alten dicken Kiefer gepre?t, der sich leicht nach innen bog, als wollte er dem Madchen Schutz bieten. Dick dagegen lag nicht auf den Knien. Er kampfte mit einem Messer gegen einen gro?en grauen Schakal, der den Hieben auswich, zischend und sich verrenkend. Ein anderer Schakal walzte sich seitlich auf der Erde, er hatte einen Pfeil in der Flanke.
Funf weitere Tiere, wenn nicht mehr, sa?en abseits in einer Reihe, wie Zuschauer. Es war eine seltsame Eigenschaft der Schakale, niemals im Trupp anzugreifen, sondern abzuwarten. Wenn der erste mit dem Opfer nicht fertig wurde, attackierte der nachste. Und das solange, bis sie gesiegt hatten. Sie empfanden kein Mitleid fureinander, begriffen die Sache gar nicht. Sergejew hatte eines Tages einen Schakal seziert und nicht ein Stuckchen Gehirn bei ihm gefunden.
Die Schakale in ihrer Abwartehaltung wandten wie auf Kommando ihre Schnauzen den Leuten zu, die auf die Lichtung gesturzt kamen. Oleg hatte den Eindruck, da? die roten punktformigen Augen der Tiere ihn vorwurfsvoll anschauten: Ist das vielleicht fair, im Trupp anzugreifen?
Der Schakal, der sich die ganze Zeit bemuht hatte, das Messer mit den Zahnen zu packen, fiel wie niedergemaht auf die Seite; aus seinem langen Hals ragte ein Pfeil.
Thomas hatte bereits geschossen, wahrend Oleg noch die Szene auf der Lichtung betrachtete. Er hatte jene Sekunde genutzt, die Oleg brauchte, um sich ein Bild von der Situation zu machen. Dick aber, als hatte er blo? darauf gewartet, drehte sich jah zu den anderen Schakalen um und sturzte mit dem Speer auf sie los. Schon waren auch Sergejew und Tante Luisa mit Axt und Holzscheit bei ihm.
Noch ehe die Tiere begriffen, da? sie fluchten mu?ten, lagen zwei von ihnen tot am Boden. Die anderen liefen geduckt, die schuppigen flachen Schwanzspitzen gegen das kahle Genick gepre?t, ins Dickicht. Niemand folgte ihnen.
Oleg ging auf Marjana zu: „Alles in Ordnung?“
Das Madchen weinte. Pre?te den Sack mit den zappelnden Pilzen an die Brust und weinte bitterlich. „Nun sprich endlich!“
„Die Kollerdistel hat mich zerstochen“, schluchzte Marjana, „ich werd ganz pockennarbig aussehn.“
„Schade, da? ihr so schnell gekommen seid“, sagte Dick und wischte sich das Blut von der Wange, „gerade fing ich an, Geschmack an der Sache zu finden.“
„Red keinen Unsinn“, wies ihn Tante Luisa zurecht.
„Der dritte oder vierte hatte dir den Garaus gemacht“, sagte Sergejew.
Auf dem Weg zur Siedlung bekam Dick Schuttelfrost, Schakalzahne hatten noch keinem gut getan. Alle begaben sich sofort zum Haus von Waitkus. Waitkus selbst lag krank im Bett, seine Frau Egli aber holte aus der Apotheke — einem Schrank in der Ecke — Verbandzeug und einen Aufgu? gegen Schakalgift. Dann wusch sie Dicks Wunde aus und hie? ihn schlafengehn. Marjana wollte Dick begleiten, doch er lehnte ab. Er ha?te seine eigene Schwache. In ein, zwei Stunden wurde sich das Fieber geben; er wollte nicht, da? andere ihn sahen, solange es ihm schlecht ging.
Egli stellte eine Schussel mit Zucker auf den Tisch, der aus den Wurzeln des im Sumpf wachsenden Riedgrases gewonnen wurde. Nur sie und Marjana wu?ten, woran man das su?e Riedgras vom gewohnlichen unterschied. Au?er vielleicht den Kindern, die mit einem sechsten Sinn errieten, welches Gras gut schmeckte und welches nicht beruhrt werden durfte. Egli go? kochendes Wasser in die Tassen, und jeder nahm sich mit einem Loffel von dem grauen Zuckerbrei. Bei den Waitkus’ ging es ungezwungen zu, deshalb kamen alle gern zu ihnen.
„Es steht doch nicht schlimm um Dick?“ erkundigte sich Thomas bei Egli, obwohl er schon dreimal gefragt hatte.
„Der ist wie eine Katze, bei ihm verheilt’s sofort.“
Sergejew wechselte unvermittelt das Thema: „Du zogerst noch?“
„Nein, ich zogre nicht“, erwiderte Thomas, „wir haben ja gar keinen anderen Ausweg. Oder willst du weitere drei Jahre warten? Das uberstehn wir nicht, wir verhungern.“
„Wir wurden’s schon uberstehen“, lie? sich Waitkus vom Bett aus vernehmen. Kopf— und Barthaare verdeckten fast vollstandig sein Gesicht. Nur die rote Nase und die hellen Augen waren zu sehen. Man hatte nicht sagen konnen, wo die dunne Stimme herkam. „Wir wurden’s schon uberstehen, nur verwildern wir dann endgultig.“
„Das kommt aufs selbe raus“, sagte Thomas. „Wenn ich diesen Daniel Defoe zwischen die Finger kriegte — seine Erfindungen sind jammerlich gegen das hier.“
Waitkus lachte. Es klang, als hustete er.
Oleg horte solche Gesprache nicht zum ersten Mal. Sie jetzt zu fuhren, war reine Zeitverschwendung. Er wollte in den Schuppen gehen, in dem der Alte mit den Schulern die toten Schakale hautete, wollte mit ihm reden. Einfach reden. Doch dann fiel sein Blick auf die Schussel mit dem Zucker, und er beschlo? noch ein bi?chen davon zu nehmen. Er und die Mutter hatten ihre Ration schon in der vorigen Woche aufgebraucht. Er schopfte den Loffel nur zur Halfte voll, schlie?lich war er nicht hergekommen, um sich sattzuessen.
„Trink, Marjaschka“, sagte Egli, „du bist gewi? mude.“
„Danke“, sagte Marjana, „ich geh nur die Pilze einweichen, sonst schlafen sie ein.“
Oleg musterte Marjana, als sahe er sie zum ersten Mal, er verga? sogar den Loffel an den Mund zufuhren. Die Lippen des Madchens waren wie gemalt, klar konturiert, an den Randern eine Spur dunkler. Erstaunliche Lippen, niemand im ganzen Dorf hatte solche. Obwohl eine leichte Ahnlichkeit mit Sergejew nicht zu verkennen war.
Wahrscheinlich sah sie auch ihrer Mutter ahnlich, doch an die erinnerte sich Oleg nicht. Wer wei?, vielleicht glich sie dem Gro?vater? Die Genetik war schon eine erstaunliche Sache. Der Alte in seinem Treibhaus — eine Grube hinter dem Schuppen, sie war Marjanas Reich — fuhrte mit seinen Schulern die Mendelschen Erbsenversuche durch.
Nur da? er keine Erbsen dazu nahm, sondern hiesige Linsen. Es gab da, von einigen Abweichungen abgesehen, ziemliche Ubereinstimmung. Naturlich mit anderer Zusammensetzung der Chromosomen.
Marjana hatte ein dreieckiges Gesicht, Stirn und Wangenknochen waren breit, das Kinn dagegen spitz, so da? die Augen viel Platz im Gesicht hatten und auch allen Raum einnahmen. An ihrem langen Hals befand sich von Kindheit an seitlich eine rosa Narbe. An die Narbe hatte sie sich gewohnt, wegen der Kollerdisteln jedoch gramte sie sich. War es nicht vollig egal, ob ein Mensch Punkte im Gesicht hatte oder nicht? Alle hatten solche Punkte. Statt einer Kette aber, wie sie alle Frauen und Madchen im Dorf trugen, hatte Marjana eine Schnur um den Hals, an der ein Holzflaschchen mit dem Gegengift hing. Die Manner trugen diese Arznei in der Tasche.
„Stell dir blo? mal vor, der Marsch endet tragisch“, sagte Sergejew.
„Da ich daran teilnehme, mochte ich mir das nicht vorstellen“, erwiderte Thomas.
Waitkus lachte erneut, irgendwo in der Mitte seines Bartes blubberte es.
„Die Jungs — Dick und Oleg — sind die Hoffnung unseres Dorfes, unsere Zukunft“, gab Sergejew erneut zu bedenken. „Und du bist einer der vier letzten Manner hier.“
„Mich konnt ihr dazurechnen“, sagte Tante Luisa mit Ba?stimme und blies kraftig in die Tasse, um das kochend hei?e Wasser abzukuhlen.
„Mich kannst du nicht schwankend machen“, sagte Thomas an Sergejew gewandt. „Aber wenn du gro?e Angst hast, lassen wir Marjana eben hier.“
„Naturlich hab ich Angst um meine Tochter, doch jetzt geht’s um grundsatzlichere Dinge.“ „Ich geh die Pilze einweichen“, Marjana erhob sich leichtfu?ig.
„Nur Haut und Knochen“, sagte Tante Luisa, die ihr nachschaute.
Als Marjana an ihrem Vater voruberging, beruhrte sie mit den Fingerspitzen sacht seine Schulter. Er hob seine Hand mit den drei Fingern, um sie auf Marjanas Hand zu legen, doch sie zog sie schnell weg und ging zur Tur. Sie offnete die Tur, so da? das gleichma?ige Rauschen des Regens in den Raum drang und schlug sie laut hinter sich zu. Oleg wollte hinter dem Madchen hersturzen, hielt sich jedoch zuruck: Es hatte merkwurdig ausgesehen.
Aus dem Nebenzimmer kam auf unsicheren Beinen der jungere von Waitkus’ Sohnen, er war etwa anderthalb Jahre alt. Der altere war in jenem bewu?ten Fruhjahr geboren, der hier dagegen erst kurzlich, als der Schnee fiel, das hei?t vor anderthalb Jahren. Alles in allem hatten die Waitkus’ sechs Kinder, so etwas wie ein Weltrekord.
„Zucker!“ verlangte das Kind launisch.