Sie hockten vor dem kleinen Fenster auf dem obersten Bett. »Ja. Sie weigern sich. Sie wollen nicht.« »Aufstehen!« schrie es drau?en. »Antreten! Antreten zum Abzahlen!« Die Juden standen nicht auf. Sie blieben flach auf der Erde liegen und blickten mit Augen voll Terror auf die Wachen oder verbargen die Kopfe in den Armen. »Aufstehen!« brullte Handke. »Los! Hoch, ihr Stinker! Sollen wir euch munter machen? 'raus hier!« Das Muntermachen half nichts. Die funfhundert Kreaturen, die fur die Tatsache, da? sie andere Gebrauche beim Gottesdienst als ihre 'Peiniger hatten, zu etwas reduziert worden waren, das nicht mehr als menschlich bezeichnet werden konnte, reagierten nicht mehr auf Schreie, Fluche und Schlage. Sie blieben liegen, sie versuchten den Boden zu umarmen, sie krallten sich an ihn, – die elende, verdreckte Erde des Konzentrationslagers erschien ihnen begehrenswert, sie war fur sie Paradies und Rettung. Sie wu?ten, wohin man sie bringen wollte. Solange sie auf dem Transport und in Bewegung gewesen waren, waren sie stumpf der Bewegung gefolgt. Jetzt, einmal aufgehalten und zur Ruhe gebracht, weigerten sie sich ebenso stumpf, sich wieder zu bewegen. Die Aufseher wurden unsicher. Sie hatten Befehl, die Leute nicht totzuschlagen, und das war ziemlich schwierig. Der Befehl hatte keinen anderen Grund als den ublichen burokratischen: der Transport war dem Lager nicht uberwiesen worden; er sollte es deshalb moglichst geschlossen wieder verlassen. Mehr SS-Leute erschienen. 509 sah vom Fenster von Baracke 20 aus sogar Weber in seinen blanken, eleganten Stiefeln herankommen. Er blieb am Eingang des Kleinen Lagers stehen und gab einen Befehl. Die SS legte an und feuerte dicht uber die Liegenden hinweg. Weber stand breitbeinig neben der Pforte, die Arme in den Huften. Er erwartete, da? die Juden nach den Salven aufspringen wurden. Sie taten es nicht. Sie waren jenseits aller Drohung. Sie wollten liegenbleiben. Sie wollten nicht weiter. Hatte man zwischen sie geschossen, sie hatten sich wahrscheinlich auch dann kaum noch geruhrt. Webers Gesicht verfarbte sich. »Bringt sie hoch!« schrie er. »Prugelt sie hoch! Auf die Beine und Fu?e!« Die Aufseher sturzten sich in die Menge. Sie prugelten mit Knuppeln und Fausten, sie traten mit den Fu?en in Magen und Geschlechtsteile, sie rissen Leute an den Haaren und Barten hoch und stellten sie auf; aber die Leute lie?en sich wieder fallen, als seien sie ohne Knochen. Bucher starrte hinaus. »Sieh dir das an«, flusterte Berger. »Das sind nicht nur SS-Leute, die da prugeln. Es sind auch nicht nur grune. Nicht nur Verbrecher. Es sind andere Farben darunter. Es sind Leute von uns dabei! Haftlinge wie wir, zu Kapos und Polizisten gemacht. Sie prugeln ebenso wie ihre Meister.« Er rieb seine entzundeten Augen, als wolle er sie aus dem Kopf pressen. Dicht neben der Baracke stand ein alter Mann mit einem wei?en Bart. Blut lief aus seinem Munde und farbte den Bart langsam rot. »Geht vom Fenster weg«, sagte Ahasver. »Wenn sie euch sehen, holen sie euch auch.«

»Sie konnen uns nicht sehen.«

Das Fenster war schmutzig und blind, und man konnte von au?en nicht sehen, was dahinter in dem dunklen Raum vor sich ging. Von innen konnte man aber genug sehen.

»Ihr solltet nicht zusehen«, sagte Ahasver. »Es ist eine Sunde, das zu tun, wenn man nicht dazu gezwungen wird.«

»Es ist keine Sunde«, sagte Bucher. »Wir wollen es nie vergessen. Deshalb sehen wir hin.«

»Habt ihr nicht genug davon hier im Lager gesehen?«

Bucher antwortete nicht. Er starrte weiter aus dem Fenster.

Allmahlich erschopfte sich die Wut auf dem Platz. Die Aufseher hatten jeden einzelnen wegschleppen mussen. Sie hatten tausend Mann dazu gebraucht. Sie bekamen manchmal zehn, zwanzig Juden zusammen auf die Stra?e; aber nicht mehr.

Wenn es mehr wurden, brachen sie durch die Wachhabenden hindurch und sturzten wieder zuruck zu dem zuckenden, gro?en, dunklen Haufen.

»Da ist Neubauer selber«, sagte Berger.

Er war herangekommen und sprach mit Weber. »Sie wollen nicht weg«, sagte Weber, weniger gleichmutig als sonst. »Man kann sie totschlagen; sie bewegen sich nicht.«

Neubauer paffte dicke Rauchwolken. Der Gestank auf dem Platz war sehr stark.

»Scheu?liche Sache! Warum hat man sie blo? hergeschickt? Man hatte sie doch gleich da erledigen konnen, wo sie waren, anstatt sie so weit im Lande herumzuschicken zum Vergasen. Ich mochte wissen, was der Grund dafur ist?«

Weber zuckte die Achseln. »Der Grund ist, da? selbst der dreckigste Jude einen Korper hat.

Funfhundert Leichen. Toten ist einfach; viel schwieriger ist es, die Leichen verschwinden zu lassen.

Und das dort waren zweitausend.«

»Unsinn! Fast alle Lager haben Krematorien, genau wie wir.«

»Das schon. Aber Krematorien arbeiten fur unsere Zeit zu langsam. Speziell, wenn Lager rasch geraumt werden mussen.«

Neubauer spuckte ein Tabaksblattchen aus. »Ich verstehe es trotzdem nicht, weshalb die Leute so weit herumgeschickt werden.«

»Es sind wieder die Leichen. Unsere Behorden sehen nicht gern, da? man zu viele Leichen findet.

Und nur Krematorien erledigten sie bisher so, da? man die Anzahl spater nicht kontrollieren kann – leider fur den gro?en Bedarf immer noch viel zu langsam. Es gibt kein wirklich modernes Mittel, um uber gro?e Mengen rasch zu disponieren. Massengraber kann man noch lange hinterher offnen, um Greuelmarchen zu erfinden. Man hat das in Polen und Ru?land gesehen.«

»Warum hat man dieses Gesindel nicht einfach beim Ruckzug -«, Neubauer verbesserte sich sofort:»ich meine bei der strategischen Verkurzung der Linie da gelassen, wo es war? Es ist doch zu nichts mehr nutze. Soll man sie den Amerikanern oder Russen uberlassen, damit die damit glucklich werden.«

»Es ware wieder die Sache mit den Korpern gewesen«, erwiderte Weber geduldig. »Es hei?t, da? die amerikanische Armee eine Unmenge Journalisten und Fotografen bei sich hat. Man hatte Aufnahmen machen und behaupten konnen, die Leute seien unterernahrt gewesen.«

Neubauer nahm die Zigarre aus dem Munde und blickte Weber scharf an. Er konnte nicht sehen, ob sein Lagerfuhrer sich wieder einmal uber ihn lustig machte. Er hatte das nie herausfinden konnen, sooft er es auch versucht hatte. Weber zeigte sein ubliches Gesicht. »Was soll das hei?en?« fragte Neubauer. »Was meinen Sie damit? Naturlich sind sie unterernahrt.«

»Es sind die Greuelmarchen, die die auslandische Presse daruber erfindet. Das Propagandaministerium warnt taglich davor.«

Neubauer blickte Weber immer noch an. Eigentlich kenne ich ihn uberhaupt nicht, dachte er. Er hat immer getan, was ich wollte, aber ich kenne im Grunde nichts von ihm. Ich wurde mich nicht wundern, wenn er mir plotzlich ins Gesicht lachen wurde.

Mir und sogar vielleicht dem Fuhrer selbst. Ein Landsknecht, ohne wirkliche Weltanschauung!

Wahrscheinlich ist ihm nichts heilig; auch nicht die Partei. Sie pa?t ihm nur gerade so. »Wissen Sie, Weber -«, begann er und brach dann ab. Es hatte keinen Zweck, gro?e Geschichten zu machen.

Einen Augenblick war wieder die jahe Angst da. »Naturlich sind die Leute unter» ernahrt«, sagte er. »Aber das ist nicht unsere Schuld. Der Gegner mit seiner Blockade zwingt uns ja dazu. Oder nicht?«

Weber hob den Kopf. Er traute seinen Ohren nicht. Neubauer sah ihn sonderbar gespannt an.

»Selbstverstandlich«, sagte Weber gemachlich. »Der Gegner mit seiner Blockade.«

Neubauer nickte. Die Angst war wieder verflogen. Er blickte uber den Appellplatz.

»Offen gestanden«, sagte er fast vertraulich. »Es ist trotzdem doch noch ein machtiger Unterschied in den Lagern. Unsere Leute sehen bedeutend besser aus als die dort – selbst im Kleinen Lager.

Finden Sie nicht?«

»Ja«, erwiderte Weber perplex.

»Man sieht es, wenn man vergleicht. Wir sind sicher eines der humansten Lager im ganzen Reich.«

Neubauer hatte ein Gefuhl behaglicher Erleichterung »Naturlich sterben Leute. Viele sogar. Das ist unvermeidlich in solchen Zeiten Aber wir sind menschlich. Wer nicht mehr kann, braucht bei uns nicht zu arbeiten. Wo gibt es das sonst fur Verrater und Staatsfeinde?«

»Fast nirgendwo.«

»Das meine ich auch. Unterernahrung? Das ist nicht unsere Schuld! Ich sage Ihnen, Weber -«

Neubauer hatte plotzlich einen Gedanken. »Horen Sie, ich wei?, wie wir die Leute hier herauskriegen. Wissen Sie, wie? Mit Essen!«

Weber grinste. Der Alte war manchmal doch nicht nur in den Wolken seiner eigenen Wunschbilder.

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