Neubauer blinkte. »Es ist meine Parteiuniform.«
Der Korporal ging zuruck und brachte die Uniformjacke. Er tastete sie ab und gab sie Neubauer.
Der zog sie an, knopfte sie zu, reckte sich und sagte:»Obersturmbannfuhrer Neubauer. Stelle mich zur Verfugung.«
»Gut, gut. Vorwarts.«
Sie gingen durch den Garten. Neubauer merkte, da? er die Jacke falsch zugeknopft hatte. Er offnete sie noch einmal und brachte die Knopfe in Ordnung. Alles war schiefgegangen im letzten Augenblick. Weber, der Verrater, hatte ihm mit seiner Brandstiftung eins auswischen wollen. Er hatte eigenmachtig gehandelt, das lie? sich leicht beweisen. Neubauer war abends nicht mehr im Lager gewesen. Er hatte es uber das Telefon erfahren. Immerhin, eine verflucht bittere Geschichte, gerade jetzt. Und dann Alfred, der zweite Verrater. Er war einfach nicht gekommen. Neubauer hatte ohne Auto dagestanden, als er im Auto fliehen wollte. Die Truppen waren schon fort – in die Walder konnte er nicht laufen -, da hatte er sich im Garten versteckt. Hatte gedacht, da wurden sie ihn nie suchen. Er hatte sich noch rasch die Hitler-Schnurrbartburste abrasiert. Alfred, der Lump!
»Setzen Sie sich hierher«, sagte der Korporal und zeigte auf einen Sitz.
Neubauer kletterte in den Wagen. Das ist wahrscheinlich das, was sie ein Jeep nennen, dachte er.
Die Leute waren nicht unfreundlich. Korrekt, eher. Der eine war vielleicht ein Deutschamerikaner.
Man hatte da von deutschen Brudern im Auslande gehort. Der Bund, oder so ahnlich.
»Sie sprechen gut Deutsch«, sagte er vorsichtig.
»Naturlich«, erwiderte der Korporal kalt. »Ich bin aus Frankfurt.«
»Oh -«, erwiderte Neubauer. Es schien wirklich ein verdammt schlechter Tag zu sein.
Die Kaninchen waren auch gestohlen worden. Als er in den Stall gekommen war, hatten die Kafigturen offengestanden. Es war ein boses Zeichen gewesen. Sie brutzelten wahrscheinlich jetzt schon uber dem Feuer irgendeines Rohlings.
Das Lagertor stand weit offen. Roh zurechtgemachte Flaggen hingen vor den Baracken. Der gro?e Lautsprecher brachte Bekanntmachungen. Einer der Lastwagen mit Kannen voll Milch war zuruckgekehrt.
Der Wagen mit Neubauer hielt vor der Kommandantur. Ein amerikanischer Oberst stand dort mit einigen Offizieren und erteilte Weisungen. Neubauer stieg aus, zupfte seinen Rock zurecht und trat vor. »Obersturmbannfuhrer Neubauer. Stelle mich hiermit zur Verfugung.« Er gru?te militarisch; nicht mit dem Hitlergru?.
Der Oberst sah auf den Korporal. Der Korporal ubersetzte. »Is this the son of a bitch?« fragte der Oberst.
»Yes, Sir.«
»Put him to work over there. Shoot him, if he makes a false move.«
Neubauer hatte angestrengt zugehort. »Los«, sagte der Korporal. »Arbeiten. Tote fortbringen.«
Neubauer hatte immer noch auf etwas anderes gehofft. »Ich bin Offizier«, stammelte er. »Im Rang eines Obersten.«
»Um so schlimmer.«
»Ich habe Zeugen! Ich war menschlich! Fragen Sie die Leute!«
»Ich glaube, wir werden ein paar Mann brauchen, damit Ihre Leute Sie nicht in Stucke rei?en«, erwiderte der Korporal. »Mir ware es recht. Los, vorwarts!«
Neubauer warf noch einen Blick auf den Obersten. Der beachtete ihn schon nicht mehr. Er wandte sich um. Zwei Mann gingen neben ihm; der dritte hinter ihm.
Nach ein paar Schritten war er erkannt. Die drei Amerikaner ruckten ihre Schultern zurecht. Sie erwarteten den Sturm und schlossen sich eng um Neubauer. Neubauer begann zu schwitzen. Er starrte gerade vor sich hin und ging, als wollte er gleichzeitig schneller und langsamer gehen.
Aber es geschah nichts. Die Gefangenen blieben stehen und sahen Neubauer an. Sie sturzten nicht auf ihn zu; sie machten eine Gasse fur ihn. Keiner kam heran. Keiner sagte etwas. Keiner schrie ihn an. Niemand warf einen Stein nach ihm. Kein Knuppel fiel auf ihn. Sie sahen ihn nur an. Sie bildeten eine Gasse und sahen ihn an, den ganzen, langen Weg bis zum Kleinen Lager. Neubauer hatte anfangs aufgeatmet; dann begann er starker zu schwitzen. Er murmelte etwas. Er sah nicht auf; aber er fuhlte die Augen auf sich. Er spurte sie auf sich wie unzahlige Gucklocher in einer riesigen Gefangnistur – als sei er bereits eingesperrt, und alle Augen beobachteten ihn kalt und aufmerksam. Ihm wurde hei?er und hei?er. Er ging schneller. Die Augen blieben auf ihm. Sie wurden starker. Er spurte sie auf seiner Haut. Sie waren Blutegel, die Blut saugten. Er schuttelte sich. Aber er konnte sie nicht abschutteln. Sie kamen durch seine Haut. Sie hingen an seinen Adern. »Ich habe -«, murmelte er. »Pflicht – ich habe nichts – ich war – immer – was wollen die blo? -?« Er war na?, als sie an den Platz kamen, wo Baracke 22 gestanden hatte. Sechs SS-Leute, die eingefangen waren, arbeiteten dort mit einigen Kapos. Amerikanische Soldaten standen mit Tommyguns in der Nahe. Neubauer blieb mit einem Ruck stehen. Er sah eine Anzahl schwarzer Skelette vor sich auf dem Boden. »Was – ist denn das -?« »Stellen Sie sich nicht so dumm«, erwiderte der Korporal grimmig. »Das ist die Baracke, die ihr angezundet habt. Da mussen noch mindestens drei?ig Tote drin liegen. Vorwarts, Knochen heraussuchen!« »Das – habe ich nicht befohlen -« »Naturlich nicht.« »Ich war nicht hier – davon wei? ich nichts. Das haben andere eigenmachtig getan -« »Naturlich. Immer andere. Und die, die hier in all den Jahren verreckt sind? Das waren Sie auch nicht, was?« »Das war Befehl. Pflicht -« Der Korporal wendete sich an einen Mann, der neben ihm stand. »Das werden in den nachsten Jahren zwei haufige Worte hier sein: Ich habe auf Befehl gehandelt, und: Ich habe nichts davon gewu?t.« Neubauer horte ihn nicht. »Ich habe immer versucht, das Beste zu tun -« »Das«, sagte der Korporal bitter,»wird das dritte sein! Los!« schrie er plotzlich. »Fassen Sie an! Holen Sie die Toten heraus! Glauben Sie, es ist einfach, Sie nicht zu Brei zu schlagen?« Neubauer buckte sich und begann unsicher in den Trummern zu wuhlen. Man brachte sie in Karren, auf rohen Bahren, gestutzt von Kameraden, sich gegenseitig stutzend man lagerte sie in den Korridoren der SS-Kaserne, nahm ihnen die verlausten Fetzen ab, mit denen sie noch bekleidet waren, und verbrannte die Lumpen – dann brachte man sie in die Baderaume der SS. Viele begriffen nicht, was man mit ihnen tun wollte; sie sa?en und lagen stumpf in den Gangen. Erst als der Dampf aus den geoffneten Turen drang, wurden manche lebendig. Sie begannen zu krachzen und angstvoll zuruckzukriechen. »Baden! Baden!« schrieen ihre Gefahrten. »Ihr sollt gebadet werden.« Es nutzte nichts. Die Skelette verklammerten sich ineinander und wimmerten und schoben sich wie Krabben dem Ausgang zu. Es waren die, die Baden und Dampf nur kannten als Worte fur Gaskammern. Man zeigte ihnen Seife und Handtucher; es half nichts. Sie hatten auch das schon gesehen. Man hatte es benutzt, um Gefangene leichter in die Gaskammern zu bekommen; mit einem Stuck Seife und einem Handtuch in den Handen waren sie verrochelt. Erst als man den ersten Schub gereinigter Insassen an ihnen vorubertrug und diese ihnen mit Nicken und Worten bestatigten, da? es hei?es Wasser und Baden sei und kein Gas, beruhigten sie sich.
Der Dampf wirbelte von den gekachelten Wanden. Das warme Wasser war wie warme Hande. Die Gefangenen lagen darin, und die dunnen Arme mit den dicken Gelenken hoben sich und patschten darin herum. Der verkrustete Dreck weichte auf. Die Seife glitt uber die verhungerte Haut und loste den Schmutz, und die Warme drang tiefer als bis in die Knochen. Warmes Wasser -sie hatten vergessen, was das hie?. Sie lagen und fuhlten es, und es war fur viele zum ersten Maleder Begriff von Freiheit und Erlosung.
Bucher sa? neben Lebenthal und Berger. Die Warme durchflutete sie. Es war ein animalisches Gluck. Das Gluck der Wiedergeburt, es war das Leben, das aus Warme geboren war und dem erfrorenen Blut und den verschmachteten Zellen zuruckgegeben wurde. Es war pflanzenhaft; eine Wassersonne, die totgeglaubte Keime streichelte und weckte. Mit den Schmutzkrusten der Haut losten sich Schmutzkrusten der Seele. Sie fuhlten Geborgenheit. Geborgenheit im einfachsten: in Warme. Wie Hohlenmenschen vor dem ersten Feuer.
Man gab ihnen Handtucher. Sie rieben sich trocken und betrachteten mit Staunen ihre Haut. Sie war noch immer fahl und fleckig vom Hunger, aber ihnen erschien sie blutenwei?.
Man gab ihnen saubere Sachen aus dem Depot. Sie fuhlten sie an und betrachteten sie, bevor sie sie anzogen. Dann fuhrte man sie in einen anderen Raum. Das Baden hatte sie belebt und gleichzeitig sehr mude gemacht. Sie gingen schlafrig und bereit, an weitere Wunder zu glauben.
Der Raum mit den Betten uberraschte sie kaum. Sie sahen auf die Reihen und wollten weitergehen.
»Hier«, sagte der Amerikaner, der sie fuhrte.
Sie starrten ihn an. »Fur uns?«
»Ja. Zum Schlafen.«
»Fur wie viele?«
Lebenthal zeigte auf das nachste Bett, dann auf sich und Bucher und fragte:»Zwei?«