Freilich kamen ihr die Bedenken erst, nachdem sie sich sattgegessen hatten und nur noch Buchsen mit unbekanntem Inhalt offneten.

Solche, die sie bereits gekostet hatten, ruhrten sie nicht mehr an.

Danach wurden sie schlafrig — es zog ihnen die Augen zu, als druckte alle Mudigkeit der letzten Tage auf ihre Schultern. Dennoch gelang es Oleg nicht, die Kameraden zum Ubernachten im Schiff zu uberreden. Die beiden gingen, und kaum da? ihre Schritte im Korridor verhallt waren, bekam Oleg erneut Angst. Er mu?te alle Kraft aufbieten, um ihnen nicht hinterherzueilen. Vielleicht ware er ihnen gefolgt, ware er nicht so grenzenlos erschopft gewesen. Er streckte sich, die leeren Konservendosen wegschiebend, auf dem Fu?boden aus, und schlief mehrere Stunden durch, es war, als ob die Zeit hier, auf dem Schiff, stillstand, nicht fa?bar sei. Oleg schlief traumlos, ohne beangstigende Gedanken, schlief tief und ruhig, viel ruhiger als Marjana oder Dick, der trotz seiner Mudigkeit im Laufe des Abends und der Nacht mehrmals aufwachte und lauschte, ob nicht von irgendwoher Gefahr drohe. Hellhorig schreckte dann auch Marjana hoch, die ihren Kopf auf seine Brust gelegt hatte. Sie hatten sich mit samtlichen Decken und der Zeltplane zugedeckt und froren nicht, weil am Abend dichter Schnee gefallen war und einen schutzenden Wall um sie herum bildete. Dick horte im Schlaf das Rascheln der Schneeflocken, horte den Wind gegen die Bordwand des Schiffes uber ihnen schlagen und stellte mit Genugtuung fest, da? es schneite. Auf diese Weise wurden ihnen die Tiere, die es hier moglicherweise gab, nicht nachspuren.

Oleg erwachte fruher als seine Kameraden, denn im Gegensatz zu ihnen fror er. Er hupfte lange umher, um sich aufzuwarmen, dann a? er. Es war schon ein seltsames Gefuhl, sich nicht immer fragen zu mussen, ob die Nahrung auch ausreiche — ein Gefuhl, das er lange nicht mehr empfunden hatte. Ihm tat sogar ein bi?chen der Bauch weh; nach seiner Meinung noch zu wenig bei dem vielen Essen. Es war ihm fast peinlich, die Uberreste des uppigen Mahls zu betrachten, deshalb schob er die leeren und halbleeren Buchsen in eine Ecke des Raumes. Ich mu?te meinen Erkundungsgang fortsetzen, dachte er, ob ich die anderen rufe? Lieber nicht, wahrscheinlich schlafen sie noch — Oleg kam es vor, als hatte er selbst nur wenige Minuten geschlummert.

Er beschlo?, sich ein bi?chen umzuschaun und dann die Kameraden zu wecken. Auf dem Schiff gab es schon lange kein Leben mehr, er brauchte also keine Angst zu haben. Au?erdem mu?ten sie bald wieder zuruck — in zwei, drei Tagen wurde der Pa? im Schnee versinken. Wir aber, so schalt er sich, vertrodeln die Zeit mit Schlafen.

Unglaublich!

Als echter Waldbewohner verfugte Oleg uber einen ausgezeichneten Orientierungssinn, sogar hier auf dem Schiff. Er befurchtete nicht, sich zu verirren, und stieg deshalb gelassen die Schragrampe hinauf, die nach oben zu den Wohnkabinen fuhrte. Er wollte die Nummer vierundvierzig aufsuchen — seine Kajute.

Den Wohnraum mit dem runden Schildchen 44 fand er erst nach einer Stunde. Und das nicht etwa, weil er schwierig zu entdecken gewesen ware. Er hatte sich unterwegs einfach ablenken lassen, war zunachst ins Mannschaftslogis geraten, wo er einen langen Tisch erblickte, auf dem ihm besonders die kristallenen Salz— und Pfefferstreuer gefielen. Er steckte sogar je einen davon in seinen Sack, hoffte seiner Mutter eine Freude zu bereiten. Dann betrachtete er ausgiebig ein paar Schachfiguren. Der Kasten war bei dem Aufprall offenbar zu Boden gefallen und aufgegangen — die Figuren lagen auf dem Teppich verstreut. Er hatte noch nie etwas von einem solchen Spiel gehort und nahm an, es handle sich bei den Figuren um kleine Skulpturen ihm unbekannter Erdentiere. Erstaunlich war auch der Teppich selbst. Da er keine Nahte besa?, mu?te er aus einer Tierhaut gefertigt sein. Doch welches Tier auf der Erde war so riesig und besa? so seltsame Muster? Gewi? handelte es sich um einen Meeresbewohner. Egli hatte erzahlt, da? die gro?ten Tiere Wale hie?en und im Meer lebten. Nur hatte Oleg fruher immer vermutet, sie besa?en eine glatte Haut. Der Junge sah dann noch viele wundersame, unbegreifliche Dinge und war, als er nach einer Stunde schlie?lich bei der Kajute mit der Nummer vierundvierzig anlangte, voller Eindrucke. Freilich machte ihn diese Fulle von Eindrucken auch unzufrieden, denn er war unfahig, sich in all dem zurechtzufinden. Und betrubt, weil Thomas es nicht bis zum Schiff geschafft hatte, ihm nicht erklaren konnte, wozu dieses und jenes gut war. Ja, so ungerecht es war, er empfand Groll gegen Thomas.

Vor der Tur mit der Nummer vierundvierzig blieb Oleg lange stehen. Er konnte sich nicht entschlie?en, sie zu offnen, obwohl er wu?te, da? ihn dort nichts Besonderes erwartete. Er kannte auch den Grund fur dieses Zogern.

Obwohl die Mutter und alle anderen wiederholt versichert hatten, sein Vater sei bei der Katastrophe ums Leben gekommen — im Raum mit den Triebwerken, wo bei dem Aufprall der Reaktor auseinandergebrochen war —, schien ihm insgeheim, er konnte hier in der Kajute sein. Vielleicht war er wieder zu sich gekommen, nachdem alle, in der Annahme, er sei tot, das Weite suchten, hatte sich hierhergeschleppt und war dann erfroren. Sogar an den Tod des Vaters hatte Oleg nie richtig geglaubt, in seiner Vorstellung lebte er und wartete hier unglucklich auf die Ruckkehr der anderen. Moglicherweise lag es daran, da? auch die Mutter in ihrem tiefsten Innern uberzeugt war, da? ihr Mann lebte. Das war ihr Fieberwahn, ihre Krankheit, die sie sorgsam vor den anderen, selbst vor dem Sohn, verbarg, nur da? der Sohn sie genau durchschaute.

Schlie?lich gab sich Oleg einen Ruck und offnete die Tur. In der Kajute herrschte Dunkel, denn ihre Wande waren mit ganz gewohnlicher Farbe gestrichen. Er hielt einen Augenblick inne und zundete die Fackel an; seine Augen brauchten einige Zeit, sich an das Halbdammer zu gewohnen. Die Kajute bestand aus zwei Raumen. Im ersten befanden sich ein Tisch und eine Liege, auf der sein Vater geschlafen hatte, im zweiten, sich daran anschlie?enden, hatte die Mutter mit ihm, dem Kleinkind, gewohnt.

Die Kajute war leer, der Vater also doch nicht hierher zuruckgekehrt. Die Mutter hatte sich geirrt.

Freilich wartete eine andere Uberraschung auf ihn, eine andere Erschutterung. Es war der Ausdruck jenes Zeitenzipfels, jener Pause, in der das Schiff verharrte, seit es von den Menschen verlassen worden war, und die zu dem Tag heruberreichte, da Oleg nun zu ihm zuruckkehrte.

In dem kleinen Raum stand ein Kinderbettchen. Oleg begriff sofort, da? diese Vorrichtung mit den seitlich herabbaumelnden Gurten — weich und scheinbar in der Luft schwebend — fur einen Saugling bestimmt war. Und alles wirkte so, als hatte man das Kind eben erst, vor einer Minute, in aller Hast hinausgetragen, sogar ein winziges rosa Strumpfchen und eine Klapper, ein buntes Rasselspielzeug waren zuruckgeblieben. Oleg, der noch nicht begriffen hatte, da? er in diesem geschutzten Gebiet stillstehender Zeit mit sich selbst konfrontiert wurde, hob die Klapper auf und schuttelte sie. Und erst in dem Augenblick, beim Gerausch der Klapper erkannte er, so seltsam das sein mochte, die Realitat des Schiffes an, die Realitat dieser Welt, die ihn auf einmal viel tiefer und wirklicher dunkte als die Existenz der Siedlung und des Waldes. Im gewohnlichen Leben war es nicht moglich, sich selbst zu begegnen. Die Gegenstande verschwanden, und blieb doch einmal etwas ubrig, dann als Erinnerung.

Hier aber, am Bettrand befestigt, hing noch das Flaschchen mit einem Rest Milch; die Milch war zwar gefroren, doch man konnte sie aufwarmen und austrinken.

Als er sich aber so dem eigenen Ich gegenubersah, als er diese Begegnung nun endgultig begriffen und verarbeitet hatte, machte er sich auf die Suche nach den Spuren jener beiden anderen Menschen, die jenseits der angehaltenen Zeit zuruckgeblieben waren — auf die Suche nach Vater und Mutter.

Die Mutter zu finden war leichter. Sie war von hier fortgerannt, ihn, Oleg, auf dem Arm, und so lag auf ihrem Bett im Hintergrund der Kajute — ein geknulltes Haufchen — ihr in aller Hast abgestreifter Morgenrock. Ein Hausschuh schaute unter dem Bett hervor; das Buch, in ein Blatt Papier geschlagen, lag auf dem Kissen. Oleg hob das Buch auf, vorsichtig, weil er furchtete, es konnte zerfallen wie jene Pflanze im Korridor. Doch das Buch hatte den Frost bestens uberstanden. Es trug den Titel „Anna Karenina“ und war von einem Mann namens Tolstoi geschrieben. Es war ein dickes Buch, und auf dem Lesezeichen darin waren ein paar Formeln hingekritzelt “

die Mutter war Chemikerin. Oleg hatte noch nie die Handschrift seiner Mutter gesehen — im Dorf gab es kein Papier zum Schreiben. Er hatte auch noch nie ein Buch zu Gesicht bekommen, denn niemandem war es in jenem Moment eingefallen, so etwas mitzunehmen. Oleg hatte den Namen des Schriftstellers im Unterricht gehort, bei Tante Luisa, er hatte aber nie gedacht, da? jemand so ein dickes Buch schreiben konnte. Er nahm es mit dem festen Entschlu? an sich: Und wurde der Ruckweg noch so schwer werden — das Buch mu?te mit. Ebenso wie das Blatt Papier mit den Formeln. Nach einigem Uberlegen packte er auch die Hausschuhe der Mutter in den Sack. Sie kamen ihm zwar reichlich eng vor fur die alten kaputten Fu?e der Mutter, doch sie sollte sie wiederhaben.

Die Spuren des Vaters dagegen, so dinglich augenscheinlich sie waren, ubten auf Oleg erstaunlicherweise weniger Wirkung aus als die Begegnung mit sich selbst. Es mu?te daran liegen, da? der Vater zum Zeitpunkt der Katastrophe nicht bei ihnen gewesen war. Kurz vorher zum Wachdienst aufgebrochen, hatte er als akkurater Mensch, der keine Unordnung duldete, grundlich aufgeraumt. Seine Bucher standen hinter Glas aufgereiht im Regal, die Sachen hingen in einem Wandschrank … Oleg holte die Uniform des Vaters heraus — er hatte sie auf

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