getroffenen Anweisungen sich zu bewahren schienen, und zum mindesten verfolgten sie alle gemeinsam das Ziel, diesen beklagenswerten Typhusausbruch zu bekampfen. Mit leicht gerunzelter Stirn gab er dem Koch, der sich jetzt angezogen hatte, seine Anweisungen: »Vergessen Sie nicht, besonders sorgfaltig auf Hygiene zu achten, und halten Sie unbedingte Sauberkeit bei Ihrer Arbeit in der Kuche ein.«

»Ja, Doktor.«

Als der Mann hinausging, trat Kent O'Donnell ein. »Nun«, fragte er, »wie lauft alles?«

Chandler war zunachst geneigt, hochmutig zu antworten. Dann dachte er, da? dazu vielleicht doch kein Anla? vorliege, und von dem kleinen Fehler abgesehen, da? O'Donnell nach Chandlers Meinung sich manchmal etwas zu demokratisch gab, war er als Leiter des Ausschusses ein guter Mann und zweifellos erheblich viel besser als sein Vorganger. Deshalb antwortete er recht liebenswurdig: »Ich habe schon seit einiger Zeit vergessen, zu zahlen. Ich nehme an, wir werden fertig. Aber bisher hat sich noch nichts ergeben.«

»Gibt es neue Typhuskranke?« fragte ODonnell. »Und wie steht es mit den vier Verdachtigen?«

»Es sind jetzt vier eindeutige Falle«, antwortete Chandler, »und von den Verdachtigen konnen Sie zwei streichen.«

»Sind schwere Falle darunter?«

»Ich glaube nicht. Dem Himmel sei Dank fur die Antibiotika. Vor funfzehn Jahren noch ware die Situation sehr viel ernster gewesen.«

»Ja, zweifellos.« O'Donnell war klug genug, darauf zu verzichten, nach den Ma?nahmen fur die Isolierung der Erkrankten zu fragen. Bei all seiner Anma?ung konnte man sich bei Chandler immer darauf verlassen, da? er medizinisch die richtige Entscheidung traf.

»Zwei der Patienten sind Schwestern«, sagte Chandler. »Eine aus der Psychiatrie, die andere aus der Urologie. Die beiden anderen Falle sind Manner, ein Arbeiter aus dem Generatorraum und ein Angestellter aus der Verwaltung.«

»Sie kommen also alle aus weit auseinander gelegenen Teilen des Krankenhauses«, sagte O'Donnell nachdenklich.

»Richtig. Sie haben nur einen gemeinsamen Beruhrungspunkt, namlich die Krankenhauskuche. Ich denke, wir sind fraglos auf der richtigen Spur.«

»Dann will ich Sie nicht langer aufhalten«, sagte O'Donnell. »Sie haben noch zwei Leute drau?en warten, aber andere haben noch mehr, und wir verteilen die ubrigen neu.«

»Gut«, antwortete Chandler. »Ich mache weiter, bis wir fertig sind. Es darf uns nichts aufhalten, gleichgultig, wie lange es dauert.« Er richtete sich auf seinem Stuhl etwas auf. Er hatte das Gefuhl, da? seine Worte den richtigen markigen und mannhaften Ton hatten.

»Ausgezeichnet«, antwortete O'Donnell. »Ich uberlasse alles Ihnen.«

Etwas pikiert uber die beilaufige Reaktion bat der Chef der inneren Abteilung steif: »Bitten Sie die Schwester, den nachsten hereinzuschicken. «

»Aber gern.«

O'Donnell ging hinaus, und einen Augenblick spater trat eine Kuchenhelferin ein. Sie hielt eine Karte in der Hand. Chandler sagte: »Geben Sie das mir. Setzen Sie sich, bitte.« Er legte die Karte vor sich und nahm ein neues Krankenblatt.

»Ja, Sir«, sagte das Madchen.

»Als erstes mochte ich Ihre bisherigen Krankheiten wissen, Ihre eigenen, aber auch die Ihrer Familie - soweit wir es zuruckverfolgen konnen. Beginnen wir bei Ihren Eltern.«

Wahrend das Madchen auf seine eindringlichen Fragen antwortete, fullte Chandler das Formular mit schnell geschriebenen Notizen aus. Als er fertig war, lag, wie immer bei ihm, eine vorbildliche Krankengeschichte vor, die geeignet war, als Muster in jedes medizinische Lehrbuch aufgenommen zu werden. Einer der Grunde, weshalb Dr. Chandler es zum Chef der inneren Abteilung im Three Counties Hospital gebracht hatte, lag darin, da? er ein au?erordentlich genauer und gewissenhafter Kliniker war.

Wahrend Kent O'Donnell die beschlagnahmte Abteilung fur ambulante Patienten verlie?, erlaubte er sich zum erstenmal, aus einigem Abstand heraus uber die Ereignisse dieses Tages nachzudenken. Es war jetzt Nachmittag, und seit dem Morgen war zu vieles geschehen, als da? er schon alle Auswirkungen der Ereignisse ubersehen konnte.

Schnell und unerwartet hatte er zuerst von der falschen Diagnose uber den Zustand des Kindes erfahren, und bald danach war dessen Tod eingetreten. Darauf erfolgten Charlie Dornbergers Rucktritt und Pearsons Entlassung und die Entdeckung, da? in dem Krankenhaus seit uber sechs Monaten die elementarsten hygienischen Kontrollma?nahmen vernachlassigt worden waren. Und nun die Typhusfalle mit der Drohung einer ernsten Epidemie, die wie ein rachendes Schwert uber dem Three Counties Hospital hing.

So vieles war auf einmal zusammengekommen. Warum nur? Wie konnte das geschehen? War es ein plotzlich zutage getretenes Symptom fur ein Leiden, das bisher unentdeckt das Krankenhaus gepackt hielt? Stand vielleicht noch mehr bevor? War es ein Vorzeichen fur den bald bevorstehenden allgemeinen Verfall? Hatten sie sich alle der Uberheblichkeit schuldig gemacht - die O'Donnell vielleicht sogar selbst verursacht hatte?

Er dachte: wir waren alle sicher, so sicher, da? das gegenwartige Regime besser als das vorherige ist. Dafur hatten wir gearbeitet. Wir glaubten, wir seien schopferisch und kamen weiter, wir errichteten einen Tempel des Heilens, einen Ort, wo Medizin verantwortungsbewu?t gelehrt und praktiziert wurde. Aber wir haben versagt, schimpflich und blind versagt, gerade durch unsere guten Absichten. Waren wir dumm und verblendet, hatten wir unsere Blicke nach den Wolken gerichtet, auf schillernde Ideale, wahrend wir die klaren, irdischen Warnungen des Alltags nicht beachteten? Was haben wir hier geschaffen? O'Donnell prufte sich. War es wirklich eine Statte des Heilens? Oder haben wir in unserer Torheit ein blendendes Grabmal errichtet - einen hohlen, antiseptischen Schrein?

In diese bohrenden und qualenden Gedanken versunken ging O'Donnell mechanisch durch das Krankenhaus, ohne auf seinen Weg zu achten. Jetzt kam er zu seinem Buro und trat ein.

Er blieb am Fenster stehen und sah auf den Vorplatz des Krankenhauses hinunter. Wie immer kamen und gingen dort Menschen. Er sah einen humpelnden Mann, eine Frau stutzte ihn. Sie gingen vorbei und verschwanden. Ein Wagen fuhr vor, ein Mann sprang heraus und half einer Frau hinein. Eine Schwester erschien und reichte der Frau ein Baby. Die Turen wurden zugeschlagen, der Wagen fuhr an. Ein Junge an Krucken tauchte auf. Er bewegte sich schnell, schwang seinen Korper mit der Muhelosigkeit langer Ubung. Ein alter Mann in einem langen Regenmantel hielt ihn an. Der Alte schien seinen Weg nicht zu wissen. Der Junge wies ihm die Richtung. Gemeinsam naherten sie sich dem Krankenhaus.

O'Donnell dachte: sie kommen als Bittende zu uns, voller Vertrauen. Sind wir dessen wert? Entschuldigen unsere Erfolge unsere Fehler? Konnen wir im Lauf der Zeit durch unsere Hingabe unsere Irrtumer wiedergutmachen? Werden sie uns je vergeben?

Nuchtern zog er die Folgerung. Nach dem heutigen Tag mu?te vieles geandert werden, Lucken geschlossen - nicht nur die schon entdeckten, sondern andere, die sie durch eifriges Suchen noch aufdecken mu?ten. Sie mu?ten nach den schwachen Stellen tasten, bei sich selbst und in der Organisation des Krankenhauses. Sie mu?ten selbstkritischer sein, sich haufiger selbst uberprufen. Der heutige Tag, dachte er, soll ein helleuchtendes Mahnmal, ein Kreuz des Leidens, ein Zeichen fur den neuen Anfang sein.

Es gab so vieles zu tun; viel Arbeit lag vor ihnen. Sie wurden in der Pathologie anfangen, der schwachen Stelle, an der die Heimsuchung begonnen hatte. Aber sie mu?ten auch woanders neu ordnen. Da waren noch andere Abteilungen, von denen er vermutete, da? sie es dringend brauchten. Es lag jetzt endgultig fest, da? die Arbeit an dem Neubau im Fruhjahr beginnen sollte, und beide Programme mu?ten miteinander verbunden werden. O'Donnell begann zu planen, sein Verstand arbeitete schnell.

Das Telefon klingelte.

Die Zentrale meldete: »Dr. O'Donnell, ein Ferngesprach fur Sie.«

Es war Denise. Ihre Stimme hatte den gleichen gedeckten, weichen Klang, der ihn von Anfang an bezaubert hatte. Nach der Begru?ung sagte sie: »Kent, mein Lieber, ich mochte, da? du dieses Wochenende nach New York kommst. Ich habe fur Freitag abend ein paar Leute eingeladen und mochte dich ihnen vorfuhren.«

Er zogerte nur einen Augenblick, ehe er antwortete: »Es tut mir furchtbar leid, Denise, aber das wird mir nicht moglich sein.«

»Du mu?t aber kommen.« Ihre Stimme war eindringlich. »Ich habe die Einladungen verschickt und kann unmoglich wieder absagen.«

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