wollen. Ich wei? naturlich nicht, ob ich wirklich geheilt bin, und wenn nicht, wie lange ich dann noch habe. So ist es doch, Mike?«
Verlegen und beschamt wendete er seine Augen ab.
Von der Tur sah er zum letztenmal zu ihr zuruck. »Leb wohl, Vivian«, sagte er.
Sie versuchte zu antworten, aber das uberforderte ihre Selbstbeherrschung.
Von der zweiten Etage ging Mike Seddons uber die Treppe zur Pathologie hinunter. Er betrat den Obduktionsraum und fand im Nebenzimmer David Coleman, der ein Bein sezierte. Seddons blickte auf das Bein. Es war wei? und leblos, und dunkles Blut sickerte aus Colemans Messerschnitten. Einen Augenblick stellte er es sich voller Grauen von einem Nylonstrumpf bekleidet vor, mit einer hochhackigen Sandale. Dann folgte er einem entsetzlichen Zwang. Er trat naher und las den Namen auf der offenliegenden Krankengeschichte.
Als er das getan hatte, ging er schnell in den Gang hinaus und ubergab sich.
»Ah, Dr. Coleman, kommen Sie bitte herein.«
Kent O'Donnell stand liebenswurdig von seinem Schreibtisch auf, als der junge Pathologe in sein Zimmer trat. David Coleman war gerade dabeigewesen, nach der Sektion aufzuraumen, als ihn die Benachrichtigung des Chefs der Chirurgie erreicht hatte.
»Nehmen Sie bitte Platz.« O'Donnell hielt ihm sein graviertes, goldenes Zigarettenetui hin: »Zigarette?«
»Danke.« Coleman nahm eine Zigarette und das Feuer, das O'Donnell ihm anbot. Er lehnte sich erwartungsvoll in dem tiefen Ledersessel zuruck. Sein Gefuhl sagte ihm, da? er vor einem Wendepunkt in seinem Leben stand.
O'Donnell trat hinter dem Schreibtisch zum Fenster, blieb, den Rucken der Morgensonne hinter sich zugewendet, stehen. »Ich nehme an, Sie wissen schon, da? Dr. Pearson zuruckgetreten ist«, begann er.
»Ja, ich habe es gehort«, antwortete Coleman ruhig und fuhr zu seiner eigenen Uberraschung fort: »Es ist Ihnen naturlich bekannt, da? er sich in den letzten Tagen nicht geschont hat. Er war Tag und Nacht hier.«
»Ja, das wei? ich.« O'Donnell betrachtete das glimmende Ende seiner Zigarette. »Aber das andert nichts an der Situation. Das ist Ihnen doch klar?«
Coleman wu?te, da? der Chef der Chirurgie recht hatte. »Ja«, antwortete er, »das ist wohl richtig.«
»Joe hat den Wunsch ausgesprochen, sofort auszuscheiden«, fuhr O'Donnell fort. »Das bedeutet, da? bei uns sofort die Stelle des Direktors der Pathologie frei wird. Wollen Sie sie ubernehmen?«
Eine Sekunde lang zogerte David Coleman. Das war das, was er suchte. Eine Abteilung fur sich, die Freiheit, sie zu reorganisieren, die neuen Hilfsmittel der Wissenschaft heranzuziehen, gute Medizin zu praktizieren und die Pathologie den Beitrag leisten zu lassen, den sie bieten konnte. Das war der Gral, nach dem er strebte. Kent O'Donnell hatte ihn greifbar vor ihn hingestellt.
Dann uberfiel ihn Angst. Plotzlich schreckte er vor der uberwaltigenden Verantwortung zuruck, die er zu tragen hatte. Er erkannte, da? er keinen Vorgesetzten haben wurde, der ihm Entscheidungen abnahm. Das endgultige Urteil - die letzte Diagnose wurde bei ihm liegen. War er dem gewachsen? War er dazu schon bereit? Er war noch jung. Wenn er wollte, konnte er noch einige Jahre an zweiter Stelle bleiben. Spater wurden sich ihm noch andere Moglichkeiten offnen, viele im Laufe der Jahre. Dann wurde ihm bewu?t, da? es hier kein Ausweichen gab, da? dieser Augenblick von der ersten Stunde seiner Ankunft im Three Counties Hospital an unaufhaltsam auf ihn zugekommen war.
»Ja«, sagte er, »wenn mir die Stellung angeboten wird, werde ich annehmen.«
»Ich kann Ihnen versichern, da? sie Ihnen angeboten werden wird.« O'Donnell lachelte. Er fragte: »Wurden Sie mir eine Frage erlauben?«
»Gewi?, wenn ich sie beantworten kann.«
Der Chef der Chirurgie schwieg. Er suchte nach den richtigen Worten fur die Frage, die er stellen wollte. Er spurte, da? das, was jetzt gesagt wurde, fur sie beide wichtig war. Schlie?lich sagte er: »Wurden Sie mir Ihre Einstellung erklaren - gegenuber der Medizin und gegenuber unserem Krankenhaus?«
»Das ist schwer in Worte zu fassen«, antwortete Coleman.
»Wollen Sie es nicht versuchen?«
Coleman uberlegte. Es gab Dinge, an die er glaubte. Aber selbst in seinen Gedanken hatte er nur selten versucht, sie zu formulieren. Jetzt war vielleicht die Zeit gekommen, um sie auszusprechen.
»Worauf es wirklich ankommt ist, glaube ich, da? alles - wir Arzte, das Krankenhaus, die praktische Medizin - nur fur einen Zweck existiert: fur die Patienten - um Kranke zu heilen. Ich glaube, das vergessen wir manchmal. Mir scheint, wir versenken uns in die Medizin, verlieren uns in der Wissenschaft, streben nach besseren Krankenhausern, vergessen daruber aber, da? es fur alle diese Dinge nur eine Rechtfertigung gibt - Menschen. Menschen, die uns brauchen, die bei der Medizin Hilfe suchen« Er schwieg. »Ich habe es sehr plump ausgedruckt.«
»Nein«, antwortete O'Donnell, »Sie haben es sehr gut ausgedruckt.« Er empfand Triumph und Hoffnung. Sein Instinkt hatte ihn nicht getauscht: er hatte gut gewahlt. Er sah voraus, da? sie beide, er als Chef der Chirurgie und Coleman als Direktor der Pathologie, gut zusammen pa?ten. Sie wurden weiterstreben und aufbauen, und durch sie wurde das Three Counties Hospital gedeihen. Nicht alles, was sie leisteten, wurde vollkommen sein. Das gab es nicht. Es wurden Mangel und Versager auftreten, aber wenigstens hatten sie die gleichen Ziele, folgten sie den gleichen Empfindungen. Sie mu?ten in engem Kontakt bleiben. Coleman war junger als er, und es gab Gebiete, auf denen O'Donnell ihm durch seine gro?ere Erfahrung helfen konnte. In den letzten Wochen hatte der Chef der Chirurgie selbst viel dazugelernt. Er hatte gelernt, da? Eifer ebenso unausweichlich zur Uberheblichkeit fuhren konnte wie Gleichgultigkeit und da? man auf vielen Wegen auf Katastrophen stie?. Aber von nun an wollte er in jeder Richtung gegen Uberheblichkeit kampfen, und die Pathologie mit dem jungen Dr. Coleman an ihrer Spitze konnte dabei ein starker, rechter Arm sein.
Ihm kam ein Gedanke. Er fragte: »Noch etwas. Was halten Sie von Joe Pearson und von der Art seines Ausscheidens?«
»Ich wei? es nicht«, antwortete David Coleman, »ich wollte, ich wu?te es.«
»Es ist gar nicht so schlecht, wenn man manchmal unsicher ist. Es behutet uns vor einer Erstarrung des Denkens.« O'Donnell lachelte. »Es gibt bei Dr. Pearson einiges, das Sie meiner Meinung nach wissen sollten. Ich habe mich mit einigen der alteren Arzte hier unterhalten. Sie berichteten mir uber seine Tatigkeit hier, uber die auch ich nicht viel wu?te. Joe Pearson hat in den zweiunddrei?ig Jahren hier viel fur das Krankenhaus getan, Dinge, die heute zum gro?ten Teil vergessen sind und die Leute, wie Sie und ich, kaum Gelegenheit haben zu erfahren. Er hat die Blutbank eingerichtet, mussen Sie wissen. Heute erscheint es unverstandlich, aber damals gab es eine ziemlich starke Opposition dagegen. Dann setzte er sich fur die Bildung eines Gewebeausschusses ein. Man hat mir gesagt, da? eine ganze Reihe Arzte ihn deswegen erbittert bekampfte, aber er setzte den Ausschu? durch und trug damit viel dazu bei, den Standard der Chirurgie hier zu heben. Joe hat auch Forschungsarbeiten durchgefuhrt - uber die Ursache und das Auftreten von Schilddrusenkrebs. Der gro?te Teil seiner Arbeit hat heute allgemeine Anerkennung gefunden, aber nur wenige erinnern sich, da? sie von Joe Pearson stammt.«
»Davon wu?te ich nichts«, sagte Coleman. »Danke, da? Sie es mir mitgeteilt haben.«
»Nun, Dinge dieser Art werden vergessen. Joe fuhrte auch vieles Neue in den Labors ein - neue Tests, neue Gerate. Unglucklicherweise kam dann die Zeit, in der er das Neue vernachlassigte. Er lie? sich selbst treiben und fuhr sich in alten Geleisen fest. Das geschieht manchmal.«
Plotzlich dachte Coleman an seinen Vater, an seinen starken Verdacht, da? das sensibilisierte Blut, das das Kind der Alexanders totete, von einer der Transfusionen stammte, die sein Vater vor Jahren angeordnet und gegeben hatte - gegeben hatte, ohne den Rh-Faktor festzustellen, obwohl die Gefahren damals schon bekannt waren.
»Ja«, bestatigte er, »das kommt wohl vor.«
Beide waren aufgestanden und zur Tur gegangen. Als sie hinaustraten, sagte O'Donnell leise: »Es ist fur uns alle gut, wenn wir Mitgefuhl haben, verstehen Sie? Man wei? nie, ob man es eines Tages nicht selbst braucht.«
Lucy Grainger sagte: »Sie sehen mude aus, Kent.«
Es war fruh am Nachmittag, und Kent war im Hauptgang im Erdgescho? stehengeblieben. Ohne da? er es bemerkte, war sie neben ihn getreten.
Liebe Lucy, dachte er - sie ist unverandert, warm und zartfuhlend, ein schutzverhei?ender Hafen in einem wogenden Meer der Ungewi?heit.
War es wirklich kaum eine Woche her, da? er erwogen hatte, Burlington zu verlassen und Denise zu