Die Szene lief glatt ab. Sie hatte schon viele Auffuhrungen gesehen. Vielleicht hatten die beiden in ferner Vergangenheit mit ihren makabren kleinen Scherzen aus dem Gefuhl heraus begonnen, dadurch zwischen sich und dem Tod, mit dem sie taglich lebten, eine Barriere aufzurichten. Aber wenn das der Grund gewesen war, hatten sie ihn lange vergessen. Jetzt war es eine Formalitat, die erfullt werden mu?te, die von ihnen erwartet wurde. Sonst nichts. Sie waren mit dem Tod zu vertraut, um ihm gegenuber noch Grauen oder Furcht zu empfinden.
Auf der anderen Seite des Obduktionsraumes stand der Assistenzarzt der Pathologie, Dr. McNeil. Er hatte einen wei?en Kittel ubergezogen, als Schwester Penfield mit ihrem toten Pflegling hereinkam. Jetzt sah er die Krankengeschichte und die anderen Papiere durch, die sie ihm gereicht hatte, und spurte bewu?t die Nahe und die Warme Schwester Penfields. Er nahm ihre leicht gestarkte Uniform wahr, den schwachen Duft nach Parfum, ihre etwas in Unordnung geratene Frisur unter der Haube. Ihr Haar mu?te weich sein, wenn man daruberstrich. Er zwang seine Gedanken zu den Papieren in seiner Hand zuruck.
»Gut, es scheint alles dabei zu sein.«
Sollte er es bei Schwester Penfield einmal versuchen oder nicht? Es war jetzt sechs Wochen her, und im Alter von siebenundzwanzig sind sechs Wochen im Zolibat eine lange Zeit. Schwester Penfield war uberdurchschnittlich anziehend. Vermutlich war sie zweiunddrei?ig; jung genug, um reizvoll zu sein, alt genug, da? es lange her sein mu?te, seit sie ihre Unschuld verlor. Sie schien intelligent und freundlich und hatte auch eine gute Figur. Er konnte erkennen, wo sich unter ihrem wei?en Kittel ihr Unterkleid abzeichnete. Es war anzunehmen, da? sie bei der Hitze nicht viel mehr darunter anhatte. Roger McNeil uberlegte. Wahrscheinlich mu?te er ein paarmal mit ihr ausgehen, ehe es soweit kame. Damit war die Sache erledigt, denn in diesem Monat ging es nicht mehr - das Geld war zu knapp. Spare es fur mich, Ela Penfield, du wirst wiederkommen. Andere Patienten werden sterben und dich herbringen.
»Danke, Doktor.« Sie lachelte und wendete sich ab. Es war zu machen - dessen war er sicher.
Er rief ihr nach: »Bringen Sie mehr, Schwester. Wir mussen in Ubung bleiben.« Auch das war ein abgedroschener Scherz, ein abwehrender Zynismus vor dem Angesicht des Todes.
Elaine Penfield folgte dem Pfleger hinaus. Ihre Reise war beendet, die Tradition erfullt, der besondere, unverlangte Dienst geleistet. Sie hatte ihre zweite Meile zuruckgelegt. Jetzt lag ihre Pflicht bei den Kranken, den Lebenden. Sie hatte allerdings gespurt, da? Dr. McNeil dicht vor einem Annaherungsversuch gestanden hatte. Doch dazu wurde sich wieder eine Gelegenheit ergeben.
Wahrend George Rinne dem Toten eine holzerne Kopfstutze unter den Nacken schob, ihm die Arme an den Seiten ausstreckte, begann McNeil die Instrumente zu ordnen, die sie fur die Obduktion benotigten: Messer, Rippenschere, Klammern, die Motorsage fur den Schadel. alles war sauber -Rinne war ein gewissenhafter Arbeiter -, aber nicht steril, wie es in den Operationsraumen vier Stockwerke weiter oben sein mu?te. Hier brauchte man eine Infektion des Patienten auf dem Tisch nicht mehr zu furchten. Der Pathologe mu?te nur auf sich selbst aufpassen.
George Rinne sah McNeil fragend an, und der Assistenzarzt nickte. »Rufen Sie die Schwesternstation an, George. Sagen Sie, da? die Lernschwestern jetzt herunterkommen konnen, und benachrichtigen Sie Dr. Pearson, es sei alles bereit.«
»Ja, Doktor.« Rinne ging, um den Auftrag auszufuhren. McNeil war als Assistenzarzt der Pathologie sein Vorgesetzter, selbst wenn das Gehalt des Arztes nur wenig hoher als das des Helfers war. Es wurde allerdings nicht lange dauern, bis sich der Abstand zwischen ihnen vergro?erte. Mit dreieinhalb Jahren Assistenzzeit hinter sich, trennten McNeil nur noch sechs Monate von der Aussicht, die Stellung eines Pathologen im
Arztestab eines Krankenhauses zu ubernehmen. Dann konnte er einige der mit zwanzigtausend Dollar im Jahr dotierten Stellungen in Betracht ziehen, da die Nachfrage fur Pathologen glucklicherweise nach wie vor gro?er als das Angebot war. Er brauchte sich dann nicht mehr zu uberlegen, ob er es sich leisten konne, sich Schwester Penfield oder auch anderen zu nahern.
Roger McNeil lachelte innerlich bei dem Gedanken, obwohl sein Gesicht nichts verriet. Leute, die mit McNeil zu tun hatten, hielten ihn fur unzuganglich, was er oft war, und manchmal sprachen sie ihm Humor ab, allerdings zu Unrecht. Unbestreitbar war, da? er sich mit Mannern nicht leicht anfreundete. Aber Frauen fanden ihn anziehend, eine Tatsache, die er fruhzeitig entdeckt und zu seinem Vorteil ausgenutzt hatte. In seiner Praktikantenzeit fanden seine Kollegen das ratselhaft. McNeil, die murrische, brutende Gestalt im Arztezimmer, hatte einen unheimlichen Erfolg, Lernschwestern, eine nach der anderen, schnell in sein Bett zu zaubern, haufig auch solche, bei denen andere, die sich auf ihre Erfolge als Liebhaber viel zugute hielten, gescheitert waren.
Die Tur des Obduktionsraumes ging auf, und Mike Seddons sturmte herein. Seddons war Assistent in der Chirurgie, zeitweise der Pathologie zugeteilt, und sturmte immer. Sein rotes Haar stand an den seltsamsten Stellen von seinem Kopf ab, als ob ein von ihm selbst verursachter Wind es nie glatt liegen lie?e. Sein jungenhaftes, offenes Gesicht war standig zu einem liebenswurdigen Grinsen verzogen. McNeil hielt Seddons fur einen Exhibitionisten, obwohl zu seinen Gunsten zugegeben werden mu?te, da? der Junge sich mit der Pathologie bereitwilliger befa?te als mancher andere der chirurgischen Assistenten, die McNeil gesehen hatte.
Seddons sah auf die Leiche auf dem Tisch. »Aha, neue Arbeit.«
McNeil deutete auf die Krankenpapiere, und Seddons nahm sie auf. Er fragte: »Woran starb er?« Dann, als er las: »Herz, wie?«
McNeil antwortete: »Das steht da.«
»Machen Sie das?«
Der Assistent der Pathologie schuttelte den Kopf. »Pearson kommt selbst.«
Seddons blickte fragend auf. »Der gro?e Chef selbst? Was ist an dem Fall Besonderes?«
»Nichts Besonderes.« McNeil klammerte das vierseitige Obduktionsformular auf der Notiztafel an. »Ein paar Lernschwestern kommen, um es sich anzusehen. Wahrscheinlich will er ihnen eine Vorstellung geben.«
»Eine Galavorstellung also.« Seddons grinste. »Die mu? ich auch erleben.«
»Dann konnen Sie ja auch was Nutzliches tun.« McNeil reichte ihm die Notiztafel. »Wollen Sie das Formular bitte ausfullen.«
»Gewi?.« Seddons nahm die Notiztafel und begann, seine Befunde uber den Zustand der Leiche einzutragen. Er murmelte bei der Arbeit vor sich hin: »Hier hat er eine hubsche, saubere Blinddarmnarbe. Da ein kleines Muttermal am linken Arm.« Er drehte den Arm zur Seite. »Verzeihen Sie, alter Herr.« Er machte eine Notiz. »Leichte Leichenstarre.« Er hob ein Augenlid und schrieb: »Pupillen rund, 0,3 cm Durchmesser.« Er zwangte die schon steifen Kiefer auseinander: »Nun zeigen Sie mal Ihre Zahne.«
Von dem Korridor drau?en waren Schritte zu horen. Dann wurde die Tur des Obduktionsraumes geoffnet, und eine Schwester, in der McNeil eine Schulschwester erkannte, blickte herein. Sie sagte: »Guten Morgen, Dr. McNeil.« Hinter ihr drangte sich eine Gruppe junger Lernschwestern.
»Guten Morgen.« Der Assistenzarzt winkte. »Kommen Sie alle herein.«
Nacheinander traten die Lernschwestern durch die Tur. Es waren sechs, und wahrend sie eintraten, blickte jede beklommen nach der Leiche auf dem Tisch. Mike Seddons grinste. »Beeilt euch, Kinder. Noch findet ihr die besten Platze.«
Seddons betrachtete die Gruppe Madchen abschatzend. Es waren ein paar Neue dabei, die er vorher noch nicht gesehen hatte. Eine davon war brunett. Er betrachtete sie noch einmal. Tatsachlich. Selbst unter der Hulle der spartanischen Lernschwesternuniform war unverkennbar: die hier war etwas Besonderes. Mit scheinbarer Beilaufigkeit durchquerte er den Obduktionsraum, und als er zuruckkam, gelang es ihm, sich zwischen das Madchen, das ihm aufgefallen war, und die ubrige Gruppe zu drangen. Er lachelte breit zu ihr hinunter und sagte leise: »Ich kann mich nicht entsinnen, Sie schon einmal gesehen zu haben.«
»Ich bin genauso lange hier wie die anderen.« Sie musterte ihn ungeniert und neugierig und fugte dann spottisch hinzu: »Ubrigens hat man mich belehrt, da? die Herren Arzte Lernschwestern im ersten Jahr uberhaupt nicht bemerken.«
Er schien daruber nachzudenken. »Nun, das ist die allgemeine Regel. Aber manchmal machen wir Ausnahmen. Es hangt naturlich von der Lernschwester ab.« Mit offen bewundernden Blicken fugte er hinzu: »Im ubrigen, ich hei?e Mike Seddons.«
Sie antwortete: »Und ich hei?e Vivian Loburton.« Dann bemerkte sie den mi?billigenden Blick der Schulschwester und brach plotzlich ab. Vivian gefiel dieser rothaarige junge Arzt, irgendwie schien es aber unangebracht, hier zu plaudern und zu scherzen. Schlie?lich war der Mann auf dem Tisch tot. Er sei gerade gestorben, war ihnen oben gesagt worden. Das war der Grund, weshalb sie und die anderen Lernschwestern von ihrer Arbeit abgerufen worden waren, um bei der Obduktion zuzusehen. Der Gedanke an das Wort Obduktion