dem Schiff offenbar nie getragen, denn sie wirkte, aus blauem, kraftigem Stoff gefertigt, noch fast neu. Auf der Brust befanden sich oberhalb der Jackentasche zwei Sternchen, und die Hose war mit schmalen Goldlitzen versehen. Oleg hielt sich die Uniform an, sie war ihm etwas zu gro?. Er zog die Jacke uber seine, und sie pa?te ihm fast, nur die Armel mu?te er ein Stuck umschlagen; ebenso ging es ihm mit den Hosenbeinen. Er fuhlte sich bequem in der Uniform und glaubte sich auch im Recht: Ware der Vater bei ihnen im Dorf, hatte er ihm gewi? erlaubt, sie hin und wieder anzuziehn.

Jetzt hatte Oleg endgultig Besitz vom Schiff ergriffen.

Er war uberzeugt, da? er, wieder in den Wald zuruckgekehrt, immer Sehnsucht nach ihm haben wurde.

Es wurde ihn zum Schiff ziehn wie den Alten, wie Thomas, und er sah auch nichts Verwerfliches darin. Es bedeutete den Sieg des Alten, der nicht wollte, da? die Jungen im Dorf Teil des Waldes wurden. Nun verstand Oleg in aller Deutlichkeit, wie und warum der Alte so dachte, seine Worte bekamen einen Sinn, den man nur hier erfassen konnte.

Dann kam Oleg auf die Idee, die Tischplatte hochzuklappen, auf deren Innenseite sich ein Spiegel befand. Der Junge hatte sein Gesicht bisher nur in dem kleinen Teich gesehen und in einem kleinen Spiegelscherben, den Kristina wie ein Heiligtum hutete. In einen richtig gro?en Spiegel dagegen hatte er noch nie geschaut. Wie er sich jetzt aber darin betrachtete, wurde ihm plotzlich die Zweiteilung seiner Person bewu?t, eine Zweiteilung, die nichts Widernaturliches besa?: Dort, hinter der geoffneten Tur, war er eben noch der einjahrige Oleg gewesen, der nicht einmal seine Milch ausgetrunken hatte, hier aber stand er in der Uniform des Vaters vor dem Spiegel, auch wenn er dem Vater kaum ahnelte, denn seine Haut war vom Frost verfarbt, das Gesicht dunkelverwittert und von fruhen Falten durchzogen, hervorgerufen durch standigen Hunger und rauhes Klima. Dennoch war er herangewachsen und hierher zuruckgekehrt, er hatte die Uniform des Vaters angelegt und war zum Besatzungsmitglied des Raumschiffs „Pol“ geworden.

Im Schreibtisch fand er das Notizbuch des Vaters, es war zur Halfte unbeschrieben — mindestens hundert wei?e leere Blatter, ein regelrechter Schatz fur den Alten! Er wurde den Kindern im Unterricht bestimmte Dinge darauf aufmalen konnen, so da? sie begriffen und eine Vorstellung von ihnen bekamen, denn sie sollten, wenn sie gro? waren, unbedingt zum Schiff zuruckkehren. Oleg fand auch ein paar farbige Stereobilder von verschiedenen Erdenstadten, die er gleichfalls einpackte. Dann gab es da noch Dinge, die Oleg unverstandlich waren und die er vorerst nicht anruhrte — der Ruckweg zur Siedlung ware ohnehin schwierig genug. Einen der Gegenstande nahm er aber doch mit, denn ihm wurde sofort klar, worum es sich handelte, und er begriff, da? Sergejew und Waitkus glucklich daruber sein wurden. Waitkus hatte ihm diesen Gegenstand des ofteren auf feuchten Lehm gemalt und dabei stets ausgerufen: „Ich werde mir nie verzeihen, da? keiner von uns daran gedacht hat, den Blaster mitzunehmen!“ Worauf der Alte jedesmal erwiderte: „Du machst dir ganz umsonst Vorwurfe. Um den Blaster zu holen, hatte man zur Kommandobrucke zuruck gemu?t, dort aber herrschte bereits eine todliche Strahlung.“ Wie sich nun herausstellte, befand sich die Waffe beim Vater im Schreibtisch.

Der Griff des Blasters lag fest in Olegs Hand. Um zu uberprufen, ob die Waffe geladen war, richtete er sie auf die Wand und druckte ab — ein Blitz scho? heraus und versengte sie. Oleg blinzelte geblendet, noch eine Minute danach tanzten Funken vor seinen Augen. Dann trat er mit dem Blaster in der Hand auf den Korridor hinaus und war jetzt mehr als nur Herr des Schiffes. Er hatte die Moglichkeit erhalten, kunftig nicht mehr blo? als Bittsteller mit dem Wald zu reden: Bitte ruhr uns nicht an, bitte tu uns nichts … Im Korridor blieb Oleg zogernd stehen. Er hatte gern noch einen Blick in die Steuerzentrale oder in die Funkkabine geworfen, doch es war wohl sinnvoller, zum Vorratslager zuruckzukehren, weil Dick und Marjana, sollten sie bereits dort sein, sich gewi? Sorgen machten.

Oleg strebte eilig dem Lager zu, traf aber niemanden an.

Da werde ich die beiden wohl wecken mussen, sagte er sich. Auch wollte er, selbst wenn er es, sich nicht eingestand, gern in der Uniform eines Raumfliegers vor ihnen aufkreuzen, wollte ihnen zurufen: „Ihr schlaft und schlaft, dabei wird es Zeit fur uns, zu den Sternen aufzubrechen …“

Oleg loschte die Fackel auch im erhellten Korridor nicht. Diesmal durchquerte er den Hangar auf schnellstem Weg, und die Strecke kam ihm nun viel kurzer vor als gestern, denn er hatte sich bereits an das Schiff gewohnt.

Tageslicht schlug ihm entgegen — die Au?enluke war geoffnet. Sie hatten sie zu schlie?en vergessen. Freilich war das bedeutungslos: In diesen Schneehohen gab es schwerlich Tiere, was hatten sie hier zu suchen?

Oleg blinzelte etwa eine Minute ins Licht, bis sich seine Augen an die Sonne gewohnt hatten. Sie stand hoch am Himmel, die Nacht war langst voruber. Oleg offnete die Augen wieder und war furchtbar erschrocken: Keinerlei Zeichen von Dick und Marjana! Der Schnee, uber Nacht gefallen, hatte samtliche Spuren vom Vortag verweht und war vollig unberuhrt.

„Heeh!!“ rief er leise. Die Stille ringsum war so grenzenlos, da? man sich scheute, sie zu storen. Gleich darauf bemerkte Oleg, da? etwa zwanzig Meter vom Schiff entfernt etwas Wei?es in Bewegung geriet. Auf einem kleinen, flachen Schneehugel entdeckte er ein Tier, das im Schnee kaum auszumachen war, ein Tier, wie er es noch nie gesehen hatte. Es besa? Ahnlichkeit mit einer Eidechse, war aber von einem flauschigen Fell bedeckt und etwa vier Meter lang. Vorsichtig, um seine Beute nicht aufzuschrecken, machte es sich an dem Hugel zu schaffen.

Oleg starrte wie gebannt auf das Tier, harrte der Dinge, die da kommen sollten; den wei?en Hugel brachte er nicht im entferntesten mit Dicks und Marjanas Nachtquartier in Verbindung. Selbst als die Pfoten des Tieres den Schnee beiseite geschaufelt hatten und der dunkle Fleck der Zeltplane sichtbar wurde, stand er noch immer reglos da.

In diesem Moment jedoch erwachte Dick. Er hatte sogar im Schlaf das Tier uber sich gehort, seiner Nase war der fremde, gefahrliche Geruch des Lebewesens nicht entgangen. Er griff nach dem Messer und wollte unter der Zeltplane hervorschnellen, verhedderte sich aber in den Decken. Oleg sah nur, da? der Schneehugel mit einemmal zum Leben erwachte, da? eine Schneesaule hochstiebte, unter der, ins Freie drangend, ein Fellhaufen sichtbar wurde. Das Tier war deshalb kein bi?chen erschrocken, es schnappte vielmehr, nun endgultig uberzeugt, sich nicht geirrt zu haben, nach der Beute, zerrte mit den Krallen an dem Fellbundel. Es war bestrebt, das Opfer zu Boden zu drucken und zu wurgen, wobei es in seiner Vorfreude laut brullte.

Oleg der Waldbewohner tastete mit der Hand nach dem Messer am Gurtel und berechnete den Sprung, wahrend seine Augen schon nach der verwundbarsten Stelle des Tieres Ausschau hielten, in die er das Messer wurde sto?en mussen; Oleg der Schiffsbewohner aber und Sohn des Bordmechanikers griff statt des Messers den Blaster, scho? jedoch nicht von hier, aus der Hohe, sondern sprang in den Schnee und sturzte, die Waffe fest in der Hand, auf das Tier zu. Der Angreifer hob bei seinem Anblick den Kopf und stie? abermals ein wildes Gebrull aus. Er wollte Oleg in die Flucht treiben, hielt ihn offenbar fur einen Konkurrenten. Doch Oleg blieb stehen und jagte dem Tier — nunmehr sicher, nicht versehentlich Dick zu treffen — eine volle Ladung in den weit geoffneten Schlund.

Wahrend Dick und Marjana, nachdem sie gegessen und einen Rundgang durchs Schiff unternommen hatten, alles zum Ausgang schleppten, was sie mitzunehmen gedachten, begab sich Oleg in die obersten Raume, zur Navigationszentrale. Er forderte Dick auf mitzukommen, doch der weigerte sich — ihm genugte die Beute. Auch Marjana kam nicht. Oleg hatte ihr vorher die Krankenabteilung gezeigt, und sie suchte nun jene Instrumente und Medikamente zusammen, die Egli ihr beschrieben hatte. Das alles mu?te in ziemlicher Hast geschehen, weil erneut Schneefall eingesetzt hatte und es merklich kalter geworden war. Noch ein Tag, und sie wurden aus den Bergen nicht mehr herauskommen — der Schnee wurde viele Tage lang niedergehn und der Frost funfzig Grad erreichen.

Da stand Oleg also in der Steuerzentrale, verharrte mehrere Minuten, feierlich umringt von all den Apparaturen im Kopf des Schiffes, dessen Erschaffung eine unvorstellbare Leistung von Millionen Hirnen und tausend Jahren menschlicher Zivilisation verkorperte.

Doch Oleg spurte weder Erschrecken noch Hoffnungslosigkeit. Er wu?te, da? die Siedlung von nun an zumindest fur ihn, Oleg, nicht mehr Zentrum des Alls sein wurde, sondern ein vorubergehender Zufluchtsort fur jene Jahre, in denen das Schiff noch nicht ihr wahres Zuhause war. In denen sie es noch nicht so beherrschten, da? sie mit seiner Hilfe eine Moglichkeit fanden, der Erde Kenntnis von sich zu geben. Zu diesem Zweck aber mu?ten sie die Alten hatten das immer und immer wieder besprochen — den Notrufsender funktionstuchtig machen. Selbst wenn das erst in vielen Jahren moglich wurde, denn sie mu?ten ja alles neu lernen. Deshalb lenkte

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