brachte sie zu dem zuruck, was hier geschehen sollte. Vivian fragte sich, wie sie darauf reagieren wurde; sie fuhlte sich jetzt schon unbehaglich. Sie nahm an, da? sie sich als Krankenschwester an den Anblick von Toten gewohnen musse, aber im Augenblick war er noch fremd und ziemlich furchterregend.

Durch den Gang naherten sich Schritte. Seddons beruhrte sie am Arm und flusterte: »Wir werden uns wiedersehen, bald.« Dann wurde die Tur aufgesto?en, und die Lernschwestern zogen sich respektvoll zuruck, als Dr. Joseph Pearson eintrat. Er gru?te sie mit einem knappen »Guten Morgen«, ging, ohne auf die gemurmelte Antwort zu warten, auf den Schrank zu, streifte seinen wei?en Mantel ab und stie? seine Arme in einen Kittel, den er aus dem Schrank genommen hatte. Pearson winkte Seddons, der zu ihm trat, und die Bander im Rucken des Kittels zuband. Darauf traten die beiden wie eine gut gedrillte Mannschaft an ein Waschbecken, wo Seddons aus einer Dose Talkum uber Pearsons Hande streute, dann ein paar Gummihandschuhe bereithielt, in die der alte Mann seine Hande hineinstie?. Alles das vollzog sich schweigend. Jetzt verschob Pearson seine Zigarre etwas und knurrte ein »Danke«.

Er trat an den Tisch, nahm die Notiztafel, die McNeil ihm entgegenhielt und begann zu lesen, anscheinend, ohne etwas anderes zu bemerken. Bisher hatte Pearson noch nicht einen Blick auf die Leiche geworfen. Wahrend auch Seddons an den Tisch trat, beobachtete er verstohlen diese Szene, und unwillkurlich verglich er sie mit dem Auftreten eines Dirigenten vor einem Symphonieorchester. Es fehlte nur der Applaus.

Nachdem auch Pearson die Krankengeschichte durchgelesen hatte, untersuchte er die Leiche, verglich seine Befunde mit Seddons Aufzeichnungen. Dann legte er die Notiztafel nieder, nahm die Zigarre aus dem Mund und sah die Schwestern auf der anderen Seite des Tisches an. »Es ist das erste Mal, da? Sie einer Obduktion beiwohnen, vermute ich?«

Die Madchen murmelten: »Ja, Sir« oder »Ja, Doktor«.

Pearson nickte. »Dann will ich Ihnen mitteilen, da? ich Dr.

Pearson, der Pathologe an diesem Krankenhaus, bin. Diese Herren sind Dr. McNeil, der Assistenzarzt in der Pathologie, und Dr. Seddons, Assistenzarzt in der Chirurgie im dritten Jahr.« Er wendete sich zu Seddons. »Das stimmt doch?« Seddons lachelte. »Genau, Dr. Pearson.« Pearson fuhr fort: » Im dritten Jahr Assistenzarzt der Chirurgie, der uns gegenwartig eine Zeitlang die Ehre gibt, in der Pathologie tatig zu sein.« Er sah Seddons an. »Dr. Seddons wird sich bald qualifiziert haben, sich als Chirurg niederzulassen, und wird dann auf eine gutglaubige Menschheit losgelassen werden.«

Zwei der Madchen kicherten, die anderen lachelten. Seddons grinste. Das machte ihm Spa?. Pearson lie? sich nie eine Gelegenheit entgehen, einen Hieb gegen die Chirurgen und die Chirurgie zu fuhren. Wahrscheinlich mit gutem Grund. In seinen vierzig Jahren in der Pathologie mu?te der alte Mann einer Menge chirurgischer Scharlatane begegnet sein. Er sah zu McNeil hinuber. Der Assistenzarzt runzelte die Stirn. Er billigt das nicht, dachte Seddons, Mac zieht die Pathologie ohne Randbemerkungen vor. Jetzt sprach Pearson wieder:

»Der Pathologe ist haufig als der Arzt bekannt, den der Patient selten sieht. Dennoch haben wenige Abteilungen eines Krankenhauses eine gro?ere Bedeutung fur die Gesundheit der Patienten.« Jetzt kommt das Verkaufsgesprach, dachte Seddons, und Pearsons nachste Worte gaben ihm recht.

»In der Pathologie wird das Blut eines Patienten untersucht, und seine Exkremente. Es wird seiner Krankheit nachgespurt, entschieden, ob sein Tumor gutartig oder bosartig ist. Es ist die Pathologie, die den Arzt des Patienten uber die Krankheit berat, und manchmal, wenn alles andere in der Medizin versagt« -Pearson machte eine Pause; er sah bedeutungsvoll auf die Leiche von George Andrew Dunton hinunter, und die Augen der Lernschwestern folgten seinem Blick -, »ist es der Pathologe, der die abschlie?ende, die letzte Diagnose stellt.«

Wieder machte Pearson eine Pause. Was fur ein gro?artiger Schauspieler ist der alte Mann, dachte Seddons. Was fur ein ungehemmter, geborener Komodiant.

Jetzt hob Pearson achtunggebietend seine Zigarre. »Ich empfehle«, sagte er zu den Schwestern, »ein paar Worte, die Sie an den Wanden vieler Obduktionsraume finden werden, Ihrer Aufmerksamkeit.« Ihre Blicke folgten seiner Hand zu einem gerahmten Spruch, der von einem geschaftstuchtigen Lieferanten fur Laboratoriumsmaterial als Werbegabe geliefert worden war: Mortui vivos docent. Pearson las den lateinischen Text laut vor und ubersetzte dann: »Die Toten lehren die Lebenden.« Er blickte wieder auf die Leiche hinunter. »Das wird jetzt geschehen. Dieser Mann starb dem Anschein nach« -er betonte die Worte »dem Anschein nach« - »an Herzthrombose. Die Obduktion wird feststellen, ob das stimmt.«

Damit zog Pearson tief an seiner Zigarre, und Seddons, der wu?te, was kam, trat naher. Er selbst war vielleicht nicht mehr als ein Statist bei dieser Szene, aber er hatte nicht die Absicht, einen Auftritt zu verpassen. Als Pearson gerauschvoll eine blaue Rauchwolke von sich stie?, reichte er Seddons die Zigarre, der sie nahm und von dem Obduktionstisch entfernt niederlegte. Jetzt uberprufte Pearson die vor ihm ausgelegten Instrumente und wahlte ein Messer. Mit den Augen schatzte er ab, wo er schneiden wurde, setzte dann die scharfe Stahlklinge an und schnitt schnell, sauber und tief.

McNeil beobachtete verstohlen die Lernschwestern. Weiche und empfindsame Naturen sollten niemals gezwungen werden, an einer Obduktion teilzunehmen, dachte er. Aber selbst fur Erfahrene ist der erste Einschnitt manchmal schwer zu ertragen. Bis zu diesem Punkt hatte die Leiche auf dem Tisch zumindest au?erlich Ahnlichkeit mit einem Lebenden gezeigt. Aber wenn das Messer erst einmal angesetzt wurde, dachte er, ist keine Illusion mehr moglich. Dies ist dann kein Mann, keine Frau, kein Kind mehr, nur noch Fleisch und Knochen, etwas, das einem lebenden Wesen ahnelte, aber kein Leben mehr war. Dies war die letzte Wahrheit, das Ende, das allen bevorstand. Dies war die Erfullung des Alten Testaments: Aus Staub bist du geschaffen und zu Staub sollst du wieder werden.

Mit dem Konnen, der Ubung und der Schnelligkeit langer Erfahrung begann Pearson die Obduktion mit einem tiefen >Y<Einschnitt. Mit zwei kraftigen Schnitten von jeder Schulter nach unten, die sich am Brustbein trafen, bildete er die obere Gabel des >Y<. Von diesem Punkt schnitt er nach unten und offnete von der Brust bis zu dem Geschlechtsteil hinunter den Leib. Es gab ein zischendes, fast rei?endes Gerausch, als er das Messer durch die Haut zog, sie teilte und die darunterliegende gelbliche Fettschicht blo?legte.

McNeil, der standig die Lernschwestern beobachtete, bemerkte, da? zwei totenbla? geworden waren. Eine dritte holte mit offenem Mund tief Luft und wendete sich ab. Die drei anderen sahen stoisch zu. Der Assistenzarzt behielt eine der Bla?gewordenen im Auge. Es war nicht ungewohnlich, da? eine Schwester bei ihrer ersten Obduktion umkippte. Aber diese sechs sahen so aus, als ob sie durchhalten wurden. Bei den zweien, die er beobachtete, kehrte langsam die Farbe zuruck, und das dritte Madchen hatte sich wieder umgedreht, obwohl sie ihr Taschentuch gegen den Mund druckte. Gleichmutig sagte McNeil zu den Schwestern: »Wenn eine von Ihnen fur ein paar Augenblicke hinausgehen will, macht es nichts. Das erste Mal ist es immer etwas angreifend.« Sie sahen ihn dankbar an, aber keine ruhrte sich. McNeil war bekannt, da? manche Pathologen keine Schwestern zu einer Obduktion zulie?en, ehe nicht die ersten Schnitte vollzogen waren. Pearson allerdings hielt nichts davon, jemand etwas ersparen zu wollen. Er war der Ansicht, die Lernschwestern sollten die Obduktion von Anfang an mit ansehen, und das war ein Punkt, in dem McNeil ihm zustimmte. Eine Krankenschwester mu?te sich an vieles gewohnen, das schwer zu ertragen war: Verletzungen, zerrissene Glieder, Verwesung, Operationen. Je fruher sie lernten, sich mit dem Anblick und den Geruchen der Medizin abzufinden, desto besser fur alle Beteiligten, einschlie?lich ihrer selbst.

Jetzt zog McNeil seine eigenen Handschuhe uber und begann mit Pearson zu arbeiten. Inzwischen hatte der alte Mann mit schnellen Bewegungen die Haut von der Brust gelost, mit einem gro?eren Messer von den Muskeln getrennt und die Rippen blo?gelegt. Als nachstes offnete er mit der scharfen, kraftigen Rippenschere den Brustkorb und legte den Herzbeutel und die Lungen frei. Die Handschuhe, die Instrumente und der Tisch begannen sich jetzt mit Blut zu bedecken. Seddons, auch mit Handschuhen neben ihm am Tisch, durchtrennte die unteren Muskellappen und offnete die Bauchhohle. Er ging durch den Raum, um einen Eimer zu holen, und nahm den Magen und die Eingeweide heraus, die er, nachdem er sie kurz betrachtet hatte, in den Eimer legte. Der Gestank begann sich bemerkbar zu machen. Jetzt banden Pearson und Seddons gemeinsam die gro?en Arterien ab, schnitten sie heraus, damit der Leichenbestatter keine Schwierigkeiten bei der Einbalsamierung hatte. Seddons griff nach einem kleinen Schlauch oberhalb des Tisches, drehte einen Hahn an und begann, das in die Bauchhohle ausgeflossene Blut abzusaugen, und nach einem Nicken Pearsons tat er das gleiche in der Brusthohle.

Inzwischen hatte McNeil sich dem Kopf zugewandt. Als erstes vollzog er einen Schnitt um die Schadelbasis. Er setzte unmittelbar hinter dem einen Ohr an und schnitt oberhalb des Haaransatzes hintenherum zum anderen Ohr hinuber, so da? der Schnitt nicht sichtbar war, wenn die Familie des Toten den Verstorbenen zum letzten Mal betrachtete. Dann zog er unter Anwendung aller Kraft seiner Hande die Kopfhaut in einem Stuck nach vorn uber

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