heiraten? Im Augenblick schien das alles so fern zu liegen, ein sehnsuchtiges Zwischenspiel, das heute nichts mehr bedeutete. Hier gehorte er hin, an diesem Ort lag sein Schicksal, im Guten oder Bosen.

Er ergriff sie am Arm. »Lucy, wir mussen uns bald sehen. Es gibt so vieles zu besprechen.«

»Gern.« Sie lachelte voller Zuneigung. »Sie konnen mich morgen zum Abendessen einladen.«

Nebeneinander gingen sie durch den Gang, und es gab ihm irgendwie Zuversicht, da? sie neben ihm war. Er betrachtete ihr Profil und erkannte mit Gewi?heit, da? ihnen gemeinsam noch vieles Gute bevorstand. Vielleicht brauchte es Zeit, sich einander anzupassen. Aber schlie?lich, das wu?te er, wurden sie ihre gemeinsame Zukunft finden.

Lucy dachte: Traume werden doch wahr. Meiner auch -vielleicht irgendwann bald.

In der Pathologie dammerte es fruh. Das kam daher, da? sie im Souterrain des Krankenhauses untergebracht war. Als David Coleman das Licht einschaltete, beschlo? er, als eines seiner ersten Ziele durchzusetzen, da? die Abteilung bessere Raume erhielt. Die Tage, in denen die Pathologen automatisch in die abgelegenen Raume der Krankenhauser verbannt wurden, waren voruber. Licht und Luft waren fur sie eine ebenso wichtige Voraussetzung wie fur jeden anderen Zweig der Medizin.

Er trat in die Pathologie und fand Pearson an seinem Schreibtisch. Der alte Mann leerte die Schubladen. Als Coleman eintrat, sah er auf.

»Komisch«, sagte er, »wieviel Mull sich in zweiunddrei?ig Jahren ansammelt.«

Einen Augenblick beobachtete David Coleman ihn. Dann sagte er: »Es tut mir leid.«

»Ihnen braucht nichts leid zu tun«, antwortete Pearson grob. Er schlo? die letzte Schublade und schob Papiere in seine Aktentasche. »Ich habe gehort, Sie bekommen einen neuen Posten. Gratuliere.«

Coleman antwortete aufrichtig: »Ich wunschte, es ware auf andere Weise zustande gekommen.«

»Zu spat, sich darum zu sorgen.« Pearson schnappte den Verschlu? der Aktentasche zu und sah sich suchend um. »Das ist, glaube ich, alles. Wenn Sie noch etwas finden, konnen Sie es mir ja mit meiner Pension zuschicken lassen.«

»Ich mochte Ihnen noch etwas sagen«, begann Coleman.

»Was gibt es?«

Coleman wahlte seine Worte uberlegt. »Die Lernschwester, der das Bein amputiert wurde - ich habe das Bein heute morgen seziert. Sie hatten recht. Ich habe mich geirrt. Es war bosartig -ohne jeden Zweifel ein Osteosarkom.«

Der alte Mann schwieg. Es hatte den Anschein, als ware er in Gedanken weit fort.

»Ich bin froh, da? ich mich nicht geirrt habe«, sagte er dann langsam, »in diesem Fall wenigstens nicht.«

Er nahm seinen Mantel und ging zur Tur. Er schien im Begriff, hinauszugehen, drehte sich dann um. Fast schuchtern fragte er: »Haben Sie etwas dagegen, wenn ich Ihnen einen Rat gebe?«

Coleman schuttelte den Kopf. »Aber nein, bitte.«

»Sie sind jung«, sagte Pearson. »Sie sind voller Saft und Kraft. Das ist gut. Sie konnen auch etwas. Sie sind auf dem laufenden, wissen Dinge, von denen ich nie etwas gehort habe und die ich nie mehr lernen werde. Folgen Sie meinem Rat: versuchen Sie, so zu bleiben. Es wird schwer werden. Geben Sie sich daruber keiner Tauschung hin.« Er winkte zu dem Schreibtisch, den er gerade ausgeraumt hatte. »Sie werden in dem Stuhl da sitzen, und dann klingelt das Telefon, und es ist der Verwaltungsdirektor, der Ihnen wegen des Etats in den Ohren liegt. In der nachsten Minute kommt einer aus dem Labor und will kundigen. Und Sie mussen ihm das ausreden. Und die Arzte kommen und wollen dies und jenes wissen.« Der alte Mann lachelte dunn. »Dann kommen die Vertreter, der Mann mit den unzerbrechlichen Reagenzglasern und dann der mit dem Brenner, der nie ausgeht. Und kaum sind Sie mit dem fertig, kommt wieder einer und noch einer und noch einer. Und wenn der Tag vorbei ist, fragen Sie sich verwundert, wo er geblieben ist und was Sie geleistet, was Sie vollbracht haben.«

Pearson schwieg, und Coleman wartete. Er spurte, da? der alte Pathologe sich mit seinen Worten von einem Teil seiner Vergangenheit loste.

»Und so kann es am nachsten Tag gehen und am ubernachsten und am Tag danach«, fuhr Pearson fort. »Bis Sie feststellen, da? ein Jahr vergangen ist und dann das nachste und dann noch eines. Und wahrend Sie alles das tun, schicken Sie andere zu Kursen, um sich uber die neuesten Entdeckungen in der Medizin zu unterrichten, weil Sie selbst sich nicht die Zeit nehmen konnen, fortzufahren. Und nach und nach horen Sie auf, zu forschen und nachzuforschen, und weil Ihre Arbeit so anstrengend ist, sind Sie abends mude, und Sie bringen nicht mehr die Energie auf, Fachliteratur zu lesen. Eines Tages stellen Sie plotzlich fest, da? alles, was Sie wissen, veraltet ist. Und dann ist der Punkt erreicht, an dem es zu spat ist, um das noch zu andern.«

Von seinem Gefuhl uberwaltigt, versagte ihm die Stimme. Pearson legte eine Hand auf Colemans Arm. Eindringlich fuhr er fort: »Horen Sie auf einen alten Mann, der das alles durchgemacht hat, der den Fehler beging, zuruckzubleiben. Lassen Sie nicht zu, da? es Ihnen auch so geht. Schlie?en Sie sich in einen Schrank ein, wenn es sein mu?. Halten Sie sich das Telefon vom Hals und die Ablage und die Papiere, und lesen und lernen Sie, und halten Sie Augen und Ohren auf, und bleiben Sie auf dem laufenden. Dann kann man Ihnen nie etwas anhaben, wird nie von Ihnen sagen konnen: er ist fertig, uberholt, von gestern. Denn Sie werden dann ebensoviel wissen wie die anderen und mehr, und Sie haben zu Ihrem Wissen Ihre Erfahrung. «

Pearson verstummte und wendete sich ab.

»Ich werde es nicht vergessen«, antwortete Coleman. Respektvoll fragte er: »Darf ich Sie bis zur Tur bringen?«

Sie stiegen die Treppe von der Pathologie hinauf. Auf dem Hauptgang des Krankenhauses setzte gerade das lebhafte Hin und Her des fruhen Abends ein. Eine Schwester eilte mit einem Tablett an ihnen vorbei, ihre gestarkte Uniform rauschte. Sie traten zur Seite, um einem Rollstuhl Platz zu machen. Darin sa? ein Mann in mittlerem Alter, ein Bein in einem Gipsverband, und hielt ein paar Krucken wie in ein Boot eingezogene Ruder. Lachend kamen drei Lernschwestern an ihnen vorbei. Eine Frau, die fur einen Wohltatigkeitsverein arbeitete, schob einen Wagen mit Zeitschriften vor sich her. Ein Mann mit einem Blumenstrau? in der Hand ging zu den Fahrstuhlen. Irgendwo, nicht sichtbar, weinte ein Kind. Es war die Krankenhauswelt. Ein lebender Organismus, ein Spiegel der gro?en Welt drau?en.

Pearson sah sich um. Coleman dachte, zweiunddrei?ig Jahre, und vielleicht sieht er das alles zum letztenmal. Er fragte sich, wie wird es sein, wenn meine Zeit kommt? Werde ich mich in drei?ig Jahren an diesen Augenblick erinnern? Werde ich es dann besser verstehen?

Durch den Lautsprecher im Gang rief eine Stimme aus: »Dr. David Coleman! Dr. David Coleman bitte zur chirurgischen Abteilung.«

»Es hat angefangen«, sagte Pearson. »Es wird ein Gefrierschnitt sein. Es ist besser, Sie gehen hinauf.« Er streckte seine Hand aus. »Viel Gluck.«

Coleman fand es schwer, zu sprechen. »Danke«, sagte er nur.

Der alte Mann nickte und wendete sich ab.

»Gute Nacht, Dr. Pearson.« Das war eine der alteren Schwestern des Krankenhauses.

»Gute Nacht«, antwortete Pearson. Dann blieb er auf dem Weg hinaus unter einem Schild >Nicht rauchen< stehen, um sich eine Zigarre anzuzunden.

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