Bordell eine schnelle Nummer zu schieben. Und naturlich fanden sie es besonders reizvoll, Wetten auf den Boxkampf abzuschlie?en.
Manner in Uniform gehorten ebenfalls zu den Zuschauern: ein paar Armeeoffiziere und larmende Blaujacken, eine Gruppe Marinesoldaten auf Landgang.
Hausierer und Marktschreier drangten sich durch die Menge, wahrend am Rande der Menschenmassen Mutter ihren Kindern die Brust gaben und rotznasige Goren zwischen den Beinen der Erwachsenen durch den Dreck krabbelten. Verkruppelte Bettler, die sich als Kriegsversehrte ausgaben, baten um milde Gaben, und Betrunkene ubergaben sich in den Rinnstein. In einer Ecke des Hofs stand ein Fanatiker, seinen starren Blick auf eine Holzkiste gerichtet, und predigte gegen die Sunden des Fleisches und der Spielleidenschaft.
Preisboxen war gesetzlich verboten. Aufpasser standen deswegen vor den Hofeingangen und in den schmalen Gassen Schmiere und warnten Kampfer und Zuschauer, wenn sich Polizisten naherten. Dann wurde der Ring innerhalb weniger Minuten abgebaut und Kampfer und Veranstalter tauchten in der Menge unter.
Im Gedrange trieben sich allerdings noch andere Gestalten herum, die weder an dem Boxkampf noch an dem Prediger interessiert waren. Diese, dem Wesen nach sehr verschiedene Kreaturen, wurden von der Aussicht auf reiche Diebesbeute angezogen – Stra?endiebe.
Einer dieser Taschendiebe, ein neunjahriger, fur sein Alter zu kleiner, spindeldurrer Junge, wurde von seinen Kumpanen Tooler genannt, weil er sich schneller, als man nach Luft schnappen konnte, durch die Menge schlangelte und einem Opfer Brieftasche und Uhr entwendete. Schon im Alter von vier Jahren hatte der Zogling des Arbeitshauses Refuge and Bridewell zu klauen angefangen, und mittlerweile galt er in diesem Gewerbe als alter Hase.
Tooler hatte sein Opfer bereits eine Weile beobachtet. Durch die dicht gedrangt stehenden Zuschauer konnte er sich unbemerkt anschleichen, blitzschnell zuschlagen und wieder verschwinden. Jem Whistler, Toolers getreuer und vierzehn Monate alterer Kumpel, wischte sich die Krumel einer gestohlenen Hammelpastete vom Mund und grinste durchtrieben. Dann pirschten sich die beiden barfu?igen Bengel durch die Menge an ihre ahnungslosen Opfer heran.
Zur Freude der Zuschauer rappelte sich Figg noch einmal auf und landete ein paar, wenn auch ungezielte Treffer auf Benbows schon von Schlagen gezeichnetem Oberkorper. Vom Gebrull seiner Anhanger angespornt, holte er zu einem wilden Schwinger aus, der den Kampf wohl beendet hatte, ware sein Gegner dem Schlag nicht ausgewichen und hatte er Figg nicht oberhalb des Herzens mit einem machtigen Aufwartshaken getroffen. Figg wurde auf dem falschen Fu? erwischt, er taumelte unter der Wucht des Schlags, und Schmerz verzerrte sein ubel zugerichtetes Gesicht. Blut tropfte ihm aus der Nase, und sein rasierter Schadel glanzte vor Schwei?.
Toolers Opfer, ein rothaariger Soldat mit kraftiger Gesichtsfarbe in dem scharlachroten Rock und den wei?en Kniehosen eines Majors stand mit seinem ebenfalls uniformierten Kameraden unter dem Gewolbe eines Stalls. Mit gesenktem Kopf, Jem dicht auf seinen Fersen, schlich sich Tooler an den Major heran.
Im Boxring hieb Figg dem Mann aus Cornwall jetzt mit der Faust in die Nieren, worauf die Zuschauer kurz den Atem anhielten und dann laut schreiend beide Kampfer anfeuerten.
Diese Gelegenheit nutzte Tooler. Er beruhrte leicht die Scharpe des Majors, hakte mit einer einzigen geschickten Bewegung die Taschenuhr aus und gab sie unter seinem Arm hindurch in Jem Whistlers ausgestreckte Hand weiter. Dann trennten sich die beiden kleinen Diebe sofort. Innerhalb von Sekunden waren sie in der Menge verschwunden. Weder der Major noch sein Kamerad hatten etwas von dem Diebstahl bemerkt.
Im Ring droschen die beiden Kampfer weiter aufeinander ein. Figg machte unter den Schlagen des Mannes aus Cornwall allmahlich schlapp. Blut und Schleim troffen aus seiner aufgeplatzten Nase und bespritzten sogar die direkt an den Seilen stehenden, vor Begeisterung grolenden Zuschauer. Der Kampf wuchs sich zu einer erbarmungslosen Keilerei aus.
Ohne auf das Spektakel zu achten, schlangelten sich die beiden Jungen durch die Menge und tauchten am Rand des Hofes in einer schmalen Gasse unter. Die dort postierten Aufpasser waren viel zu sehr mit dem Geschehen im Boxring beschaftigt, als dass sie auf zwei kleine Halunken achten konnten.
In dem Gewirr der feuchten, dunklen Gassen hinter der Taverne hasteten Tooler und Jem Whistler an verfallenen Behausungen und heruntergekommenen Herbergen vorbei. In einer der Jauchegruben in der Mitte einer Gasse lag ein aufgeblahter Tierkadaver. Ratten flohen piepend in den Schutz brockelnder Hauswande. Finstere, schattenhafte Gestalten standen in dunklen Eingangen oder waren schemenhaft im flackernden Kerzenschein hinter Fensterscheiben zu sehen. Wahrend die Nachmittagssonne hinter den verschachtelten Dachern versank, drangen die beiden Jungen immer tiefer in dieses Labyrinth ein.
Mutter Gants Herberge stand an der Seite eines kleinen Hofs am Ende eines huftbreiten Durchgangs. Wie bei vielen dieser verkommenen Absteigen in dem Elendsviertel war uber dem schmalen Eingang ein uberhangendes Dach angebracht. Die Fenster starrten vor Dreck. In dem Bretterverschlag in einer Ecke wuhlten zwei magere Schweine in einem leeren Trog. Als die beiden Jungen vorbeiliefen, hoben sie neugierig grunzend die Russel.
In der verraucherten Kuche der Bruchbude mit ru?geschwarzten Wanden und einem Fu?boden aus festgestampftem Lehm verbreitete eine Funzel trubes Licht. An der offenen Feuerstelle ruhrte eine alte, schwarz gekleidete Frau mit einem zerschlissenen Schal uber den Schultern in einem gro?en Kessel. An dem langen Eichentisch in der Mitte des Raums sa?en ein Dutzend Kinder im Alter zwischen sechs und sechzehn Jahren – blasse, ungewaschene Madchen und Jungen in Lumpen. Als Tooler und Jem hereinkamen, drehte die Alte sich um. Im flackernden Schein des Kohlefeuers funkelten ihre wassrigen Augen.
Niemand kannte Mutter Gants Alter, man wusste nur, dass ihr diese Herberge gehorte, solange sich ihre Nachbarn erinnern konnten. Drei Ehemanner hatte sie uberlebt; zwei waren an Krankheiten gestorben, und der dritte war eines Nachts spurlos verschwunden. Geruchten nach hatte man ihn nach einer Kneipenschlagerei mit aufgeschlitzter Kehle in den Fluss geworfen. Niemand hatte diesen Saufer vermisst, am wenigsten seine Frau.
Die Kinder am Tisch waren Waisen und Herumtreiber, die Mutter Gant bei sich aufgenommen hatte – nicht etwa aus Nachstenliebe, sondern aus Habgier. Fur das Dach uber dem Kopf und das Essen im Bauch mussten die Goren bezahlen – mit Diebesbeute, denn Geld hatten sie ja nicht.
Mutter Gant beherbergte die Waisen. Sie brachte ihnen das Stehlen bei, schickte sie auf die Stra?e und verhokerte dann die Beute. Und wehe dem, der mit leeren Handen zuruckkam!
Als Tooler und Jem ihre fur diesen Nachmittag reiche Beute – drei Uhren, zwei Broschen, eine silberne Schnupftabakdose und vier Geldbeutel – stolz auf dem Tisch ausbreiteten, lie? Mutter Gant ihren Kochtopf im Stich und sichtete leise girrend die Schatze. »Das habt ihr gut gemacht, Jungs«, sauselte sie. »Mutter ist sehr erfreut.«
Dann griff die Alte nach der Schnupftabakdose, betastete sie prufend, offnete den Deckel, nahm mit den Fingerspitzen eine Prise heraus, legte sie auf ihren Handrucken, neigte den Kopf und schnupfte laut und genusslich. Darauf klappte sie den Deckel wieder zu, wischte sich mit dem Armel die Krumel von der Oberlippe und lie? hamisch grinsend die Dose in einer der vielen Taschen ihres Rocks verschwinden.
»Heute Abend kriegt ihr eine Extraportion, meine Su?en«, flusterte sie und kehrte hinkend zur Feuerstelle zuruck. »Die, die am hartesten arbeiten, verdienen eine Belohnung. Ist doch richtig, oder?«
In diesem Moment verdunkelte ein Schatten die offen stehende Eingangstur. »Hallo, Mutter Gant. Ist an deinem Tisch noch Platz fur einen hungrigen Mann?«
Angst blitzte in den Augen der Alten auf, als der Besucher in den Raum trat.
Der gro?e Mann war mit einem mitternachtsblauen, wadenlangen Reitmantel bekleidet. Darunter trug er eine eng geschnittene schwarze Weste, dazu graue Kniehosen und schwarze, hohe Stiefel. Da er barhauptig war, fiel sein schwarzes, an den Schlafen ergrautes, langes Haar auf, das er – was fur die Mode dieser Zeit ungewohnlich war – im Nacken mit einem schwarzen Band zusammengebunden hatte. Unter seinem linken Auge zeichnete sich entlang des Wangenknochens eine schartige Narbe ab.
Wie von Matthew Hawkwood nicht anders erwartet, brach in dem Raum gleich nach seinem Eintreten die Holle los. Stuhle und Banke fielen um, als die Kinder wie von einem Wiesel gejagte Kaninchen an ihm vorbei zur Tur liefen. Und die Alte drehte sich bemerkenswert behande um, warf ihre Suppenkelle nach dem unerwunschten Besucher und stie? gleichzeitig einen schrillen Schrei aus. Daraufhin erhob sich eine bis dahin stumm in der Ecke sitzende massige Gestalt.
Mutter Gant hatte drei Sohnen und einer Tochter das Leben geschenkt. Ihr Erstgeborener war wie ihr erster und zweiter Ehemann von den Pocken dahingerafft worden, und auch ihr zweiter Sohn war ihr genommen