Diener klopfte leise an eine schwere, geschnitzte Tur, druckte auf die schmiedeeiserne Klinke und lie? O'Donnel in das geraumige Zimmer eintreten.

Zunachst konnte O'Donnell Eustace Swayne nicht sehen. Sein Blick wurde von einem massiven Kamin festgehalten, in dem ein Holzfeuer loderte. Die Warme des Feuers traf ihn wie ein Schlag; der Raum war an dem an sich schon warmen Vormittag im spaten August fast unertraglich warm. Dann erkannte er Swayne, von Kissen gestutzt, in einem riesigen Bett mit vier Pfosten. Um seine Schultern lag ein Morgenmantel mit Monogramm. Als O'Donnell naher trat, bemerkte er mit einem Schock, wie sehr der alte Mann seit ihrer ersten Begegnung -dem Abend mit Orden Brown und Denise - verfallen war.

»Ich danke Ihnen, da? Sie gekommen sind«, sagte Swayne. Auch seine Stimme klang schwacher als fruher. Er bedeutete seinem Besucher, auf einem Stuhl neben dem Bett Platz zu nehmen.

Wahrend O'Donnell sich setzte, sagte er: »Mir wurde mitgeteilt, da? Sie mich zu sehen wunschten.« In Gedanken revidierte er bereits einige seiner ruckhaltlosen Erklarungen, die abzugeben er beabsichtigt hatte. Selbstverstandlich konnte nichts seinen Standpunkt hinsichtlich Joe Pearson andern, aber wenigstens konnte er dabei freundlich sein. O'Donnell wunschte nicht, mit einem krankelnden alten Mann aneinanderzugeraten. Fur eine harte Auseinandersetzung waren die Voraussetzungen zu ungleich.

»Joe Pearson ist bei mir gewesen«, sagte Swayne, »vor drei Tagen war es, glaube ich.«

Hier hatte sich Pearson also in den Stunden aufgehalten, als er vergeblich versucht hatte, ihn zu erreichen. »Ja«, antwortete O'Donnell. »Ich hatte erwartet, da? er zu Ihnen kommen wurde.«

»Er teilte mir mit, da? er das Krankenhaus verla?t.« Die Stimme des alten Mannes klang erschopft. Sie enthielt keine Andeutung der Anschuldigungen, die O'Donnell gegen sich erwartet hatte. Neugierig, was als nachstes kommen wurde, antwortete er: »Ja, das ist richtig.«

Der alte Mann schwieg. Dann sagte er: »Wahrscheinlich gibt es Dinge, uber die niemand Macht hat.« Jetzt war eine Spur Erbitterung zu erkennen, oder war es Resignation? Es war schwer zu entscheiden.

»Das gibt es, glaube ich«, antwortete O'Donnell vorsichtig.

»Als Joe Pearson zu mir kam«, sagte Swayne, »richtete er zwei Bitten an mich. Die erste war, da? an meine Spende fur den Baufonds des Krankenhauses keine Bedingung geknupft werden solle. Ich habe dem zugestimmt. « Es folgte eine Pause. O'Donnell schwieg, wahrend ihm die Bedeutung der Worte aufging. Der alte Mann fuhr fort: »Die zweite Bitte betraf etwas Personliches. Sie haben einen Angestellten in dem Krankenhaus - er hei?t Alexander, glaube ich.«

»Ja«, antwortete O'Donnell verwundert. »John Alexander, er ist Laborant.«

»Er hat ein Kind verloren.«

O'Donnell nickte.

»Joe Pearson bat mich, dem Jungen sein Medizinstudium zu bezahlen. Das kann ich naturlich - ganz muhelos. Geld hat wenigstens noch ein paar nutzliche Zwecke.«

Swayne griff nach einem dicken Umschlag, der vor ihm auf der Decke gelegen hatte. »Ich habe meine Anwalte bereits angewiesen. Es wird ein Fonds zur Verfugung stehen. Er reicht fur die Studienkosten und einen auskommlichen Lebensunterhalt fur ihn und seine Frau. Wenn er sich spater entschlie?t, sich zu spezialisieren, steht auch dafur Geld zur Verfugung.« Der alte Mann schwieg, als ob das Sprechen ihn ermude. Dann fuhr er fort: »Mir schwebt nun etwas Bleibenderes vor. Es wird spater noch mehr junge Leute geben, die eine Forderung vielleicht ebenso verdienen. Ich mochte, da? der Fonds bestehenbleibt und von dem medizinischen Ausschu? des Three Counties Hospitals verwaltet wird. Daran knupfe ich nur eine Bedingung.«

Eustace Swayne sah O'Donnell fest an. Herausfordernd sagte er: »Der Fonds wird den Namen >Joseph- Pearson-Studienstiftung< tragen. Haben Sie dagegen etwas einzuwenden?«

Geruhrt und beschamt antwortete O'Donnell: »Ganz im Gegenteil, Sir. Meiner Meinung nach wird das immer eine Ihrer gro?ten Wohltaten bleiben.«

»Bitte, sag mir die Wahrheit, Mike«, sagte Vivian, »ich mu? es wissen.«

Sie sahen sich an. Vivian in ihrem Krankenhausbett und Mike Seddons, der bedruckt und unsicher daneben stand.

Es war ihre erste Begegnung nach der Trennungszeit. Gestern abend, nachdem Vivians Verlegung ruckgangig gemacht worden war, hatte sie ein zweites Mal versucht, Mike telefonisch zu erreichen, aber vergeblich. Heute morgen war er gekommen, ohne da? sie ihn gerufen hatte, wie sie es vor funf Tagen vereinbart hatten. Jetzt versuchten ihre Augen, in seinem Gesicht zu lesen. Angst bedruckte sie, ihr Instinkt sagte ihr, was ihr Verstand zu erkennen sich weigerte.

»Vivian«, sagte Mike, und sie sah, wie er zitterte, »ich mu? mit dir sprechen.«

Sie antwortete nicht, nur ihr fester Blick begegnete seinem. Seine Lippen waren trocken. Er feuchtete sie mit der Zunge an. Er wu?te, da? sein Gesicht gerotet war, spurte, wie sein Herz klopfte. Gewaltsam unterdruckte er den Wunsch, sich umzudrehen und fortzulaufen. Verkrampft stand er vor ihr, tastete zogernd nach Worten, die er nicht finden konnte.

»Ich glaube, ich wei?, was du sagen willst, Mike.« Vivians Stimme war tonlos, schien jede Empfindung verloren zu haben. »Du willst mich nicht mehr heiraten. Ich ware eine Last fur dich wie ich jetzt bin.«

»Oh, Vivian, Liebling.«

»Nicht, Mike«, unterbrach sie ihn, »bitte nicht.«

Drangend flehte er: »Hor mich bitte an, Vivian. Hor mich zu Ende, so einfach ist es nicht.« Wieder versagten sich ihm die Worte.

Drei Tage lang hatte er nach den richtigen Worten und den richtigen Satzen fur diesen Augenblick gesucht, und wu?te doch, wie er es auch ausdruckte, die Wirkung konnte immer nur die gleiche sein. Seit ihrer letzten Begegnung hatte Mike Seddons die tiefsten Klufte seiner Seele und seines Gewissens durchforscht. Was er fand, hatte in ihm Abscheu und Verachtung fur sich selbst hervorgerufen, aber er hatte die Wahrheit entdeckt. Er wu?te mit Gewi?heit, da? eine Ehe zwischen ihm und Vivian niemals glucklich sein konnte nicht wegen ihrer Mangel, sondern wegen seiner eigenen.

In den Augenblicken forschender Selbstuberprufung hatte er sich gezwungen, sich alle Situationen vorzustellen, die sie zusammen erleben mu?ten. In seiner Phantasie hatte er gesehen, wie sie zusammen einen belebten Raum betraten. Er jung, kraftvoll, unbehindert, aber Vivian an seinem Arm ging langsam, unbeholfen, vielleicht mit einem Stock, und so gut, wie es ein kunstliches Bein erlaubte. Er hatte sich selbst in der Brandung tauchen oder fast nackt am Strand in der Sonne liegen sehen, wahrend Vivian voll angezogen blieb und das alles nicht teilen konnte, weil die Prothese einen ha?lichen Anblick bot und sie, wenn sie sie abnahm, ein groteskes, unbewegliches Monstrum sein mu?te - ein Objekt des Mitleids oder abgewendeter Blicke.

Und mehr als das. Er uberwand jede Hemmung und jeden instinktiven Anstand und hatte sich die sexuelle Seite vorgestellt. Er hatte sich ein Bild der Szene am Abend vor dem Zubettgehen gemacht. Wurde Vivian ihr kunstliches Bein selbst abschnallen, oder wurde er ihr dabei helfen? Konnte die Intimitat des Auskleidens eintreten, des Wissens, was anschlie?end kam? Und wie wurden sie lieben? Mit dem Bein angeschnallt oder nicht? Wie mu?te es sein, wenn es angeschnallt blieb? Der harte, unnachgiebige Kunststoff, der an seinen begehrenden Korper druckte. Und wenn es abgeschnallt war, wie wurde sich der Stumpf unter ihm anfuhlen? Konnte es Erfullung geben in der Vereinigung mit einem Korper, der nicht langer ganz war?

Mike Seddons brach der Schwei? aus. Er war in die Tiefe eingedrungen und hatte seine geheimsten Empfindungen aufgedeckt.

Vivian sagte: »Du brauchst es nicht zu erklaren, Mike.« Diesmal klang ihre Stimme gepre?t.

»Aber ich will es, ich mu? es erklaren. Es gibt so vieles, an das wir beide denken mussen.« Jetzt kamen die Worte schnell, ubersturzten sich in dem Bemuhen, sich Vivian verstandlich zu machen, ihr die Qualen zu schildern, die er in Gedanken durchlitten hatte, ehe er zu ihr kam. Selbst in diesem Augenblick brauchte er ihr Verstandnis.

Er begann wieder: »Verstehe mich doch, Vivian. Ich habe daruber nachgedacht, und es ist fur dich besser.«

Er sah ihren musternden Blick. Es war ihm bisher nicht aufgefallen, wie fest und gerade er war. »Luge mich bitte nicht an, Mike«, sagte sie, »ich glaube, du gehst besser.«

Er wu?te, es war nutzlos. Jetzt wollte er nur noch von ihr fort, nicht mehr Vivians Augen sehen. Aber er zogerte noch. Er fragte: »Was wirst du tun?«

»Ich wei? es wirklich nicht. Ich habe tatsachlich noch nicht daruber nachgedacht.« Vivians Stimme klang fest, aber sie verriet die Muhe, die es sie kostete. »Vielleicht bleibe ich weiter Schwester, wenn sie mich haben

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