Dreyer glaubte, der Name des vierten sei der des noch Lebenden, der umgetauscht worden war – nicht der des dritten. Er war so von der Spur geworfen und konnte in keinem Falle etwas verraten.

Die Tur offnete sich. Steinbrenner trat ein. Ihm folgten Breuer, der Bunkeraufseher, und der Scharfuhrer Niemann. Steinbrenner lachelte Schulte zu. »Wir sollen dich ablosen, wenn die Toten hier verbucht sind. Befehl von Weber.«

Schulte klappte sein Buch zu. »Sind wir soweit?« fragte er Dreyer.

»Da sind noch vier Leichen.«

»Gut, macht fertig.«

Steinbrenner lehnte sich gegen die Wand, an der die Kratzer der Gehangten sichtbar waren.

»Macht nur fertig. Wir haben Zeit. Und schickt dann die funf Leute, die oben eingeworfen haben, herunter. Wir haben eine Uberraschung fur sie.«

»Ja«, sagte Breuer. »Heute ist mein Geburtstag.«

»Wer von euch ist 509?« fragte Goldstein.

»Warum?«

»Ich bin hierher uberwiesen worden.«

Es war Abend, und Goldstein war mit einem Transport von zwolf anderen zum Kleinen Lager gekommen. »Lewinsky schickt mich«, sagte er zu Berger.

»Bist du in unserer Baracke?«

»Nein. In Baracke 21. Es war in der Eile nicht anders zu machen. Man kann das spater andern. Es war hochste Zeit, da? ich wegkam. Wo ist 509?«

»509 existiert nicht mehr.«

Goldstein blickte auf. »Tot oder versteckt?«

Berger zogerte. »Du kannst ihm trauen«, sagte 509, der neben ihm hockte. »Lewinsky hat von ihm gesprochen, als er das letzte Mal hier war.«

Er wandte sich zu Goldstein. »Ich hei?e jetzt Flormann. Was gibt es Neues? Wir haben lange nichts von euch gehort.«

»Lange? Zwei Tage -«

»Das ist lange. Was gibt es Neues? Komm hier heruber. Hier kann keiner zuhoren.«

Sie setzten sich abseits von den anderen. »Gestern nacht haben wir in Block 6 uber unser Radio Nachrichten horen konnen. Englische. Wir hatten viele Storungen; aber eine kam klar durch. Die Russen beschie?en bereits Berlin.«

»Berlin?«

»Ja -«

»Und die Amerikaner und Englander?«

»Da waren keine neuen Nachrichten. Wir hatten Storungen und mu?ten vor» sichtig sein. Das Ruhrgebiet ist eingekreist, und sie sind weit uber den Rhein, das ist sicher.« 509 starrte auf den Stacheldraht, hinter dem ein Streifen Abendrot unter schweren Regenwolken glomm. »Wie langsam das alles geht -«

»Langsam? Das nennst du langsam? In einem Jahr sind die deutschen Armeen von Ru?land bis nach Berlin und von Afrika bis zur Ruhr zuruckgetrieben worden – und du redest von langsam?«

509 schuttelte den Kopf. »Das meine ich nicht. Es ist langsam fur hier. Fur uns. Auf einmal!

Verstehst du das nicht? Ich bin viele Jahre hier – aber dieses scheint das langsamste Fruhjahr von allen zu sein. Es ist langsam, weil es so schwer ist, zu warten.«

»Ich verstehe.« Goldstein lachelte. Die Zahne standen kreidig in seinem grauen Gesicht. »Ich kenne das. Nachts besonders. Wenn man nicht schlafen kann und keine Luft kriegt.« Seine Augen lachelten nicht mit. Sie blieben ausdruckslos und bleifarben.

»Verdammt langsam ist es, wenn du es so nimmst.«

»Ja, das meine ich. Vor ein paar Wochen wu?ten wir noch nichts. Jetzt er« scheint alles schon langsam. Sonderbar, wie sich das verandert, wenn man Hoffnung hat. Und wartet. Und Angst hat, da? man noch erwischt wird.« 509 dachte an Handke. Er war noch nicht au?er Gefahr. Die Schiebung ware halbwegs ausreichend gewesen, wenn Handke 509 nicht personlich gekannt hatte.

509 ware dann einfach der Tote geworden, so wie der Tote als 509 verbucht war. Jetzt war er offiziell tot und hie? Flormann, doch er befand sich immer noch im Kleinen Lager.

Etwas anderes war nicht zu erreichen gewesen; es war schon viel, da? der Blockalteste von Baracke 20, in der Flormann gestorben war, mitgemacht hatte. 509 mu?te vorsichtig sein, damit Handke ihn nicht sah. Er mu?te auch vorsichtig sein, damit nicht irgendein anderer ihn verriet.

Au?erdem war immer noch Weber da, der ihn bei einer unvermuteten Kontrolle wiedererkennen konnte.

»Bist du allein gekommen?« fragte er Goldstein.

»Nein. Es sind noch zwei andere mitgeschickt worden.«

»Kommen noch mehr?«

»Wahrscheinlich. Aber nicht offiziell als Uberweisungen. Wir haben druben mindestens funfzig bis sechzig Leute versteckt.«

»Wo konnt ihr so viele verstecken?«

»Sie wechseln jede Nacht die Baracken. Schlafen anderswo.«

»Und wenn die SS sie zum Tor kommandiert? Oder zur Schreibstube?«

»Dann kommen sie nicht.«

»Was?«

»Sie kommen nicht«, wiederholte Goldstein. Er sah, da? 509 sich erstaunt aufgerichtet hatte. »Die SS hat keine genaue Ubersicht mehr«, erklarte er. »Seit ein paar Wochen ist das Durcheinander jeden Tag gro?er geworden. Wir haben dazu getan, was wir konnten. Die Leute, die gesucht werden, sind angeblich immer auf Kommandos geschickt worden oder einfach nicht aufzufinden.«

»Und die SS? Kommt die nicht, sie zu holen?«

Goldsteins Zahne blinkten. »Nicht mehr gerne. Oder hochstens in Trupps und bewaffnet.

Gefahrlich ist nur die Gruppe, in der Niemann, Breuer und Steinbrenner sind.« 509 schwieg eine

Weile. Es war zu unglaublich, was er gerade gehort hatte. »Seit wann ist das so?« fragte er schlie?lich. »Seit ungefahr einer Woche. Jeden Tag andert sich was.« »Du meinst, die SS hat Angst?« »Ja. Sie hat plotzlich gemerkt, da? wir Tausende sind. Und sie wei?, wie der Krieg steht.« »Ihr gehorcht einfach nicht?« 509 konnte es immer noch nicht fassen. »Wir gehorchen. Aber wir tun es umstandlich, und es dauert lange, und wir sabotieren, was wir konnen. Die SS erwischt trotzdem immer noch genug. Wir konnen nicht alle retten.« Goldstern stand auf. »Ich mu? sehen, da? ich Platz zum Schlafen finde.« »Wenn du nichts findest, frage Berger.« »Gut.« 509 lag neben dem Haufen von Toten zwischen den Baracken. Der Haufen war hoher als sonst. Es hatte am Abend vorher kein Brot gegeben. Das zeigte sich immer am nachsten Tag in der Anzahl der Toten. 509 lag dicht daneben, weil ein nasser, kalter Wind wehte. Die Toten schutzten ihn davor. Sie schutzten ihn, dachte er. Sie schutzten ihn selbst vom Krematorium her und daruber hinaus. Irgendwo trieb im nassen, kalten Wind der Rauch von Flormann, dessen Namen er jetzt trug; der Rest waren ein paar ausgebrannte Knochen, aus denen in der Muhle bald Knochenmehl werden wurde. Aber der Name, das Fluchtigste und Belangloseste, war geblieben und zu einem Schild geworden fur ein anderes Leben, das sich gegen den Untergang wehrte. Er horte, wie der Haufen der Toten achzte und sich verschob. Die Gewebe und Safte in ihnen arbeiteten noch. Ein zweiter, chemischer Tod schlich durch sie, spaltete sie, vergaste sie, bereitete sie vor fur den Zerfall; – und wie ein geisterhafter Reflex des entwichenen Lebens bewegten sich die Bauche noch, schwollen und fielen zusammen, die toten Munder stie?en Luft aus, und aus den Augen sickerte trube Flussigkeit wie viel zu spate Tranen. 509 bewegte die Schultern. Er trug die Attila-Uniformjacke der Honved-Husaren. Sie war eines der warmsten Kleidungsstucke der Baracke und wurde reihum von denen getragen, die nachts drau?en lagen. Er betrachtete die Aufschlage, die matt im Dunkeln schimmerten. Es lag eine gewisse Ironie darin: gerade jetzt, wo er sich wieder an seine Vergangenheit und an sich selbst erinnerte, wo er keine Nummer mehr sein wollte, mu?te er unter dem Namen eines Toten leben und trug dazu nachts eine ungarische Uniform. Er frostelte und versteckte die Hande in den Armeln. Er hatte in die Baracke gehen konnen, um einige Stunden in dem warmen Gestank dort zu schlafen; aber er tat es nicht. Er war zu unruhig dazu. Er sa? lieber und fror und starrte in die Nacht und wartete und wu?te nicht, was schon in der

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