nur recht und schlecht, um den Jungen bei den Beinen zu packen, doch Oleg schlug heftig aus und schleuderte ihn, der den Schmerz nicht mehr spurte, beiseite.

Der Kranke begriff, da? er Oleg auf diese Weise nicht wurde aufhalten konnen. Der Junge bewegte sich unaufhaltsam zum Abhang hin, denn er war, obwohl gefesselt, um vieles kraftiger als er. Also machte sich Thomas erneut daran, langsam, Stuck fur Stuck, dem Abhang zuzukriechen, um sich zwischen ihn und den Jungen zu schieben, eine Barriere zu bilden, ein Hindernis, einen Prellbock. Er glaubte mehrere Stunden so dahinzurobben und beschwor Oleg, flehte ihn an, durchzuhalten, stillzuliegen. Aber als er endlich den schmalen Streifen zwischen Oleg dem Abhang erreichte, war der Junge bereits so weit an den Rand gerutscht, da? Thomas nichts anderes ubrigblieb, als sich zwischen den Gefesselten und die spitzen Steine am au?ersten Felsgrat zu zwangen.

Gewi? ware es ihm gelungen, Oleg wenigstens um ein paar Meter zuruckzurollen, aus der Gefahrenzone herauszubringen, hatte er nur den letzten Zipfel seines schwindenden Bewu?tseins festhalten konnen. Doch er mu?te einige Sekunden lang verschnaufen, ehe er sich an diese Sisyphusarbeit machte …

***

Marjana kam vollig au?er Atem an, sie glaubte, nur wenige Minuten weggewesen zu sein, in Wirklichkeit aber war es mehr als eine Stunde. Sie lief geradenwegs zum Zelt, deshalb begriff sie nicht gleich, was passiert war. Sie sah nur, da? das Lager leer war, schlug im ersten Moment den Zeltvorhang zuruck weil sie dachte, Thomas und Oleg hatten dort Zuflucht vor dem Schnee gesucht. Dabei lag das Zelt so flach auf der Erde, da? sich niemand darunter verstecken konnte. Marjana blickte sich verstort um und entdeckte eine Spur im Schnee, die zum Felsen hinunterfuhrte. Es sah aus, als hatte jemand eine schwere Last hinter sich hergezogen, und sogleich erstand ein schreckliches Bild vor ihr: Jenes Tier, dem die runden, fa?ahnlichen Fu?abdrucke gehorten, hatte die beiden Manner in seinen Fangen, die Schuld daran aber trug allein sie, weil sie losgerannt war, um die Ziege zu retten, statt sich um die Menschen zu kummern, zwei kranke Menschen in einer Schneewuste. Nie hatte sie das tun durfen, nie. Dabei hatte sich alles ganz dumm und furchtbar entwickelt, sie hatte weder Dick eingeholt noch die Ziege gefunden, war letztlich mutterseelenallein inmitten der Felsen gewesen, hatte Angst gehabt, nicht wieder zum Lager zuruckzufinden, auch um Thomas und Oleg gebangt, weil die ja hilflos waren. Schlie?lich war sie zuruckgelaufen, so schnell sie konnte, und doch zu spat gekommen.

Das Madchen trottete zum Abhang hinunter, schluchzend und in einem fort „Mama, Mama …“

stammelnd.

Eigenartigerweise lag ein Strick im Schnee. War es Oleg etwa gelungen, seine Fesseln abzustreifen?

Sie bog um den grauen Felsblock und sah am Rand des Abhangs Oleg liegen, noch immer zusammengebunden.

Thomas dagegen war nirgends zu entdecken.

„Oleg, Oleshka“, rief Marjana, „lebst du noch?!“ Oleg gab keine Antwort. Er schlief. Nach solch einem Anfall schlief man immer. Er war allein, doch von ihm aus fuhrte die Spur weiter nach unten, zum Abhang hin, und als Marjana einen Blick in die Tiefe warf, sah sie dort, gar nicht weit, in etwa funf Metern Entfernung Thomas liegen, sehr still und irgendwie sogar bequem. Deshalb kam ihr nicht sofort der Gedanke, er konnte tot sein. Sie hastete hinunter, wobei sie sich die Nagel am eisigen Gestein abbrach, schuttelte den am Boden Liegenden immer und immer wieder, wollte ihn aufwecken, bis ihr jah die Erkenntnis kam, da? sich Thomas zu Tode gesturzt hatte.

Oleg aber, inzwischen wieder bei Bewu?tsein, horte den Larm und Marjanas Weinen, und fragte mit schwacher Stimme: „Was ist los, Marjaschka, was hast du?“

Er erinnerte sich nicht im geringsten daran, Thomas hinabgesto?en zu haben. Erst spater wurde ihnen auf Grund der Spuren und Olegs bruchstuckhaften Alptraumvisionen klar, was geschehen und auf welche Weise ihr Freund ums Leben gekommen war.

Nach weiteren zwei Stunden kehrte Dick zuruck. Er hatte die Ziege nicht einholen konnen, ihre Spur verlor sich an einem gro?en Gerollhang. Auf dem Ruckweg war er auf die Fahrte eines unbekannten Tieres gesto?en und hatte sie in der Hoffnung verfolgt, ein Wild zu schie?en. Er wollte mit Beute bei den anderen eintreffen, um sagen zu konnen, er habe die Ziege absichtlich geschont, weil Marjana ihm leid tat. Und er war am Ende selbst uberzeugt, da? sein Mitleid mit dem Madchen den Tatsachen entsprach, denn er ha?te Mi?erfolge.

Als er erfuhr, was wahrend seiner Abwesenheit im Lager vorgefallen war, verhielt er sich nuchterner und gelassener als die anderen. „Red keinen Unsinn“, sagte er zu Oleg, „du hast niemanden umgebracht und auch keinerlei Schuld — du wu?test ja gar nicht, da? du Thomas einen Sto? versetzt hast. Du mu?t ihm dankbar sein, da? er dich vor dem Absturz bewahren wollte. Zwar hatte er in seinem Zustand schwerlich etwas ausrichten konnen, es ist sogar sicher, da? er nichts tun konnte, dennoch wollte er dich retten. Vielleicht ist es jetzt besser, da? es so kam, denn Thomas war sehr krank, hatte jeden Augenblick sterben konnen. Da es ihn trotzdem zu diesem Pa? zog, hatten wir ihn schlie?lich noch tragen mussen. Das aber ware unser Ende gewesen. Keiner von uns hatte den Pa? erreicht, und niemand ware ins Dorf zuruckgekehrt.“

„Du willst Oleg blo? trosten“, antwortete Marjana, vor Schmerz mit dem Oberkorper hin und her schaukelnd “

sie hatte sich die Hande erfroren und blutig geschunden, als sie Thomas wieder zu sich bringen wollte und ihn spater gemeinsam mit Oleg, der vor Schwache wankte, zum Zelt schleppte. „Du willst Oleg beruhigen, in Wirklichkeit sind wir beide schuld, du und ich. Wir haben sie im Stich gelassen. Waren wir nicht hinter der Ziege hergerannt, wurde Thomas noch leben.“ „Du hast ganz recht“, erwiderte Dick, „du hattest nicht hinter mir herlaufen sollen. Das war echte weibliche Dummheit.“

„Und du selbst fuhlst dich kein bi?chen schuldig?“

fragte Marjana.

Thomas lag, bis uber den Kopf zugedeckt, zwischen ihnen und schien bei diesem Gesprach gleichsam anwesend zu sein.

„Ich wei? nicht“, sagte Dick. „Ich hab die Verfolgung der Ziege aufgenommen, weil wir Fleisch brauchten. Wir brauchten es, um ans Ziel zu kommen. Brauchten es alle.

Ich sogar am wenigsten, weil ich der Kraftigste bin.“

„Ich will nicht mehr mit ihm reden“, sagte Marjana, „er ist kalt wie dieser Schnee.“

„Ich versuch doch nur, gerecht zu sein“, entgegnete Dick. „Niemandem ist gedient, wenn wir hier herumstohnen und uns die Haare raufen. Wir verlieren blo? Zeit. Mittag ist schon vorbei.“

„Oleg ist noch zu schwach, um zu laufen“, sagte Marjana.

„Aber nein“, erwiderte Oleg, „es geht schon. Ich mu? Thomas nur die Karte und den Strahlungsmesser abnehmen. Er hat mir eingescharft, da? ich diese Dinge auf keinen Fall vergessen darf, wenn ihm etwas zusto?t.“

„Das ist nicht notig“, entschied Dick.

„Weshalb?“

„Weil wir umkehren“, sagte Dick gelassen. „Ist das dein fester Entschlu??“ fragte Oleg.

„Es ist die einzige Moglichkeit zu uberleben“, erwiderte Dick. „Ubermorgen sind wir im Wald, dort kann ich Wild erlegen. Ich bringe euch zuruck in die Siedlung, ich versprech’s.“

„Nein“, sagte Oleg, „wir gehen weiter.“

„Das ist idiotisch“, sagte Dick, „wir haben nicht die geringste Chance mehr, den Pa? zu uberqueren.“

„Wir haben die Karte.“

„Warum klammerst du dich an diese Karte! Sie ist alt, inzwischen hat sich alles mogliche verandert. Und niemand wei?, wie lange wir uns noch ohne Nahrung durchschlagen mussen, auf nacktem Schnee.“

„Thomas hat gesagt, wir waren schnell vorangekommen und es lage nur noch ein Tag Fu?marsch vor uns.“

„Thomas hat sich geirrt. Er wollte unbedingt hin und hat uns was vorgemacht.“

„Er hat uns nichts vorgemacht, sondern versprochen, da? wir dort etwas zu essen und Sicherheit finden.“

„Ja, weil er selber dran glauben wollte. Weil er krank war und seine Sinne nicht mehr beisammen hatte. Ich aber hab sie noch beisammen, und mein Verstand sagt mir, da? wir nur am Leben bleiben, wenn wir jetzt umkehren.“

„Ich gehe zum Pa?“, sagte Oleg und sah dabei auf den Korper unter der Decke. Er wandte sich mit diesen Worten gleichsam an den Toten, gab ihm das Versprechen, den Weg fortzusetzen. „Ich gehe ebenfalls“, sagte Marjana, „kannst du das wirklich nicht verstehn?“

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