seinem Gesicht, wie Tranen von nirgendwoher. Wer hatte noch Tranen? Sie waren ausgebrannt, vertrocknet seit vielen Jahren. Das stumme Rei?en manchmal, das Wenigerwerden von etwas, das schon fast als Nichts vorher erschienen war – das war das einzige, was noch zeigte, da? immer noch etwas verloren werden konnte. Ein Thermometer, das schon langst den tiefsten Punkt des Gefuhls anzeigte – und da? es kalter wurde, sah man nur noch daran, da? manchmal ein erfrorenes Glied, ein Finger, ein Fu? abfiel, beinahe ohne Schmerzen. Die Blitze folgten sich schneller, und unter lang rollendem Donner lag der Hugel gegenuber sehr klar im zuckenden, schattenlosen Licht – das ferne, wei?e Haus mit dem Garten. Bucher, dachte 509. Bucher hatte noch etwas. Er war jung, und mit ihm war Ruth. Jemand, der mit ihm hinausgehen wurde. Aber wurde es halten? Doch wer fragte danach? Wer wollte schon Garantien? Und wer konnte sie geben? 509 lehnte sich zuruck. Was denke ich fur Unsinn? dachte er. Berger mu? mich angesteckt haben. Wir sind nur mude. Er atmete langsam und glaubte durch den Gestank des Platzes und der Baracke wieder den Fruhling und das Wachsen zu riechen. Das kam wieder, jedes Jahr, mit Schwalben und Bluten, gleichgultig gegen Krieg und Tod und Trauer und Hoffnung. Es kam. Es war da. Das war genug. Er zog die Tur zu und kroch zu seiner Ecke. Es blitzte die ganze Nacht weiter, das geisterhafte Licht fiel durch die zerbrochenen Fenster, und die Baracke schien ein Schiff zu sein, das lautlos auf einem unterirdischen Strom dahinglitt, angefullt mit Toten, die durch eine dunkle Magie noch atmeten – und darunter einige, die sich nicht verlorengaben.

XIX

»Bruno«, sagte Selma Neubauer ruhig. »Sei kein Narr. Denke, bevor andere anfangen zu denken. Das ist unsere Chance. Verkauf, was du verkaufen kannst. Die Grundstucke, den Garten, das Haus hier, alles – Verlust oder nicht Verlust.« »Und Geld? Was soll Geld?« Neubauer schuttelte argerlich den Kopf. »Wenn deine Behauptungen wahr wurden, was wurde das Geld dann wert sein? Hast du die Inflation nach dem ersten Weltkrieg

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