gedruckt.
Oleg weckte Dick, und sie verfolgten vorsichtig die Spuren. Die Fahrte endete an einem Steilhang — das unbekannte Wesen konnte demnach Felsen erklimmen.
„Was ist das fur ein Tier?“ fragte Oleg flusternd.
„Keine Ahnung. Aber wenn es sich auf ein Haus legt, wird’s zerquetscht“, sagte Dick. „So ein Vieh zu erlegen, das war was!“
„Da gibt’s wohl wenig Hoffnung, trotz deiner Armbrust“, wandte Oleg ein. „Dein Pfeil durchbohrt ihm nicht mal das Fell.“
„Ich werd mir schon Muhe geben“, sagte Dick. „Gehen wir zuruck?“
„Wei?t du, ich mochte Thomas und Marjaschka wirklich nicht gern hier lassen“, sagte Oleg. „Ich bestehe nicht darauf“, sagte Dick, „obwohl sich’s bei diesem Tier durchaus um einen Pflanzenfresser handeln kann.“
„Selbst wenn’s ein Wandergewachs wie der Wegerich ware“, erwiderte Oleg, „wir durfen kein Risiko eingehn.“
„Wo habt ihr gesteckt?“ erkundigte sich Marjana, die beim Feuermachen war. „Thomas’ Temperatur ist zuruckgegangen, ist das nicht schon?“
„Sehr schon.“
Sie erzahlten von der Fahrte, denn das Madchen hatte sie ohnehin entdeckt. Doch Marjana erschrak kein bi?chen — klar, da? es hier alle moglichen Tiere gab! Wenn man richtig mit ihnen umging, waren sie langst nicht alle bose und gefahrlich. Au?erdem beschaftigte sie sich mit ihren eigenen Angelegenheiten.
„Setzt euch“, sagte Marjana, „wir wollen fruhstucken.“
Thomas kam aus dem Zelt, er war bla? und schwach, in der Hand hielt er die Feldflasche. Er lie? sich neben Oleg nieder, schraubte den Verschlu? ab und nahm einen Schluck.
„Ich mu? mich aufwarmen“, sagte er heiser. „Fruher haben die Arzte den Kranken und Schwachen Rotwein verschrieben.“
Marjana langte nach ihrem Sack — ein Pilz rollte heraus. Sonst aber war er zerbissen und leer.
„Wo sind denn die Pilze hin?“ fragte Marjana Thomas, als mu?te er eine Antwort wissen. „Was denn“, Dick sprang auf, „hast du den Sack uber Nacht nicht ins Zelt genommen?“
„Ich war so mude“, sagte Marjana. „Ich dachte, ich hatte es getan, aber er mu? drau?en geblieben sein.“
„Wo ist das verdammte Ziegenvieh“, zischte Dick, „das wird sie bu?en!“
„Du bist verruckt!“ schrie Marjana. „Vielleicht war sie es gar nicht!“
„Wer sonst! Du vielleicht, Thomas, oder ich?! Was sollen wir jetzt fressen, und wie bis zum Pa? kommen!“
„Wir haben noch das Fleisch“, sagte Marjana.
„Zeig her. Vielleicht ist es ebenfalls verschwunden.“
„Was soll die Ziege mit dem Fleisch?“ erwiderte Marjana.
Doch Dick behielt recht — das Fleisch war gleichfalls weg. Etwa zwanzig kleine Stucke waren noch ubrig, mehr nicht.
„Ich scherze nicht.“ Dick hob seine Armbrust vom Schnee auf.
Die Ziege schien das ihr drohende Unheil zu ahnen und sprang jah hinter den Felsen.
„Du entkommst mir nicht“, sagte Dick.
„Warte“, rief Oleg, „so warte doch. Wenn’s sein mu?, kannst du’s immer noch tun. Marjana will eine Viehwirtschaft aufbaun, verstehst du nicht, wie wichtig das fur die Siedlung ware? Wir hatten auf diese Weise immer Fleisch.“ „Fur die Siedlung ist wichtig, da? wir hier nicht verrecken“, erwiderte Dick. „Wir sind die Hoffnung des Dorfes. Ohne uns erreicht auch die Ziege die Siedlung nicht, weil sie namlich gleichfalls nichts zu fressen hat. Sie wird fortlaufen.“
„Bitte, Dick, tu’s nicht“, flehte Marjana. „Begreif doch, sie bekommt Junge.“
„Dann kehren wir jetzt um“, sagte Dick. „Unser Marsch ist beendet. Es hat keinen Sinn mehr.“
„Moment mal“, schaltete sich Thomas ein, „noch liegt die Entscheidung bei mir. Wenn du es willst, erlaube ich dir umzukehren. Du schaffst es in die Siedlung, daran zweifle ich nicht. Ich aber setze den Weg fort. Und mit mir alle, die es wunschen.“
„Ich marschiere weiter“, sagte Oleg. „Wir konnen nicht noch mal drei Jahre bis zum nachsten Sommer warten.“
„Ich geh auch weiter“, sagte Marjana, „und Dick kommt ebenfalls mit. Er ist nicht so bose, wie ihr glaubt. Er mochte nur, da? es allen gut geht.“
„Du brauchst mich nicht in Schutz zu nehmen“, sagte Dick, „ich bring das Vieh trotzdem um.“
„Fur heute reicht unser Essen noch“, sagte Marjana.
„Es war wirklich nicht schlecht, zusammen mit der Ziege heimzukehren“, lie? sich Thomas vernehmen. „Wir konnten sie sogar beladen. Und uberhaupt kommen wir doppelt so schnell voran wie damals.“ Thomas nahm einen weiteren Schluck Kognak und schwenkte die Feldflasche. Nach dem Klang zu urteilen, war nur noch ganz wenig Feuerwasser darin.
„Ein Tag noch“, sagte Dick, „dann ist es zu spat zum Umkehren. Das betrifft dich, Thomas, in ganz besonderem Ma?e. Du verstehst doch, was ich meine.“
Marjana machte sich am Feuer zu schaffe, sie hatte es eilig, Wasser zum Kochen zu bringen. Sie hatte noch ein paar su?e Wurzeln, zwei Handvoll.
Bereits nach zwei Stunden Fu?marsch kam Oleg zu der Einsicht, da? Dick recht hatte. Sie bewegten sich auf unwegsamem Gelande, auf schneebedecktem Odland, es fuhrte unablassig bergauf, sie mu?ten immer wieder Felsen umgehen, sich durch Felsspalten zwangen, Gletscher uberwinden, die Luft und war scharf und schneidend und machte das Atmen schwer. Oleg war es gewohnt, wenig zu essen, niemals satt zu werden, dennoch hatte er nie hungern mussen — irgendwelche Vorrate hatte es im Dorf stets gegeben. Hier jedoch sturzte der Hunger, ihr standiger Begleiter, mit aller Wucht in dem Augenblick uber ihn her, als klar wurde, da? endlose Tage ohne Nahrung, ohne jeden Bissen vor ihnen lagen. Oleg ertappte sich dabei, da? er begehrliche Blicke auf die Ziege warf, er hoffte, sie wurde in eine Felsspalte sturzen, unverhofft draufgehn, so da? er seine Worte nicht zurucknehmen mu?te. Wir werden eine andere finden, beteuerte er lautlos, ganz bestimmt werden wir eine andere finden.
Und als hatte Thomas seine Gedanken erraten, sagte er: „Ein Gluck, da? unsre Fleischreserven auf eignen Fu?en mitlaufen. Wir hatten jetzt nicht die Kraft, sie zu schleppen.“
„Halt!“
Es war die Stimme Dicks. Er naherte sich, ein kraftiges aus Wasserpflanzen geflochtenes Seil in den Handen, der Ziege und warf es ihr um den Hals. Das Tier lie? es gehorsam und ergeben geschehen. Dann reichte Dick das andere Ende des Stricks Marjana und sagte: „Fuhr du sie.
Ich mochte nicht in Versuchung geraten.“
Oleg hatte machtig zu kampfen. Er schuttelte das Holz aus Thomas’ Sack — er hatte schon am eigenen genug zu schleppen. Seine Schultern schmerzten, und er schnappte nach Luft.
Sie legten eine Tagesrast ein, eine lange, denn alle waren von Kraften, Thomas aber schwankte schon im Laufen, so da? man ihn unwillkurlich stutzen wollte. Sein Gesicht war gerotet, die Augen halb geschlossen, doch er setzte halsstarrig ein Bein vors andere, hin zum Gebirgspa?, zu seinem Pa?, der fur ihn mehr bedeutete als fur die ubrigen.
Etwa zwei Stunden nach der Rast wurde Thomas unruhig. „Wartet mal“, sagte er, „hoffentlich sind wir nicht vom Weg abgekommen. Hier mu?ten Uberreste unsres Lagers sein, ich erinnere mich genau an diesen Felsen.“
Thomas setzte sich auf einen Stein, entfaltete mit zitternden Handen die Karte und fuhr mit dem Finger die Linien entlang. Dick konnte nichts damit anfangen, er ging voraus in der Hoffnung, ein Wild zu schie?en. Oleg hockte sich neben Thomas auf den Boden.
Die Karte war mit Tinte in einer Zeit gefertigt worden, als es noch Tinte in der Siedlung gab — eine zahflussige Paste, mit der die Federhalter gefullt wurden. Oleg hatte diese Fuller gesehen, nur schrieben sie damals schon nicht mehr.
Die Karte stammte aus einer Zeit, als die ersten Hauser im Dorf gebaut wurden und man noch der Meinung war, bei der erstmoglichen Gelegenheit zum Pa? zuruckzukehren. An dieser Karte hatten alle Anteil gehabt.