Nacht geschehen konnte, da? er so darauf wartete. Es war das, was einen verruckt machte, dachte er. Wie ein Netz hing das Warten lautlos uber dem Lager und fing alle Hoffnungen und alle Furcht in sich auf. Ich warte, dachte er, und Handke und Weber sind hinter mir her; Goldstein wartet, und sein Herz setzt alle Augenblicke aus; Berger wartet und furchtet, da? er noch mit der Krematoriumsmannschaft erledigt wird, bevor wir befreit werden; wir alle warten und wissen nicht, ob man uns nicht noch im letzten Augenblick auf Todestransporte und in Vernichtungslager schicken wird -»509«, sagte Ahasver aus dem Dunkel. »Bist du da?« »Ja, hier. Was ist?« »Der Schaferhund ist tot.« Ahasver tappte heran. »Er war doch nicht krank«, sagte 509. »Nein. Er ist so weggeschlafen.« »Soll ich dir helfen, ihn herauszulegen?« »Das ist nicht notig. Ich war mit ihm drau?en. Er liegt druben. Ich wollte es nur jemand sagen.« »Ja, Alter.« »Ja, 509.«
XVII
Der Transport kam uberraschend. Die Eisenbahnlinien vom Westen zur Stadt waren einige Tage unterbrochen gewesen. Nach ihrer Reparatur war mit einem der ersten Zuge eine Anzahl gedeckter Guterwagen angekommen. Sie hatten zu einem Vernichtungslager weitergeleitet werden sollen.
Nachts waren jedoch die Verbindungen aufs neue zerbombt worden. Der Zug war einen Tag stehengeblieben; dann hatte man die Insassen ins Mellener Lager geschickt.
Es waren nur Juden, Juden aus allen Gegenden Europas. Es waren polnische und ungarische, rumanische und tschechische, russische und griechische Juden, Juden aus Jugoslawien und Holland und Bulgarien und sogar einige aus Luxemburg. Sie sprachen ein Dutzend verschiedener Sprachen, und die meisten verstanden einander kaum. Selbst das gemeinsame Jiddisch schien verschieden zu sein. Sie waren zweitausend gewesen, und jetzt waren sie noch funfhundert. Ein paar hundert lagen tot in den Guterwagen.
Neubauer war au?er sich. »Wo sollen wir denn mit denen hin? Das Lager ist doch schon uberfullt!
Und au?erdem sind sie gar nicht offiziell zu uns uberwiesen! Wir haben nichts damit zu tun! Das ist ja ein wildes Durcheinander! Es gibt keine Ordnung mehr! Was ist nur los?«
Er rannte in seinem Buro auf und ab. Zu all seinen personlichen Sorgen kam jetzt auch noch dies!
Sein Beamtenblut emporte sich. Er verstand nicht, da? so viele Umstande mit Leuten gemacht wurden, die zum Tode verurteilt waren. Wutend starrte er aus dem Fenster. »Wie die Zigeuner liegen sie da vor den Toren, mit Sack und Pack! Sind wir auf dem Balkan oder in Deutschland?
Verstehen Sie, was los ist, Weber?«
Weber blieb gleichgultig. »Irgendeine Stelle mu? es angeordnet haben«, sagte er.
»Sonst waren sie nicht heraufgekommen.«
»Das ist es ja gerade! Irgendeine Stelle da unten am Bahnhof. Ohne da? ich gefragt worden bin.
Nicht einmal vorher verstandigt. Von ordnungsgema?er Abwicklung ganz zu schweigen. Das gibt es scheinbar uberhaupt nicht mehr! Jeden Tag tauchen neue Amter auf. Die am Bahnhof behaupten, die Leute hatten zuviel geschrieen. Es hatte einen schlechten Eindruck auf die Zivilbevolkerung gemacht. Was haben wir damit zu tun? Unsere Leute schreien nicht!«
Er sah Weber an. Weber lehnte nachlassig an der Tur. »Haben Sie schon mit Dietz daruber gesprochen?« fragte er.
»Nein, noch nicht. Sie haben recht, ich werde das gleich mal tun!« Neubauer lie? sich verbinden und sprach eine Zeitlang. Dann legte er den Horer nieder. Er war ruhiger geworden. »Dietz sagt, wir brauchen sie nur die Nacht uber hierzubehalten.
Geschlossen in einem Block. Nicht auf die Baracken verteilen. Nicht aufnehmen.
Einfach dalassen und bewachen. Morgen werden sie weitergeschickt. Bis dahin ist die Eisenbahnlinie wieder repariert.« Er blickte wieder aus dem Fenster. »Aber wo sollen wir sie nur lassen? Wir haben doch alles uberfullt.«
»Wir konnen sie auf dem Appellplatz lassen.«
»Den Appellplatz brauchen wir fur die Kommandos morgen fruh. Das gibt nur Konfusion.
Au?erdem werden die Balkanesen ihn vollig verdrecken. Das geht nicht.«
»Wir konnen sie auf den Appellplatz vom Kleinen Lager stecken. Da sind sie nicht im Wege.«
»Ist da genug Platz?«
»Ja. Wir mussen alle unsere eigenen Leute dann in die Baracken packen. Sie haben bis jetzt zum Teil drau?en gelegen.« »Warum? Sind die Baracken so uberfullt?«
»Das kommt darauf an, wie man es ansieht. Man kann Leute packen wie Sardinen.
Auch ubereinander.« »Fur eine Nacht mu? es gehen.« »Es wird gehen. Keiner von den Leuten im Kleinen Lager wird ein Interesse daran haben, in den Transport zu geraten.« Weber lachte. »Sie werden davor zuruckscheuen wie vor der Cholera.« Neubauer grinste fluchtig. Es gefiel ihm, da? seine Haftlinge im Lager bleiben wollten. »Wir mussen Wachen aufstellen«, sagte er. »Sonst verschwinden die Neuen in den Baracken, und wir haben da das Durcheinander.« Weber schuttelte den Kopf. »Auch darauf werden die in den Baracken schon selbst aufpassen. Sie haben Angst genug, da? wir sonst morgen einen Teil von ihnen mitschicken, um die Zahl vollzumachen.« »Gut. Bestimmen Sie einige unserer Leute und genugend Kapos und Lagerpolizei als Wachen. Und lassen Sie die Baracken im Kleinen Lager abschlie?en. Wir konnen keine Scheinwerfer riskieren, um den Transport zu bewachen.« Es war, als kame eine Horde gro?er muder Vogel, die nicht mehr fliegen konnten, durch das Zwielicht heran. Sie schwankten und stolperten, und wenn einer fiel, trampelten die anderen uber ihn hinweg, fast ohne ihn zu sehen. »Barackenturen zu!« kommandierte der SS-Scharfuhrer, der das Kleine Lager absperrte. »Bleibt drin! Wer herauskommt, wird erschossen!« Die Menge wurde auf den Platz zwischen den Baracken getrieben. Sie flutete hin und her, einige fielen, andere hockten sich zu ihnen, sie bildeten in der Unruhe eine Insel, die gro?er wurde, und bald lagen alle, und der Abend fiel auf sie wie ein Regen aus Asche. Sie lagen und schliefen; aber ihre Stimmen schwiegen nicht. Sie flatterten immer wieder auf, aus Traumen und Angstschlaf und jahem Erwachen, fremd« artig und schrill, und manchmal vereinigten sie sich zu einem langgezogenen Klagen, das in denselben wenigen Tonen auf- und niederstieg und gegen die Baracken wogte wie ein Meer von Elend gegen die sicheren Archen der Geborgenheit. Man horte es in den Baracken die ganze Nacht hindurch. Es ri? an den Nerven, und schon in den ersten Stunden wurden Leute wild. Sie begannen zu schreien, und als die Menge drau?en es horte, schwoll auch ihr Jammern an, und das machte das Schreien drinnen wieder starker. Es war wie eine unheimliche, mittelalterliche Wechselklage – bis Kolben an die Baracken donnerten und Schusse drau?en ertonten und das dumpfe Gerausch von Knuppeln, die auf Korper fielen, und das scharfere, wenn sie Schadel trafen. Dann wurde es ruhiger. Die Schreienden in den Baracken waren von ihren Kameraden uberwaltigt worden; und die Menge drau?en war vom Schlaf der Erschopfung endlich niedergeworfen worden, mehr noch als von den Knuppeln. Von den Knuppeln spurten sie kaum noch etwas. Das Klagen wehte ab und zu wieder auf; es war schwacher, aber es verstummte nie ganz. Die Veteranen horchten lange darauf. Sie horchten und schauderten und hatten Angst, da? es ihnen ahnlich ergehen konne. Sie unterschieden sich au?erlich kaum von den Leuten des Transportes drau?en – aber trotzdem fuhlten sie sich in den Todesbaracken aus Polen, zwischen Gestank und Tod, eng zusammengepre?t und ubereinander liegend, unter den Hieroglyphen, die Sterbende in die Wand gekratzt hatten, und in der Qual, nicht zur Latrine gehen zu konnen, so geborgen, als waren sie Heimat und Sicherheit gegen den uferlosen, fremden Schmerz drau?en – und das schien fast noch grauenhafter zu sein als vieles andere zuvor – Sie erwachten morgens von vielen leisen, fremden Stimmen. Es war noch dunkel. Das Klagen hatte aufgehort. Dafur aber kratzte es jetzt an den Barackenwanden. Es kratzte, als nagten Hunderte von Ratten drau?en, um hereinzukommen. Es kratzte heimlich und nicht zu laut, und dann begann es vorsichtig zu klopfen, gegen die Tur, gegen die Wande, und zu murmeln, schmeichlerisch fast, uberredend, in einem fremden Singsang, mit den gebrochenen Stimmen letzter Verzweiflung: sie baten um Einla?.
Sie flehten die Archen an um Hilfe vor der Sintflut. Sie waren leise, schon ergeben, sie schrieen nicht mehr, sie baten nur, streichelten das Holz der Wande, sie lagen davor und kratzten mit Handen und Nageln und baten mit weichen, dunklen Stimmen in der Dunkelheit. »Was sagen sie?« fragte Bucher. »Sie bitten uns um ihrer Mutter willen, sie hereinzulassen, um ihrer -« Ahasver brach ab. Er weinte. »Wir konnen es nicht«, sagte Berger. »Ja, ich wei? -« Eine Stunde spater kam der Befehl, abzumarschieren. Drau?en wurden Kommandos geschrieen. Ein lautes Klagen antwortete. Andere Kommandos folgten, wutend und laut. »Kannst du was sehen, Bucher?« fragte Berger.