Jetzt waren sie durch Hunger und Essen und Bewegung zuruckgeworfen in die Verzweiflung – die Angst flatterte in ihnen wieder und machte sie wild und schwach, sie waren keine Masse mehr, sondern viele einzelne, jeder mit seinem eigenen Lebensrest, und das machte sie zu einer leichten Beute. Dazu kam, da? sie nicht mehr eng zusammenhockten.
Sie hatten keine Macht mehr. Sie fuhlten wieder Hunger und Schmerz. Sie begannen zu gehorchen.
Ein Teil von ihnen war weiter oben abgeschnitten worden; ein anderer auf dem Wege zuruck; den Rest empfing Weber mit seinen Leuten. Sie schlugen nicht auf die Kopfe; nur auf die Korper.
Langsam formierten sich Gruppen. Betaubt standen sie in Reihen zu vieren, die Arme ineinander verschrankt, damit sie nicht fielen. Zwischen die Starkeren wurde immer ein Sterbender eingehakt.
Von weitem konnte es fur jemand, der nichts davon wu?te, aussehen, als taumele dort Arm in Arm eine Schar lustiger Betrunkener. Dann plotzlich fingen einige an zu singen. Sie starrten vor sich hin und hoben die Kopfe und hielten die anderen fest und sangen. Es waren nicht viele, und der Gesang war dunn und abgerissen. Sie gingen uber den gro?en Appellplatz an den aufgestellten Arbeitsformationen vorbei hinaus durchs Tor.
»Was ist das, was sie singen?« fragte Werner.
»Ein Lied fur Tote.«
Die drei Gefluchteten kauerten in Baracke 22. Sie hatten sich so weit durchgedrangt, wie sie konnten. Zwei lagen halb unter einem Bett. Sie hatten die Kopfe weit darunter gesteckt. Die Beine ragten heraus und zitterten. Das Zittern lief uber sie, horte einen Augenblick auf und begann wieder.
Der dritte starrte mit wei?em Gesicht auf die Haftlinge. »Verstecken – Mensch – Mensch -« Er wiederholte es immer wieder und stie? sich mit dem Zeigefinger vor die Brust. Es war das einzige Deutsch, das er kannte.
Weber ri? die Tur auf. »Wo sind sie?«
Er stand mit zwei Wachen im Rahmen. »Wird's bald? Wo sind sie?«
Niemand antwortete. »Stubenaltester!« schrie Weber.
Berger trat vor. »Baracke 22, Sektion -« begann er zu melden.
»Schnauze! Wo sind sie?«
Berger hatte keine Wahl. Er wu?te, da? die Fluchtlinge in wenigen Augenblicken gefunden werden mu?ten. Er wu?te auch, da? die Baracke auf keinen Fall durchsucht werden durfte. Zwei politische Fluchtlinge vom Arbeitslager waren darin versteckt.
Er hob den Arm, um in die Ecke zu zeigen, aber einer der Aufseher, der an ihm vorbeiblickte, kam ihm zuvor. »Da sind sie! Unter dem Bett!«
»Holt sie 'raus!«
Ein Schuffeln begann in dem vollen Raum. Die beiden Wachen rissen die Fluchtlinge wie Frosche an beiden Beinen unter dem Bett hervor. Die Gefangenen krallten ihre Hande um die Pfosten. Sie schwangen in der Luft. Weber trat auf ihre Finger. Es knackte, und die Hande gaben nach. Die beiden wurden herausgezerrt. Sie schrieen nicht. Sie stie?en nur ein leises, sehr hohes Stohnen aus, als sie uber den dreckigen Boden geschleift wurden. Der dritte, mit dem wei?en Gesicht, stand von selbst auf und folgte ihnen. Seine Augen waren gro?e schwarze Locher. Er blickte die Haftlinge an, an denen er vorbeiging. Sie wandten die Augen ab.
Weber stand breitbeinig vor dem Eingang. »Wer von euch Schweinen hat die Tur aufgemacht?«
Niemand meldete sich,»'raustreten!«
Sie kamen heraus. Handke stand schon drau?en. »Blockaltester!« schnauzte Weber.
»Es war befohlen, die Turen zu schlie?en! Wer hat sie geoffnet?«
»Die Turen sind alt. Die Fluchtlinge haben das Schlo? losgerissen, Herr Sturmfuhrer.«
»Quatsch! Wie konnen sie das?« Weber buckte sich uber das Schlo?. Es hing lose in dem verrotteten Holz. »Sofort ein neues Schlo? anbringen! Hatte langst gemacht werden sollen! Warum ist das nicht fruher getan worden?«
»Die Turen werden nie verschlossen, Herr Sturmfuhrer. Die Leute haben keine Latrine in der Baracke.«
»Einerlei. Sorgen Sie dafur.« Weber drehte sich um und ging die Stra?e hinauf, hinter den Fluchtlingen her, die sich nicht mehr wehrten.
Handke betrachtete die Straflinge. Sie erwarteten einen seiner Ausbruche. Aber es kam keiner.
»Schafskopfe«, sagte er. »Seht zu, da? ihr den Dreck hier fortkriegt.«
Dann wandte er sich an Berger. »Das hattet ihr wohl nicht gerne gesehen, wenn die Baracke genau untersucht worden ware, was?«
Berger erwiderte nichts. Er blickte Handke ausdruckslos an. Handke lachte kurz auf.
»Haltet mich fur dumm, wie? Ich wei? mehr, als du glaubst. Und Ich kriege euch noch! Alle! Alle euch hochnasigen politischen Idioten, verstehst du?«
Er stampfte hinter Weber her. Berger drehte sich um. Goldstein stand hinter ihm.
»Was mag er damit meinen?«
Berger hob die Schultern. »Wir mussen auf jeden Fall sofort Lewinsky benachrichtigen. Und die Versteckten heute anderswo unterbringen. Vielleicht geht es in Block 20. 509 wei? da Bescheid.«
XVIII
Der Nebel hing morgens dicht uber dem Lager. Die Maschinengewehrturme und die Palisaden waren nicht zu erkennen. Es schien dadurch eine Zeitlang, als existiere das Konzentrationslager nicht mehr, als habe der Nebel die Umzaunung in eine weiche, trugerische Freiheit aufgelost und als brauche man nur vorwarts zu gehen, um zu finden, sie seien nicht mehr da. Dann kamen die Sirenen und bald darauf die ersten Explosionen. Sie kamen aus einem weichen Nirgendwo und hatten keine Richtung und keinen Ursprung. Sie hatten ebenso in der Luft oder hinter dem Horizont wie in der Stadt sein konnen. Sie wurden umhergeworfen wie Donner von vielen gedampften Gewittern, und es schien in dem Wei?grau der wattigen Unendlichkeit, als sei keine Gefahr in ihnen. Die Bewohner von Baracke 22 hockten mude auf den Betten und in den Gangen. Sie hatten wenig geschlafen und waren elend vor Hunger; am Abend vorher hatte es nur eine dunne Suppe gegeben. Sie achteten kaum auf das Bombardement. Sie kannten auch das nun schon; es war ebenfalls zu einem Teil ihrer Existenz geworden. Keiner war vorbereitet darauf, da? plotzlich das Heulen sich rasend verstarkte und in einer ungeheuren Detonation endete. Die Baracke schwankte wie bei einem Erdbeben. In das hallende Zuruck« ebben des Kraches klang das Klirren der zerbrochenen Fensterscheiben. »Sie bombardieren uns! Sie bombardieren uns!« schrie jemand. »La?t mich 'raus! 'raus hier!« Eine Panik entstand. Leute fielen aus den Betten. Andere versuchten herunter» zuklettern und hingen mit denen, die unten waren, in einem Gewirr von Gliedern zusammen. Kraftlose Arme schlugen um sich, die Gebisse in den Totenschadeln waren gebleckt, und die Augen starrten angstvoll aus den tiefen Hohlen. Das Gespenstische dabei war, da? scheinbar alles lautlos vor sich ging; das Toben der Abwehrgeschutze und der Bomben war jetzt so stark, da? es den Larm drinnen vollig ubertonte. Offene Munder schienen ohne Stimmen zu schreien, als habe die Angst sie stumm gemacht. Eine zweite Explosion schuttelte den Boden. Die Panik verstarkte sich zu Aufruhr und Flucht. Die Leute, die noch gehen konnten, drangten ubereinander durch die Gange; andere lagen vollig teilnahmslos auf den Betten und starrten auf ihre lautlos gestikulierenden Kameraden, als seien sie Zuschauer in einer Pantomime, die sie selbst nichts mehr anging. »Tur zu!« rief Berger. Es war zu spat. Die Tur flog auf, und der erste Haufen Skelette stolperte in den Nebel. Andere folgten. Die Veteranen hockten in ihrer Ecke und hatten Muhe, nicht mit hinausgerissen zu werden. »Hierbleiben!« rief Berger. »Die Wachen werden schie?en!« Die Flucht ging weiter. »Hinlegen!« rief Lewinsky. Er hatte die Nacht trotz Handkes Drohungen in Baracke 22 verbracht. Es war ihm immer noch sicherer gewesen; am Tage vorher waren im Arbeitslager vier Leute mit den Anfangsbuchstaben H und K von dem Spezialkommando Steinbrenner, Breuer und Niemann erwischt und zum Krematorium gefuhrt worden. Es war ein Gluck, da? die Suche burokratisch vor sich ging. Lewinsky hatte nicht gewartet, bis der Buchstabe L herankam. »Flach auf den Boden!« rief er. »Sie werden schie?en!« »'raus! Wer will hier in der Mausefalle bleiben?« Drau?en knatterten bereits Schusse in das Heulen und Donnern. »Da! Es geht los! Hinlegen! Flach! Die Maschinengewehre sind gefahrlicher als die Bomben!« Lewinsky hatte unrecht. Nach der dritten Explosion horten die' Maschinengewehre auf. Die Wachen hatten die Turme eiligst verlassen. Lewinsky kroch zur Tur hinaus. »Keine Gefahr mehr!« schrie er Berger ins Ohr. »Die SS ist verschwunden.«
»Sollen wir drinbleiben?«