»Aber dann -«
»Vielleicht hab ich mir alles nur eingebildet«, sagte Harry.»Aber… was ich gesehen habe… sah wie Dad aus… ich hab Fotos von ihm…«
Hermine sah ihn immer noch an, als machte sie sich Sorgen um seinen Verstand.
»Ich wei?, das klingt verruckt«, sagte Harry mit tonloser Stimme. Er sah sich nach dem Hippogreif um, der gerade den Schnabel in die Erde bohrte und offenbar nach Wurmern suchte. Aber im Grunde sah er Seidenschnabel gar nicht an.
Er dachte uber seinen Vater nach und uber seine drei altesten Freunde… Moony, Wurmschwanz, Tatze und Krone… waren sie alle vier heute Nacht auf dem Gelande? Wurmschwanz war diesen Abend wieder aufgetaucht, wo doch alle gedacht hatten, er sei tot… war es denn unmoglich, da? sein Vater dasselbe getan hatte? Hatte er druben am anderen Ufer wirklich jemanden gesehen? Die Gestalt war zu weit weg und zu verschwommen… doch einen Moment lang war er sich sicher gewesen, bevor er ohnmachtig wurde…
Eine leichte Brise lie? die Blatter uber ihnen rascheln. Hinter den Wolken, die uber den Himmel zogen, kam der Mond zum Vorschein und verschwand wieder. Hermine sa? da, unverwandt auf die Weide blickend, und wartete.
Und dann, endlich, nach uber einer Stunde…
»Da kommen wir!«, flusterte Hermine. Auch Seidenschnabel hob den Kopf Sie sahen Lupin, Ron und Pettigrew muhsam aus dem Erdloch klettern. Dann kam Hermine… dann der bewu?tlose Snape, merkwurdig senkrecht dahinschwebend. Schlie?lich kamen Harry und Black. Sie alle machten sich auf den Weg zum Schlo?.
Harrys Herz begann sehr schnell zu pochen. Er sah zum Himmel. Jeden Moment wurde diese Wolke weiterziehen und der Mond wurde zum Vorschein kommen…
»Harry«, murmelte Hermine, als ob sie genau wu?te, was er dachte,»wir mussen hier bleiben. Wir durfen nicht gesehen werden. Wir konnen nichts tun…«
»Also lassen wir Pettigrew einfach wieder entkommen…«, sagte Harry leise.
»Wie willst du denn in der Dunkelheit eine Ratte finden?«, fauchte Hermine.»Wir konnen nichts tun! Wir sind zuruckgekommen, um Sirius zu helfen, und wir sollten jetzt nichts anderes tun!«
»Ist ja gut!«
Der Mond trat hinter der Wolke hervor. Sie sahen, wie die kleinen Figuren auf dem Gras innehielten. Dann bewegte sich etwas.
»Das ist Lupin«, flusterte Hermine,»er verwandelt sich.«
»Hermine!«, sagte Harry plotzlich,»wir mussen fort von hier!«
»Das geht nicht, ich erklar dir doch standig -«
»- da? wir uns nicht einmischen sollen! Ja doch, aber Lupin wird in den Wald rennen, direkt auf uns zu!«
Hermine ri? die Augen auf
»Schnell!«, stohnte sie und sprang zu Seidenschnabel, um ihn loszubinden.»Schnell! Wo sollen wir denn hin? Wo sollen wir uns verstecken, die Dementoren werden jeden Moment kommen!«
»Zuruck zu Hagrid!«, sagte Harry.»Die Hutte ist leer – komm schon!«
Sie rannten, so schnell sie konnten, und Seidenschnabel setzte in langen Sprungen hinter ihnen her. Schon horten sie den Werwolf hinter sich heulen…
Sie konnten die Hutte jetzt sehen; Harry rutschte zur Tur, stie? sie auf und Hermine und Seidenschnabel flitzten an ihm vorbei. Harry sturzte ihnen nach und verriegelte die Tur. Fang, der Saurude, klaffte laut.
»Schhh, Fang, wir sind's!«, sagte Hermine. Rasch ging sie hinuber und kraulte Fang besanftigend die Ohren.»Das war wirklich knapp!«, sagte sie.
»Jaah…«
Harry sah aus dem Fenster. Von hier aus war kaum noch etwas zu sehen. Seidenschnabel schien uberglucklich, wieder zu Hause zu sein. Er legte sich vor den Kamin, faltete zufrieden die Flugel und wollte offenbar ein kleines Nickerchen einlegen.
»Ich glaube, ich geh am besten wieder nach drau?en«, sagte Harry langsam.»Ich kann von hier aus nicht sehen, was passiert, und wir mussen doch wissen, wann es Zeit ist -«
Hermine sah ihn argwohnisch an.
»Ich werd mich ganz bestimmt nicht einmischen«, sagte Harry rasch.»Aber wenn wir nicht sehen, was passiert, wie sollen wir dann wissen, wann es Zeit ist, Sirius zu retten?«
»Von mir aus… ich warte hier mit Seidenschnabel… aber sei vorsichtig, Harry – da drau?en ist ein Werwolf – und die Dementoren!«
Harry ging hinaus und schlich um die Hutte herum. Aus der Ferne horte er erschopfte Schreie. Die Dementoren kreisten jetzt Sirius ein… er und Hermine wurden jeden Augenblick zu ihm laufen…
Harry schaute hinuber zum See und sein Herz fuhrte eine Art Trommelwirbel in seiner Brust auf… wer immer auch den Patronus geschickt hatte, wurde jeden Moment auftauchen…
Fur den Bruchteil einer Sekunde stand er unentschlossen vor Hagrids Tur. Keiner darf dich sehen. Doch er wollte nicht gesehen werden. Er wollte sehen… er mu?te es unbedingt wissen…
Und da waren die Dementoren. Sie kamen aus der Dunkelheit, aus allen Richtungen, und glitten am Ufer des Sees entlang… sie entfernten sich von Harry, schwebten hinuber zum anderen Ufer… er wurde ihnen nicht zu nahe kommen…
Harry rannte los. Er dachte nur noch an seinen Vater… wenn er es war… wenn er es wirklich war… er mu?te es wissen, er mu?te es herausfinden…
Der See kam naher und naher, doch niemand war zu sehen. Am anderen Ufer konnte er dunne Silberschleier erkennen – seine eigenen Versuche, einen Patronus zu schaffen.
Harry versteckte sich hinter einem Busch am Wasser und schaute verzweifelt durch das Blattwerk. Das silberne Glimmen am anderen Ufer erlosch mit einem Mal. Erregung packte ihn und Furcht – jeden Augenblick -
»Komm jetzt!«, murmelte er und spahte umher,»wo bist du? Dad, komm bitte -«
Doch keiner kam. Harry hob den Kopf und sah hinuber. Die Dementoren hatten einen Ring gebildet. Einer von ihnen nahm die Kapuze ab. Es war hochste Zeit, da? der Retter erschien – doch diesmal kam keiner zu Hilfe -
Und dann traf es ihn wie ein Schlag – er begriff. Er hatte nicht seinen Vater gesehen – sondern sich selbst -
Harry sturzte hinter dem Busch hervor und zuckte den Zauberstab.
»Expecto patronum!«, rief er.
Und aus der Spitze seines Zauberstabs brach etwas hervor, keine unformige Nebelwolke, sondern ein schones, blendend helles, silbernes Tier – er kniff die Augen zusammen und versuchte zu erkennen, was es war – es sah aus wie ein Pferd – es galoppierte lautlos davon, uber die schwarze Oberflache des Sees; Harry sah, wie es den Kopf senkte und mit den Hinterbeinen gegen den Schwarm der Dementoren ausschlug… jetzt galoppierte es im Kreis um die schwarzen Gestalten am Boden, und die Dementoren wichen zuruck, zerstreuten sich, verloren sich in der Dunkelheit… und waren verschwunden.
Der Patronus wandte sich um. Das Tier galoppierte uber den stillen See zuruck. Es war kein Pferd. Es war auch kein Einhorn. Es war ein Hirsch. Er leuchtete so hell wie der Mond am Himmel… er kehrte zu ihm zuruck…
Am Ufer hielt er inne. Seine Hufe hinterlie?en keine Spur im weichen Boden. Er starrte Harry mit seinen gro?en silbernen Augen an. Langsam neigte er den Kopf mit dem schweren Geweih. Und Harry erkannte…
»Krone«, flusterte er.