»Ausgezeichnete Idee«, erklarte er. »Wenn Knuppel nicht helfen – Essen hilft immer. Aber wir haben keine Extrarationen parat.« »Schon, dann mussen die Lagerinsassen mal verzichten. Etwas Kameradschaft zeigen. Kriegen mal weniger zu Mittag.« Neubauer reckte seine Schultern. »Verstehen die hier Deutsch?« »Ein paar vielleicht.« »Ist ein Dolmetscher da?«

Weber fragte einige der Leute, die Wache gehabt hatten. Sie brachten drei Gestalten heran.

»Ubersetzt euren Leuten, was der Herr Obersturmbannfuhrer sagt!« schnauzte Weber.

Die drei Leute standen nebeneinander. Neubauer trat einen Schritt vor. »Leute!« sagte er mit Wurde. »Ihr seid falsch unterrichtet. Ihr sollt in ein Erholungslager gefuhrt werden.«

»Los!« Weber stie? einen der drei an. Sie redeten etwas in unverstandlichen Lauten.

Niemand auf dem Platz ruhrte sich.

Neubauer wiederholte die Worte. »Ihr geht jetzt zur Kuche«, fugte er hinzu. »Kaffee und Essen empfangen!«

Die Dolmetscher riefen es nach. Niemand ruhrte sich. Keiner glaubte so etwas. Jeder hatte schon oft Menschen auf ahnliche Weise verschwinden sehen. Essen und Baden waren gefahrliche Versprechen.

Neubauer wurde argerlich. »Kuche! Abmarsch zur Kuche! Essen! Kaffee! Essen und Kaffee empfangen! Suppe!«

Die Wachen sturzten sich mit ihren Knuppeln auf die Menge. »Suppe! Hort ihr nicht?

Essen! Suppe!« Sie prugelten bei jedem Wort.

»Halt!« schrie Neubauer argerlich. »Wer hat euch befohlen, zu prugeln? Verdammt!«

Die Aufseher sprangen zuruck,»'raus mit euch!« schrie Neubauer.

Aus den Leuten mit Knuppeln wurden plotzlich wieder Haftlinge. Sie schlichen am Rande des Platzes dahin und druckten sich einer hinter den anderen.

»Die schlagen sie ja zu Kruppeln«, knurrte Neubauer. »Dann haben wir sie auf dem Halse.«

Weber nickte. »Wir haben beim Ausladen am Bahnhof ohnehin schon ein paar Lastwagen Toter hierher geschickt gekriegt zum Verbrennen.«

»Wo sind denn die?«

»Aufgestapelt am Krematorium. Dabei haben wir Kohlenknappheit. Unseren Vorrat brauchen wir fur unsere eigenen Leute notwendig genug.«

»Verdammt, wie kriegen wir die hier nur weg?«

»Die Leute sind in einer Panik. Sie verstehen nicht mehr, was ihnen gesagt wird.

Vielleicht aber, wenn sie es – riechen.«

»Riechen?«

»Das Essen riechen. Riechen oder sehen.«

»Sie meinen, wenn wir einen Kessel hierherbringen?«

»Jawohl. Versprechen nutzt bei diesen Leuten nichts. Sie mussen es sehen und riechen.«

Neubauer nickte. »Moglich. Wir haben doch kurzlich eine Anzahl fahrbarer Kessel bekommen.

Lassen Sie einen davon holen. Oder zwei. Einen mit Kaffee. Ist schon Essen da?«

»Noch nicht. Aber ein Kessel voll wird wohl aufzutreiben sein. Von gestern abend, denke ich.«

Die Kessel waren angefahren. Sie standen etwa zweihundert Meter entfernt von der Menge auf der Stra?e. »Fahrt einen ins Kleine Lager«, kommandierte Weber. »Und nehmt den Deckel ab. Dann, wenn sie kommen, fahrt ihn langsam wieder hierher zuruck.«

»Wir mussen sie in Bewegung bringen«, sagte er zu Neubauer. »Wenn sie erst einmal den Appellplatz verlassen haben, ist es leicht, sie 'rauszukriegen. Es ist immer so. Da, wo sie geschlafen haben, wollen sie bleiben, weil ihnen da nichts passiert ist. Das ist fur sie eine Art Sicherheit. Alles andere furchten sie. Wenn sie aber erst wieder in Bewegung sind, gehen sie auch weiter. Fahrt vorlaufig einmal nur den Kaffee heran«, kommandierte er. »Und fahrt ihn nicht zuruck. Gebt ihn aus! Verteilt ihn druben.«

Der Kaffeekessel wurde bis in die Menge geschoben. Einer der Kapos schopfte mit der Kelle heraus und go? die Bruhe dem nachsten Mann uber den Kopf. Es war der Alte mit dem blutigen wei?en Bart. Die Flussigkeit lief ihm uber das Gesicht und farbte den Bart jetzt braun. Es war die dritte Veranderung.

Der Alte hob den Kopf und leckte die Tropfen ab. Seine klauenartigen Hande fuhren umher. Der Kapo hielt ihm die Kelle mit dem Rest an den Mund »Sauf! Kaffee!«

Der Alte offnete den Mund. Seine Halsstrange begannen plotzlich zu arbeiten. Die Hande schlossen sich um die Kelle, und er schluckte, schluckte, er war nur noch Schlucken und Schlurfen, sein Gesicht zuckte, er zitterte und schluckte.

Sein Nachbar sah es. Ein zweiter, dritter. Sie hoben sich, schoben die Munder, die Hande heran, stie?en sich, rissen sich um die Kelle, hingen daran, ein Haufen von Armen und Kopfen.

»He! Verdammt!«

Der Kapo konnte die Kelle nicht loskriegen. Er zerrte und trat mit den l Fu?en, vorsichtig nach hinten schielend, wo Neubauer stand. Andere hatten sich inzwischen aufgerichtet und uber den hei?en Kessel gebeugt. Sie versuchten die Gesichter in den Kaffee zu hangen und mit den dunnen Handen zu schopfen. »Kaffee! Kaffee!«

Der Kapo fuhlte, da? seine Kelle frei war. »Ordnung!« schrie er. »Einer nach dem anderen!

Antreten hintereinander!«

Es nutzte nichts. Die Menge war nicht zu halten. Sie horte nichts. Sie roch das, was sich Kaffee nannte, irgend etwas Warmes, das man trinken konnte, und sturmte blind den Kessel. Weber hatte recht gehabt: da, wo das Gehirn nicht mehr registrierte, war der Magen immer noch Herrscher.

Zieht den Wagen jetzt langsam 'ruber«, kommandierte Weber. Es war unmoglich. Die Menge war rundherum. Einer der Aufseher machte ein erstauntes Gesicht und fiel langsam um. Die Menge hatte ihm die Beine in Boden gerissen. Er schlug um sich wie ein Schwimmer und rutschte runter.

»Keil formieren!« kommandierte Weber. Die Wachen und die Lagerpolizei stellten sich auf.

»Los!« schrie Weber.

»Auf den Kaffeewagen. Zieht ihn 'raus!«

Die Wachen brachen in die Menge ein. Sie rissen die Leute beiseite. Es gelang ihnen, einen Kordon um den Wagen zu formen und ihn zu bewegen. Er war schon fast leer.

Sie schoben ihn, Schulter an Schulter um ihn formiert, heraus. Die Menge folgte.

Hande versuchten uber die Schultern und unter die Arme zu gelangen.

Plotzlich sah einer aus dem stohnenden Haufen den zweiten, entfernter stehenden Wagen. Er lief, in grotesken Satzen schwankend, drauflos. Andere folgten ihm. Aber hier hatte Weber vorgesorgt; er war umringt von kraftigen Leuten und setzte sich sofort in Bewegung.

Die Menge sturzte hinterher. Nur ein paar blieben und strichen die Hande uber die Wande des Kaffeekessels, um die Feuchtigkeit abzulecken. Ungefahr drei?ig blieben zuruck, die nicht mehr aufstehen konnten.

»Schleppt sie hinterher«, kommandierte Weber. »Und schlie?t dann eine Kette uber die Stra?e, damit sie nicht hierher zuruckkommen konnen.«

Der Platz war voll von menschlichem Schmutz; aber er war eine Nacht Ruheplatz gewesen. Das war viel. Weber hatte Erfahrung. Er wu?te, da? die Menge, wie das Wasser zum tiefsten Punkte, versuchen wurde, hierher zuruckzukommen, wenn die Raserei des Hungers voruber war.

Die Wachen trieben die Zuruckgebliebenen vorwarts. Sie schleppten gleichzeitig die Sterbenden und Toten. Es waren nur sieben Tote. Der Transport hatte aus den zartesten letzten funfhundert bestanden.

Am Ausgang des Kleinen Lagers zur Stra?e brachen einige Leute aus. Die Wachen mit den Sterbenden und Toten konnten nicht rasch genug folgen. Drei der kraftigsten Leute flohen zuruck.

Sie rannten zu den Baracken und rissen an den Turen. Die von 22 gab nach. Sie krochen hinein.

»Halt!« schrie Weber, als die Wachen folgen wollten. »Alles hierher! Die drei holen wir spater.

Aufpassen! Die anderen kommen zuruck.«

Der Schwarm kam die Stra?e herunter. Der Kessel mit Essen war leer geworden, und als man die Gruppen zum Abmarsch formieren wollte, waren sie umgekehrt. Aber sie waren jetzt nicht mehr dieselben wie vorher. Vorher waren sie ein einziger Block gewesen, jenseits von Verzweiflung, und das hatte ihnen eine stumpfe Kraft gegeben.

Вы читаете Der Funke Leben
Добавить отзыв
ВСЕ ОТЗЫВЫ О КНИГЕ В ИЗБРАННОЕ

0

Вы можете отметить интересные вам фрагменты текста, которые будут доступны по уникальной ссылке в адресной строке браузера.

Отметить Добавить цитату