hatte sich in ein Hochplateau verwandelt. Erst da erblickten sie die Zacken des Gebirgskammes vor sich, eine ganze Gletscherkette, glitzernd unter der Sonne. Eine Stunde spater offnete sich plotzlich ein Tal zu ihren Fu?en, in dessen Mitte eine runde Scheibe aus dunklem Metall zu sehen war. Sogar von hier, aus einem Kilometer Hohe, wirkte sie gigantisch. Sie lag schrag in den Schnee gedruckt, genau im Zentrum des Talkessels. Der Kommandant hatte das Schiff gerade noch bis hierher manovrieren konnen, als nach einer Explosion im Triebwerk die Instrumente versagten. Er landete mit seinem Schiff in diesem Talkessel bei Schneesturm, Nacht und Nebel zu einer Zeit, da bitterer Winter herrschte.

Sie standen nebeneinander. Drei zerlumpte, entkraftete Wilde, die Armbrust auf der Schulter, den Sack aus Tierhauten auf dem Rucken, drei abgerissene, von Frost und Schnee versengte, vor Hunger und Erschopfung schwarz gewordene Menschen, drei mikroskopisch kleine Gestalten in dieser fremden, riesigen, leeren und stummen Welt, und starrten auf das tote Schiff, das vor sechzehn Jahren auf den Planeten gesturzt war, ohne jemals wieder aufsteigen zu konnen.

Dann begannen sie den Abstieg uber den Steilhang, sich an Steinen festklammernd, bemuht, auf dem unsicheren Geroll nicht ins Laufen zu kommen. Und doch, und obwohl ihnen die Beine fast den Dienst versagten, rannten sie immer schneller.

Nach einer weiteren Stunde waren sie auf der Talsohle angelangt.

Vor sechzehn Jahren war Oleg reichlich ein Jahr gewesen, Dick knapp zwei, Marjana aber noch gar nicht auf der Welt. Und so wu?ten sie naturlich nichts mehr von der Landung des Forschungsschiffes „Pol“ hier in den Bergen.

Ihre ersten Erinnerungen waren mit der Siedlung verbunden, mit dem Wald; das Verhalten der flinken roten Pilze und der Rauberlianen lernten sie eher kennen als die Uberlieferungen der Alten von den Sternen und der anderen Welt. Der Wald war ihnen viel verstandlicher als die Erzahlungen uber Raketen oder Hauser, in denen an die tausend Menschen wohnten. Die Gesetze des Waldes, die Gesetze der Siedlung, geboren aus der Notwendigkeit, ein Hauflein von Menschen am Leben zu erhalten, die an eine solche Existenz nicht gewohnt waren, die simplen Gesetze des Uberlebens, taten das Ihrige, die Erinnerung an die Erde aus den Hirnen zu verdrangen. Statt dessen erwuchs die abstrakte Hoffnung in ihnen, da? man sie irgendwann finden und alles ein Ende haben wurde. Doch wie lange wurden sie dulden und ausharren mussen? Zehn Jahre? Die waren bereits vergangen. Hundert Jahre? Das wurde bedeuten, nicht sie, sondern erst ihre Urenkel konnten gerettet werden. Vorausgesetzt, sie hatten uberhaupt Urenkel, und es gelange ihnen und der ganzen Siedlung, diesen Zeitraum durchzustehn. Die Hoffnung der Alten existierte fur die nachfolgende Generation im Grunde schon nicht mehr, war eher storend fur das Leben im Wald.

Dennoch konnten die Alten nicht anders, als diese Hoffnung an die Jungen weiterzugeben, weil selbst der Tod fur die Menschen an Schrecken verlor, wenn sie um die Fortfuhrung ihres Geschlechts wu?ten. Der Tod wird erst dann zu etwas Endgultigem, wenn nicht nur du selbst mit ihm verschwindest, sondern auch all das, was dich mit dem Leben verbindet.

Deshalb waren der Lehrer und die Alten bestrebt, jeder so gut er konnte, den Kindern ein Zugehorigkeitsgefuhl zur Erde zu vermitteln, den Gedanken, da? ihre Abgeschiedenheit fruher oder spater ein Ende finden wurde. Auf dieser Verbindungssprosse zur Welt aber stellte das Schiff hinter dem Pa? etwas Reales dar. Es existierte, war erreichbar, und wenn nicht in diesem tausend Tage wahrenden endlosen kalten Winter, so doch im nachsten, wenn die Kinder herangewachsen waren und den Pa? auf eigenen Beinen bewaltigen konnten.

Vorausgesetzt, sie wollten es noch, denn innerlich hatten sie sich bereits von der Erde gelost, das Schiff war etwas Fremdes fur sie, der Wald dagegen ihr Zuhause. Das gab ihnen einerseits die Chance zu uberleben, die den Alten genommen war, andererseits drohte der Siedlung, dieser kleinen Menschenkolonie, hierdurch letztendlich der Tod.

Dick, Oleg und Marjana stiegen in den Talkessel hinab, zum Schiff, und obwohl es vor ihren Augen wuchs, riesig und fa?bar vor ihnen lag, blieb es doch nur Legende, eine Gralsschale. Keiner von ihnen hatte sich gewundert, wenn es bei der ersten Beruhrung in Staub und Asche zerfallen ware. Sie waren zum Haus ihrer Vater zuruckgekehrt, das sie erschreckte, weil es sich in diesem kalten Tal befand.

Vorher hatte es ja nur in ihren Traumen und in den Legenden existiert, die ihnen bei mattem Lampenschein erzahlt wurden, wenn drau?en, hinter dem schmalen, durch einen Vorhang aus Fischhaut geschutzten Fensterschlitz der Hutte der Schneesturm heulte.

Die Existenz des Schiffes lie? die Traume und Legenden wieder auferstehn, verlieh ihnen einen neuen Sinn und verband die abstrakten, ungenauen Bilder, die ihnen die Vorstellung eingegeben hatte, mit der Realitat des Giganten da vorn. Diesen Widerspruch hatten die Alten nie begriffen, denn hinter der Schilderung der Katastrophe, der plotzlich einbrechenden Kalte und Finsternis, hinter dem Bericht uber die leeren Korridore, in denen nach und nach das Licht verlosch, wahrend von drau?en trockene Schneeflocken hereindrangen — hinter all dem verbargen sich ganz konkrete Korridore und Lampen, das Schweigen der Hilfstriebwerke und das Ticken der Strahlungsmesser.

Fur die Zuhorer aber, fur Oleg und seine Altersgefahrten, waren bei diesen Schilderungen lediglich die Schneeflocken fa?lich. Die Korridore dagegen verschmolzen in ihrer Phantasie mit dem Waldesdickicht oder einer dunklen Hohle, denn man kann sich nur das vorstellen, was man selbst gehort und gesehen hat. Deshalb begriffen sie erst jetzt, wie die Leute damals von hier aufgebrochen waren — wie sie die Kinder und Verwundeten geschleppt, in gro?ter Hast all jene Gegenstande gegriffen hatten, die fur die erste Zeit benotigt wurden, denn in diesem Augenblick vermutete niemand, da? sie den Rest ihres Lebens hier zubringen und in dieser kalten Welt sterben wurden: Die gigantischen Ma?stabe und die ungeheure Macht der kosmischen Zivilisation wiegten sie selbst hier in trugerische Sicherheit, sie glaubten, alles Geschehene, und sei es noch so tragisch, bedeute lediglich eine zeitweise Unterbrechung, eine Zufalligkeit, die schon bald behoben sein wurde, wie alle Unregelma?igkeiten behoben wurden.

Oder fast alle.

Und da war auch die Luke. Als sie damals aufbrachen, so erzahlte der Alte immer, hatten sie die Luke geschlossen, die Havarieleiter, auf der sie in den Schnee hinabgestiegen waren, unter einen uberhangenden Felsen getragen. Diese Stelle war auf der Karte eingezeichnet, doch brauchten sie die Leiter nicht erst zu suchen — der Schnee war weggetaut, und sie lag ganz in ihrer Nahe. Die hellblaue Farbe war hier und da abgeblattert, und als Dick die Leiter anhob, blieb ihr Abdruck als blauliche Zeichnung auf dem Schnee zuruck.

Dick klopfte mit dem Fingernagel gegen die Streben.

„Sie ist leicht“, sagte er, „wir mussen sie mitnehmen.“

Er bekam keine Antwort. Marjana und Oleg standen ein Stuck weg und betrachteten, den Kopf weit zuruckgelegt, den gewolbten Schiffsbauch. Das Schiff schien vollig unversehrt zu sein, man hatte meinen konnen, im nachsten Augenblick damit weiterfliegen zu konnen. Und Oleg stellte sich sogar vor, wie es vom Talkessel abhob, immer schneller in den blauen Himmel stieg und zu einem schwarzlichen Kreis, zu einem Punkt im Blau wurde … Seine Mudigkeit war wie weggeblasen. Sein Korper war leicht und gehorchte ihm, und die Ungeduld, so schnell wie moglich einen Blick ins Innere des Giganten zu werfen, vermischte sich mit der Angst, fur immer in der abgeschlossenen Sphare des Raumschiffs zu verschwinden.

Er schaute zur Havarieluke hinuber. Immer wieder hatte der Alte dem Jungen eingescharft: „Diese Luke ist nicht verschlossen, merk es dir, wir haben sie nur rangezogen. Du steigst auf der Leiter zu ihr hinauf und mi?t als erstes die Strahlung. Es durfte keine Strahlung mehr vorhanden sein, immerhin sind sechzehn Jahre vergangen, aber mi? trotzdem. Damals war sie einer der Grunde, weshalb wir so ubersturzt aufbrechen mu?ten. Die Radioaktivitat und der Frost. Vierzig Grad bei nicht funktionierender Heizung, dazu die Strahlung — wir konnten unter keinen Umstanden bleiben. Obwohl der Aufbruch genauso aussichtslos schien — wir wu?ten ja nicht, da? wir an ein Tal gelangen wurden, wo es den Wald und damit mehr Warme gab.“

Dick schlenderte um das Schiff herum, wobei er mit der Lanzenspitze leere Kisten und Buchsen herumdrehte — es gab hier viele Dinge, die die Leute damals aus dem Schiff gebracht hatten und dann zurucklassen mu?ten.

„Na, was ist“, sagte Oleg, „gehn wir rein?“

„Einverstanden“, erwiderte Dick, hob die Leiter auf und lehnte sie an der Luke gegen die Bordwand. Dann stieg er als erster hinauf, steckte Thomas’ Messer in den Spalt, druckte dagegen, doch das Messer brach ab.

„Wir haben fast keine Messer mehr“, brummte Dick.

„Der Alte hat gesagt, die Luke ware offen“, sagte Oleg.

„Ach, der hat doch schon alles vergessen“, knurrte Dick, „alten Leuten kann man nicht trauen.“

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