Schneefloh gebissen wurde, einem winzigen, unbedeutenden Wesen, eilte der Betroffene ganz von selbst zu den andern und bat darum, gefesselt zu werden. In diesem Wunsch aber lag etwas Grauenvolles. Man war noch bei Gesundheit, bei klarem Verstand, und begriff schon, wie ein zum Tode Verurteilter, da? man in wenigen Minuten kein Mensch mehr sein, sondern zum bosartigen, unverstandigen Tier wurde. Es gab niemanden in der Siedlung, der so etwas nicht schon mit angesehen hatte. Jeder empfand Scham bei dem Gedanken, da? ihm das Gleiche widerfahren konnte. Und jeder hatte Angst vor diesen Alptraumen und Gesichtern, die einen wahrend solcher Anfalle heimsuchten. Deshalb auch war Oleg, als er diesen charakteristischen Stich spurte, sofort hellwach und weckte die anderen.
„Dick“, sagte er schuldbewu?t, „hast du einen Strick mit?“
„Was ist?“ Dick sprang auf, begann im Finstern den Platz um sich her abzutasten. Die Morgendammerung zog gerade erst herauf. Thomas achzte im Schlaf, erwachte aber nicht.
„Ach, was fur ein Ungluck!“ lamentierte Marjana.
„Dich hat wirklich ein Floh gebissen?!“
„Ja, eben erst.“
Dick gahnte. „Dann hattest du dir Zeit lassen konnen.
Du hast noch mindestens eine Stunde.“
„Es kann schon eher einsetzen“, erwiderte Oleg. „So ein elendes Pech.“
„Das hat uns wirklich noch gefehlt“, stimmte Dick zu.
„Na, dann mal raus mit dir in die Kalte.“
„Ich deck dich nachher zu und bleib bei dir sitzen“, versprach Marjana.
„Verdammt“, sagte Dick und suchte nach dem Seil, „da konnen wir ja wieder nicht rechtzeitig los.“
„Schlie?lich geht es vorbei“, erwiderte Oleg. „Nach so einem Anfall mu? man mindesten zwei Stunden liegenbleiben“, sagte Dick, „das wei? ich von mir.“
Er zurnte Oleg nicht, zurnte mehr dem Schicksal, das ihnen so viele Mi?lichkeiten in den Weg legte.
Die Empfindung von Kalte in der Hufte, wohin der Floh gestochen hatte, verschwand nicht. Oleg spurte den Bi? unaufhorlich und stellte sich vor, wie sein Blut, durchsetzt von einem winzigen Tropfen Gift, pulsierend zum Gehirn stromte, um es sich zu unterwerfen und ihn um den Verstand zu bringen.
Dick uberprufte in aller Ruhe den Strick, Marjana machte Feuer.
Die Dammerung war blau und vollig anders als im Tal, wo es den ganzen Tag uber grau blieb.
„Na dann la? dich mal fesseln“, sagte Dick.
„Aber pa? auf, da? er sich nicht irgendwas bricht“, sagte Marjana. „Armer Oleshka!“
„Ich mach das nicht zum ersten Mal“, erwiderte Dick.
„Diese Flohe sind ein richtiges Elend. Gib dich ganz locker, Oleg, dann wird’s leichter. Und denk an was andres.“
Zunachst band er Oleg die Arme auf den Rucken, danach umwickelte er Brust und Beine. Die Stricke schnurten sich fest ins Fleisch, doch Oleg erduldete es, wu?te er doch, da? einem wahrend des Anfalls wie bei einem Geisteskranken zusatzliche Krafte zustromten und man barenstark wurde. Hatte man jetzt mit ihm Mitleid, wurde es nachher fur alle viel schwerer werden.
Thomas stie? einen Seufzer aus. Er steckte den Kopf mit dem scheckigen, strubbeligen Haar zum Zelt heraus, blinzelte, konnte sich aber nicht besinnen, wo er war. Seine Augen waren blutunterlaufen, das Gesicht rot und gedunsen. Schlie?lich erkannte er Dick, der dabei war, Oleg zu fesseln. Oleg lachelte verlegen — es war ihm peinlich, den anderen Ungelegenheiten zu bereiten, unangenehm auch die Erkenntnis, da? das eigene Ich bald verschwinden wurde. Der Alte hatte erzahlt, da? im Mittelalter epileptische und geistesgestorte Frauen als Hexen bezeichnet und sogar auf Scheiterhaufen verbrannt wurden, wenn sie auf solche Weise vom Teufel besessen waren.
„Flohe“ sagte Thomas, „uberall Flohe … Uberall Ungeziefer …“
„Schlafen Sie noch ein bi?chen“, sagte Oleg, „es dauert eine Weile, bis ich wieder bei mir bin, das wissen Sie ja.
Ruhen Sie sich aus.“
„Es ist kalt“, erwiderte Thomas, „ich darf nicht schlafen, mu? bald auf Wache … Und der Computer macht wieder mal Sperenzchen, wahrscheinlich ist ein Floh hineingeraten …“
„Weshalb nur sind wir losgezogen“, sagte Dick, „wie konnten sie eine solche Truppe in die Berge lassen!“ „Andere gab es nicht“, antwortete Marjana. „Es war niemand weiter da, der hatte gehen konnen. Das wei?t du genausogut wie ich.“
Die Kalte breitete sich allmahlich uber Olegs ganzen Korper aus, doch es war keine gewohnliche Kalte. Sie traktierte vielmehr samtliche Sehnen, als wurde sich eine Vielzahl kleiner Eiszapfen in Brust und Gliedma?en drangeln … Er sah Thomas’ Kopf immer gro?er werden … „Das war’s“, sagte Dick, „so mu?te es reichen.
Schneidet’s auch nicht ein?“
„Und ob’s einschneidet.“ Oleg gab sich Muhe zu lacheln, doch seine Gesichtsmuskeln waren schon im Krampf verzerrt.
„Sag mal“, Dick wandte sich zu Marjana um, „wo ist eigentlich die Ziege?“
„Die Ziege? Heut nacht hab ich sie noch gehort.“
„Wo die Ziege ist, will ich wissen!“ Dicks Stimme war im Zorn auf Jungenart schrill geworden. „Hast du sie nicht festgebunden?“
„Doch“, antwortete Marjana, „sie mu? sich losgerissen haben.“
„Verdammt, ich will wissen, wo die Ziege steckt!“ Der Unmut, der sich in Dick angestaut hatte, brauchte offenbar ein Ventil, und so kam ihm die Ziege als Verkorperung samtlicher Mi?erfolge gerade zupa?. „Sei nicht wutend, Dicki“, bat Marjana und muhte sich damit ab, Oleg in die Decken zu wickeln. „Wahrscheinlich sucht sie blo? was zu essen, sie braucht doch Nahrung.“
„Was soll sie hier schon finden! Weshalb hast du sie nicht angepflockt?“
Dick holte seine Armbrust hinterm Zeltvorhang hervor, steckte sich das Messer in den Gurtel.
„Wo willst du hin?“ fragte Marjana, obwohl sie nur zu genau wu?te, was Dick vorhatte.
Dick musterte aufmerksam den Schnee ringsum, suchte nach den Spuren des Tieres.
„Sie kommt bestimmt zuruck“, sagte Marjana.
„Und ob sie zuruckkommt“, bestatigte Dick, „als Kadaver namlich. Mir reicht’s. Ich hab keine Lust, wegen deiner Albernheiten zu krepieren.“
Dick wurde gro?er und gro?er, bald wurde sein Kopf gegen den Himmel sto?en, doch dann zerschellte er gewi? an den Wolken, die aus Glas und sehr hart waren … Oleg kniff fest die Augen zusammen und offnete sie wieder, bemuht, die Visionen zu vertreiben. Thomas sa? auf der Decke und schwankte hin und her, als singe er lautlos ein Lied.
„Marjaschka, mach etwas Wasser hei? …“ Oleg glaubte, da? seine Stimme laut und fest klang, in Wirklichkeit flusterte er fast tonlos. „Fur Thomas … ihm geht’s nicht gut …“ Marjana begriff. „Aber naturlich, Oleshka, gleich.“
Dabei wandte sie keinen Blick von Dick.
„Hab ich mir’s doch gedacht“, schimpfte Dick, „sie ist zuruck ins Tal. In der Nacht kann sie gut gern zwanzig Kilometer geschafft haben.“
„Bleib hier, Dick“, sagte Thomas plotzlich laut und deutlich artikuliert. „Marjaschka wird die Ziege selber finden. Du totest sie doch blo?.“
„Worauf du dich verlassen kannst“, erwiderte Dick, „und ob du dich darauf verlassen kannst. Ich hab genug von dem Unsinn.“
„Ich gehe selber, ich finde sie“, Marjana hatte Olegs Bitte nach hei?em Wasser vergessen. „Du darfst jetzt nicht weg von hier, Dick. Thomas ist krank, und Oleg braucht gleichfalls Hilfe.“
„Den beiden wird schon nichts zusto?en.“ Dick fuhr sich mit den Fingern zornig durch die schwarze Mahne, schuttelte den Kopf. „Du schaffst es auch allein, Marjana.“
Dann ging er mit leichten, schnellen Schritten, ohne sich nochmals umzudrehen, immer der Tierfahrte nach, hinunter ins Tal, denselben Weg, den sie gestern gekommen waren.
„Mir war’s lieber, du wurdest gehn“, sagte Thomas zu Marjana, „du bringst sie wenigstens zuruck. Dick aber totet sie.“
Oleg, der sein Denkvermogen noch nicht eingebu?t hatte, obwohl die Welt um ihn her standig Form und