Marjana war erfolgreich gewesen — sie hatte einen ganzen Sack mit Pilzen gefullt. Allerdings mu?ten sie auch weit gehen, bis zur Schlucht. Mit Oleg hatte sie es nie gewagt, eine solche Strecke zuruckzulegen, doch mit Dick fuhlte sie sich ruhig, ganz einfach weil er selbst sicher war. Er war es uberall, sogar im Wald. Obwohl ihm die Steppe mehr behagte. Er war Jager, schien als Jager auf die Welt gekommen zu sein. Dabei war er vor der Grundung der Siedlung geboren worden.
„Du fuhlst dich im Wald ja wie zu Hause“, sagte Dick laut.
Er ging leicht seitlich vor ihr, die Jacke mit dem Fell nach au?en sa? an ihm wie die eigene Haut. Er hatte sich diese Jacke selbst genaht. Kaum jemand von den Frauen im Dorf hatte das so gekonnt. Marjana jedenfalls hatte es nie zuwege gebracht. Der Wald hier war licht und knorrig, die Baume erreichten wenig mehr als Menschengro?e und neigten ihre Wipfel zur Seite, als furchteten sie, sich zwischen ihren Nachbarn hervorzurecken. Und sie hatten allen Grund “
die Winterwinde brachen schnell die Baumspitzen weg.
Von den Nadeln tropfte es. Es war ein kalter Regen, und Marjanas Hand, die den Sack mit den Pilzen trug, wurde steif davon. Sie nahm den Sack in die andere Hand. Die Pilze begannen sich knirschend zu bewegen. Die Hand tat weh, Marjana hatte sich einen Splitter eingezogen, als sie an der Schlucht die Pilze ausgrub. Dick hatte ihn wegen der Infektionsgefahr sofort herausgezogen — man wu?te ja nie, was fur eine Nadel das war. Dann hatte Marjana noch einen Schluck von dem Gegengift genommen, das sie in einem Flaschchen stets um den Hals trug.
An den dicken, wei?en, glitschigen Wurzeln einer Kiefer entdeckte Marjana einen kleinen violetten Tupfen.
„Warte, Dick“, sagte sie, „dort ist eine Blume, die ich noch nie gesehen habe.“
„Geht’s nicht ohne Blumen?“ fragte Dick. „Wir mussen nach Hause. Irgendwas hier gefallt mir nicht.“
Dick besa? ein besonderes Gespur fur Unannehmlichkeiten, Marjana hatte auf ihn horen sollen.
„Eine Sekunde“, sagte sie statt dessen und rannte zu dem Baum. Die weiche, porose, blaulich schimmernde Rinde der Kiefer, die das Regenwasser hochpumpte, vibrierte sacht, und die Wurzeln zuckten, veranderten ihre Lage, streckten ihre Verastelungen aus, um sich keinen einzigen Tropfen entgehen zu lassen. Der Tupfen war in der Tat eine Blume. Ein gewohnliches Veilchen. Nur um vieles kraftiger in der Farbe und gro?er als die normalen Veilchen, die in der Siedlung wuchsen. Auch die Stachel waren langer. Marjana ri? die Blume mit einem Ruck aus dem Boden, damit sie sich nicht erst mit der Wurzel am Stamm festkrallen konnte, und eine Sekunde spater lag das Veilchen in dem Sack mit den Pilzen, die so zu rascheln und knirschen begannen, da? Marjana direkt lachen mu?te.
Deshalb horte sie nicht gleich, wie Dick rief: „Leg dich hin!“
Sie reagierte schnell, machte einen Satz nach vorn, lie? sich fallen und pre?te sich in die pulsierenden Wurzeln der Kiefer. Doch um Sekunden zu spat. Ihr Gesicht brannte, als hatte man es mit kochendem Wasser bespritzt.
„Die Augen“, rief Dick, „sind die Augen heil?!“ Er packte Marjana bei den Schultern, setzte sie auf, loste ihre schmerzverkrampften Finger von den Wurzeln.
„La? die Augen zu“, sagte er und machte sich hastig daran, die kleinen dunnen Nadeln aus ihrem Gesicht zu ziehn. Dabei sprach er wutend vor sich hin: „Du dumme Trine, dich darf man wahrhaftig nicht in den Wald lassen.
Man mu? doch aufpassen. Tut’s weh?“
„Ja.“
Dick lie? sich unvermittelt auf Marjana fallen und druckte sie auf die Wurzeln. „Au, das schmerzt doch!“
„Da kam noch eine geflogen“, sagte er und stand auf.
„Du wirst es nachher sehen, sie ist gegen meinen Rucken geprallt.“
Zwei weitere Kollerdisteln trudelten etwa drei Meter von ihnen entfernt voruber. Prall, aus einem Geflecht von nadelformigen Samen, aber leicht wie Luft. Da sie innen hohl waren, flogen sie so lange, bis sie gegen einen Baum prallten oder von einem Windsto? gegen einen Felsen getrieben wurden. Millionen dieser kleinen Kugeln gingen zugrunde; eine jedoch fand ihr Opfer, stie? ihre Nadeln in die warme Haut und aus den Nadeln sprossen dann junge Triebe. Diese Kugeln waren sehr gefahrlich, man mu?te zu ihrer Reifezeit au?erst vorsichtig im Wald sein, sonst behielt man Narben furs ganze Leben zuruck.
„Das war’s“, sagte Dick, „die Nadeln sind alle raus. Am wichtigsten ist aber, da? keine in die Augen gekommen sind.“
„Sind es viele Narben?“ fragte Marjana leise.
„Sie werden deiner Schonheit keinen Abbruch tun“, erwiderte Dick. „Doch jetzt schnell nach Hause, damit Egli Fett druberstreichen kann.“
„Ja, du hast recht.“ Marjana fuhr sich mit Hand uber die Wange. Dick bemerkte es und schlug ihr auf die Finger.
„Bist du verruckt? Du hast Pilze angefa?t, die Blume beruhrt. Du wirst dir noch eine Infektion einhandeln.“ Die Pilze waren unterdessen aus dem Sack gekommen, hatten sich zwischen den Wurzeln verkrochen, einigen war es sogar gelungen, sich halb in die Erde zu graben. Dick half Marjana beim Einsammeln, denn sie weigerte sich, ohne Pilze zuruckzukehren. Nur das Veilchen fanden sie nicht mehr. Dick gab Marjana den Sack wieder, er war leicht, und fur ihn war es wichtig, kein Gepack zu haben.
Im Wald entschieden Sekunden, da mu?ten die Hande des Jagers frei sein.
„Sieh mich an“, sagte Marjana und nahm den Sack. Ihre kuhle, schmale, feste Hand mit den abgebrochenen Fingernageln blieb einen Augenblick auf Dicks Hand liegen. „Bin ich sehr verstummelt?“
„Ist doch lacherlich“, sagte Dick, „alle haben diese Punkte im Gesicht. Ich auch. Bin ich deswegen verstummelt? Das ist eben die Tatowierung unseres Stammes.“
„Die Tatowierung?“
„Ja, hast du’s vergessen? Der Alte hat uns im Geschichtsunterricht erzahlt, da? sich die wilden Stamme fruher bewu?t mit solchen Verzierungen schmuckten. Sie waren so etwas wie eine Auszeichnung. Aber das wei?t du naturlich nicht, hast ja immer blo? zum Fenster rausgeschaut.“
„Das waren Wilde“, entgegnete Marjana, „mir aber tut’s weh.“
„Wir sind ebenfalls Wilde.“ Dick war bereits vorangegangen, ohne sich umzudrehen. Doch Marjana wu?te, da? er alles horte. Er hatte das Gehor eines Jagers. Marjana sprang uber den grau?en Stengel einer Rauberliane.
„Spater juckt es“, sagte Dick, „du wirst nicht schlafen konnen. Das wichtigste ist, nicht zu kratzen, dann gibt es keine Spuren. Aber die meisten kratzen.“
„Ich nicht“, sagte Marjana.
„Im Schlaf vergi?t du’s und kratzt doch.“
Es regnete nun starker, die Haare klebten Marjana am Kopf, Tropfen fielen ihr von den Wimpern, hinderten sie am Sehen, doch fur die Wangen war das kuhle Na? angenehm. Sie sagte sich, da? Dicks Haare mal geschnitten werden mu?ten, denn sie fielen auf die Schultern und storten. Es war schlecht, da? er so allein lebte. Alle lebten zusammen, nur er war nach dem Tod seines Vaters fur sich geblieben, hatte sich daran gewohnt.
„Spurst du eine Gefahr?“ fragte Marjana, als bemerkte, da? Dick schneller ging.
„Ja“, sagte er, „hier sind Tiere. Wahrscheinlich Schakale. Ein ganzes Rudel.“
Sie begannen zu laufen, doch das war im Wald schwer.
Wer kopflos drauflosrannte, wurde von einer Liane oder einer Eiche zum Mittag verspeist. Die Pilze schlugen im Sack um sich, aber Marjana wollte sich nicht von ihnen trennen. Bald mu?te der Holzeinschlag kommen und danach die Siedlung. Am Zaun wurde auf jeden Fall eine Wache stehn.
Sie sah, wie Dick das Messer aus dem Gurtel holte und die Armbrust fester packte. Auch sie holte ihr Messer aus dem Gurtel, das freilich schmaler und dunner war, mehr geeignet, Lianen zu durchtrennen oder Pilze abzuschneiden. Gegen ein Rudel Schakale dagegen half das Messer kaum, besser war da noch ein Stock.
Sie liefen bereits den Pfad entlang — die Schakale wagten sich selten so nahe ans Dorf heran. Doch am Morgen hatte Thomas sie beide passieren lassen und dabei von den Tieren erzahlt, die nachts so dicht herangekommen waren, da? Oleg sie nur mit Muhe hatte vertreiben konnen.
Oleg a? die Suppe auf, er stellte die Kasserolle mit dem Bodensatz aufs Bord. Die Schuler tappten mit